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Kuba ist in der Übergangsphase zu einem neuen Modell

Heinz Dieterich über den Reformprozess unter Raúl Castro und Perspektiven lateinamerikanischer Integration

Heinz Dieterich studierte in Frankfurt am Main bei Adorno, Horkheimer und Habermas. Er promovierte in Bremen, später ging er im Rahmen eines akademischen Austauschprogramms nach Mexiko, wo er seit 1977 als Professor an der staatlichen Universität Autonóma Metropolitana in Mexiko-Stadt lehrt. Neben seiner akademischen Arbeit engagierte und engagiert sich Dieterich in der Solidaritätsbewegung für Chile, Nicaragua, Kuba und Venezuela. Über den Reformprozess in Kuba und die Perspektiven der lateinamerikanischen Linksregierungen unterhielt sich mit ihm für das Neue Deutschland (ND) Martin Ling.



Bereits im November 2005 hat Fidel Castro eine sehr dramatische Rede gehalten. Damals forderte er, dass der Sozialismus in Kuba auf neue Grundlagen gestellt werden muss. Fidel Castro steht nach seiner Krankheit inzwischen in der zweiten Reihe. Die Resonanz auf seine Rede war anfangs relativ gering. Hat sich daran etwas geändert?

Es gibt eine öffentliche Diskussion über die Entwicklungsmaßnahmen der sozialen Marktwirtschaft in Kuba, ausgelöst durch Vorgaben von Raúl, wie seine Rede vom 26. Juli 2007 anlässlich des 54. Jahrestages des Sturmes auf die Moncada-Kaserne. Daneben finden Debatten in institutionell bestimmten Räumen statt, innerhalb der Gewerkschaft, innerhalb der Partei, jedoch relativ wenig in den öffentlichen Medien. Der Diskurs von Raúl am 26. Juli 2008 war ein Diskurs der Konsolidierung, nicht der Öffnung neuer Perspektiven. Es ging ihm um die Vertiefung der Veränderungen, die er ein Jahr vorher am gleichen Ort eingeleitet hatte. Effizientisierung der Produktion; verstärkte Teilnahme der Bevölkerung, vor allem der Arbeitenden und der Jugend, an allen nationalen Aufgaben; Verteidigung der historischen Errungenschaften der Revolution und Erhöhung der militärischen Verteidigungsfähigkeit des Landes, unabhängig vom Ausgang der Wahlen in den USA.

Die größeren Impulse für diese Diskussion erwarte ich durch die ökonomischen Maßnahmen von Raúl, zum Beispiel die Liberalisierung des Kaufs von Handys, die Erhöhung der Agrarpreise für die Produzenten, die Möglichkeit, Land anzumieten sowohl für staatliche Stellen als auch für Privatleute und die Heraufsetzung des Rentenalters. Das sind die wesentlichen Impulse zur Diskussion, die nicht aus der Theoriegeschichte kommen, sondern vielmehr aus den praktischen Maßnahmen, die Raúl ergreift. Die Implikationen von Fidels Rede werden nicht öffentlich diskutiert, weil sie praktisch die Strukturreform aller entscheidenden Elemente des historischen kubanischen Modells zur Debatte stellen würden.

Lassen sich schon erste Wirkungen von Raúl Castros Politik feststellen?

Vor Kurzem hat mir ein Freund aus Kuba geschrieben, dass die Trägheit und der Status quo durch Raúls Maßnahmen durchbrochen worden wären. Wenn das der Fall ist, dann sind wir in einer Übergangsphase zu einem neuen kubanischen Modell. Die ersten Veränderungen lassen sich auf ökonomischem Gebiet verzeichnen und in der Herausbildung einer neuen politischen Kultur in Kuba.

Wie ist der Reformkurs von Raúl einzuschätzen? Ihm wird ja eine Vorliebe für das chinesische Modell nachgesagt. Zu Recht?

Das Zeitfenster, eine signifikante Verbesserung des materiellen Lebensniveaus der Bevölkerung zu erreichen, ist relativ klein. Raúl ist sich darüber im Klaren, dass nur wenige Jahre zur Verfügung stehen. Das steht im gewissen Widerspruch zu einem Entscheidungssystem, das sich in der Vergangenheit immer recht viel Zeit genommen hat. Was derzeit abläuft, dass in relativ kurzer Zeit relativ viele Entscheidungen getroffen werden, ist ein Novum in der kubanischen Politik. Die Reform läuft auf das hinaus, was Lenin die Neue Ökonomische Politik genannt hat. Ihre theoretischen Wurzeln liegen in der Entwicklungskonzeption von Friedrich List. Die Notwendigkeit der schnellen Verbesserung der Lebensqualität lässt nur den Weg der strategischen Allianz mit China und Venezuela zu. China hilft mit Industriewaren, Hochtechnologie wie Satelliten, Venezuela mit Energie, und zunehmend kommt Brasilien mit ins Spiel, auf dem agrar-industriellen Sektor. Das ist die Grundstruktur des Modells. Es ruft sowohl Kritiken von orthodoxer als auch von sozialdemokratischer Seite hervor.

Was heißt Neue Ökonomische Politik im 21. Jahrhundert?

Das heißt kontrollierte Integration in den Weltmarkt und Entscheidungsräume für privates Kapital öffnen. Das geht einher mit der Bildung einer neuen sozialen Klasse, der technokratischen Managerschicht, die eigene Interessen verfolgt und konsumtiv und technokratisch orientiert sein wird. Die Politik hat die Aufgabe, die Folgen dieser Politik zu kontrollieren. Ob es ihr nach Fidel und Raúl gelingen wird, ist eine andere Frage.

In Kuba entwickelt sich diese Klasse in dem Maße, wie die wirtschaftliche Integration mit China- Venezuela-Brasilien eine langanhaltende Konjunktur garantiert. Private Produktionsverhältnisse (private Betriebe) werden noch sehr kontrolliert, deswegen wird sich die Entwicklung in Kuba von der in China unterscheiden. Die allgemeine ökonomische Logik des List-Modells ist die gleiche in jedem Staat, aber die nationalen und historischen Besonderheiten jedes Landes sind verschieden und spielen eine gewichtige Rolle. Es gibt in China beispielsweise noch keine allgemeine Krankenversicherung für die Bauern. In Kuba hingegen, hat jeder Zugang zum Gesundheitswesen. Kuba mechanisch mit dem chinesischen Modell zu vergleichen, würde zu verfälschenden Vereinfachungen führen. Es ist besser und präziser, von der Einführung des Listschen Modell auf der Insel zu sprechen, also einer staatsdirigierten marktwirtschaftlichen Modernisierung, als von einer Kopierung des »chinesischen Modells«.

Beim Listschen Modell handelt es sich um nachholende Entwicklung, den Aufbau einer Industriestruktur durch Zollschutz vor ausländischer Konkurrenz, Investition in Infrastruktur, sprich kapitalistische Modernisierung ...

Dazu gibt es derzeit keine Alternative. Kuba hat eine relativ wenig entwickelte Ökonomie, die modernisiert werden muss. Es gibt drei strukturelle Engpässe, die Raúl überwinden muss: mangelnde Produktivität, absurde administrative Preise und unsinnige Zentralisierung. Abstrahieren wir von der Äquivalenzökonomie des Sozialismus des 21. Jahrhunderts – die Kuba im Moment nicht einführen will –, bleibt nur das Modell von List, das seinerseits auf Oliver Cromwell zurückgeht. Raúl greift darauf zurück. Es ist das Modell, was Preußen-Deutschland nach den napoleonischen Kriegen angewandt hat: die Modernisierung des Staatsapparates und die staatsdirigierte marktwirtschaftliche Modernisierung der Ökonomie.

Welche strategischen Sektoren bieten sich in Kuba dafür an?

Es gibt einige gewachsene Strukturen: vor allem die Biotechnologie, die Medizin und das Erziehungswesen. Da wird bereits ein hoher internationaler Standard erreicht. Als viertes Standbein gibt es die Universität für Informatikwissenschaften (UCI) in Havanna. Dort studieren 10 000 Studenten, darunter die besten Talente der Insel. Sie entwickeln vor allem Software, zum Teil auch Hardware. Das wären die vier Hightech-Sektoren, die Kuba anzubieten hat. Diese Sektoren könnten innerhalb einer komplementären Arbeitsteilung eines lateinamerikanischen Machtblocks bedeutende Exportnischen besetzen, ebenso wie in Ländern wie Iran. Dazu kommt das Erdöl, das in der Karibik entdeckt wurde und Kuba in zehn Jahren möglicherweise zum Nettoexporteur machen könnte. Das wäre ein weiteres Entwicklungspotenzial, zusammen mit der Produktion von Nickel.

Welche Spielräume hat Kuba denn überhaupt? Die bisherigen Ausführungen laufen auf eine an vorgegebenen Zwängen orientierte ökonomische Anpassung hinaus. Es wird versucht, das materielle Niveau zu verbessern, weil die Bevölkerung mit der Transport-, Wohnungssituation etc. unzufrieden ist.

In Kuba wird jetzt die dritte Anpassung an Veränderungen des weltwirtschaftlichen Umfeldes, innerhalb von 50 Jahren, vorgenommen. Die erste war die völlige Integration in den US-Technologiebereich vor 1959, danach folgte die völlige Integration in den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). Nun läuft die dritte Restrukturierung in 50 Jahren mit den beiden strategischen Standbeinen und Partnern China und Venezuela. Sollte die lateinamerikanische Integration indes fortschreiten, würde Brasilien als das Land mit der ausdifferenziertesten Industriestruktur in zunehmendem Maße die Rolle Chinas übernehmen können.

Wie steht es momentan um die Integration in Lateinamerika? Kommt sie weiter voran?

Die Integration steht auf der Kippe – zumindest eine autonome Integration, sprich eine nicht von den USA kontrollierte Integration Lateinamerikas. Ob sie gelingt, wird sich in diesem und im nächsten Jahr entscheiden. In Bolivien könnte der Spielraum für volksnahe Strukturreformen im Wesentlichen ausgeschöpft sein. Die Regierung von Evo Morales hat versäumt, die Konspiration zwischen Washington und der rechten Elite unter Kontrolle zu halten. In Venezuela hängt viel von den Gouverneurs- und Kommunalwahlen im November ab. Mittelfristig könnte Chávez möglicherweise gezwungen sein, Konzessionen an das Bündnis Washington-Berlin-London-Paris-Rom-Tel Aviv zu machen, das sehr starken Druck auf ihn ausübt. Das erklärt seinen veränderten Diskurs über die Bewaffneten Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC), von denen er sich relativ deutlich distanziert hat.

Wie würde ein Sieg von Barack Obama das Szenario verändern?

Wenn Obama gewinnt, ist er faktisch in einer Ausgangslage wie Jimmy Carter 1976, nach dem verlorenen Vietnam-Krieg. Das, was die US-Amerikaner Softpower nennen, also moralische Autorität und der darauf gründende Anspruch auf weltweite Führerschaft, ist durch die Verletzungen des Völkerrechts durch die Bush-Regierung völlig verloren gegangen. Obama und sein Team sind davon überzeugt, dass die Führungsrolle nur zurückgewonnen werden kann, wenn die regressiven Tendenzen der Bush-Regierung vollständig rückgängig gemacht werden. Zum Beispiel über die Anerkennung des internationalen Rechtes, also keine Verletzung der Genfer Konventionen, die rechtsfreien Räume in Guantanamo und in Abu Ghoreib müssten verschwinden.

Obama müsste im Falle eines Wahlsieges das versuchen, was Carter mit seiner Menschenrechtspolitik nach dem Desaster von Vietnam gelungen ist. Wenn es den USA gelingen sollte, wieder unumstritten als Weltführungsmacht anerkannt zu werden und zwar sowohl von den Europäern (die danach lechzen) als auch vielen lateinamerikanischen Regierungen, dann wächst die reale Macht der USA, ihre ökonomischen Interessen stärker durchzudrücken. Die Frage ist, ob Brasilien sich dem unterwirft oder ob Lula es wagt, ein eigenes Projekt der Konstituierung eines weltpolitischen Subjektes zu gestalten – ein von Brasilien angeführter lateinamerikanischer Machtblock. Es ist nicht auszuschließen, dass die brasilianische Elite sich mit der Rolle des Juniorpartners der USA begnügt. Damit ließen sich Privilegien und die Rolle eines Subhegemons sichern und gleichzeitig die Unterstützung des Großen Bruders. Das wäre weit weniger riskant, als die USA als Hegemon herauszufordern. Gleichwohl denke ich, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Lula für eine unabhängige regionale Großmachtrolle optiert, etwa 65 zu 35 ist. Die Frage möglicher Veränderungen durch Obama könnte jedoch bald unwesentlich werden, da McCain inzwischen eine reale Chance hat, die Wahlen zu gewinnen.

Was bedeutet das für das bolivarianische Projekt in Venezuela?

Chávez dürfte nichts anderes übrig bleiben, als diese Realität zu akzeptieren, wahrscheinlich in Allianz mit Argentinien. Ohne die Power von Brasilien hat Venezuela nicht die Kraft, sich den USA entgegenzustellen. Das ist die aktuelle Machtsituation. Dass Obama einen seinen engsten Vertrauten, Bill Richardson, jüngst zu Hugo Chávez geschickt hat, um über Wege zur Befreiung der FARC-Geiseln zu beraten, ist kein Zufall. Beide sind in einer ähnlichen Situation. Sie müssen Wahlen gewinnen gegenüber der Rechten und sie müssen internationale Situationen entschärfen. Das erklärt meines Erachtens den veränderten Diskurs von Chávez, das Verhandlungsangebot an Obama und im Grunde den Vorschlag, Franklin D. Roosevelts Politik der Guten Nachbarschaft aus den 30er Jahren wieder neu zu beleben. Das macht für beide Sinn. Beide versuchen sich im Ausland gegen den inneren Druck zu stärken – Obama gegen den militärisch-industriellen Komplex, Chávez gegen die Oligarchie. Ich gehe davon aus, dass Richardson eine Allianz mit Chávez zu konstruieren versucht.

Würde die Perspektive Obama und eine neue Version der Politik der »Guten Nachbarschaft« für Lateinamerika Spielräume eröffnen?

Es gibt einige lateinamerikanische Regierungen wie Chile, Peru, die darauf warten, dass die USA wieder eine unbestrittene Führungsrolle in Lateinamerika übernehmen. Brasilien hätte ein Problem damit, weil Brasilien die Rolle der USA in Lateinamerika übernehmen könnte. Da gibt es eine Konkurrenz.

Argentinien wird sich in dem Maße, wie die Kirchner-Regierung sich schwächt, auch dazu tendieren, sich an den großen Bruder anzulehnen. Chávez hätte wie beschrieben ein Eigeninteresse an einer Annäherung an die USA unter Obama. Die Situation wird dann schwierig für Kuba, weil Fidel Castro als Axiom kubanischer Politik immer darauf gedrängt hat, sich auf eigene Kräfte zu verlassen – ähnlich wie Israel. Die Israelis sagen, das Einzige, was uns schützt, sind das Militär und die Atomwaffen. Sie können auch niemandem vertrauen. Fidel hat die gleiche Doktrin. Das Axiom ist durch die venezolanische Energieversorgung aufgelockert worden. Dazu gab es keine Alternative, denn sonst wäre die Ökonomie kollabiert.

Die relative Schwächung von Chávez durch das verlorene Referendum und von Evo Morales durch den andauernden Kampf mit der Oligarchie könnte die kubanische Führung zu der Einschätzung zurückbringen, wenn es hart auf hart kommt, sich wieder nur auf sich selbst verlassen zu können. Deshalb wird Kuba darauf bedacht sein, selbst die Abhängigkeit von befreundeten Staaten wie China, Venezuela zu begrenzen. Die relative Schwächung der progressiven Linken auf dem lateinamerikanischen Festland dürfte auch zu einer Stärkung der rechten Kräfte in Kuba führen.

Sehen Sie den kürzlichen Zusammenschluss der drei kubanischen Oppositionsgruppen aus der Dissidentenkoalition »Arco Progresista« (Progressiver Bogen) zu einer sozialdemokratischen Partei in diesem Zusammenhang? Wird damit die Reformbereitschaft von Raúl Castro auf die Probe gestellt?

Die Koalition »Arco Progresista« folgt dem Modell der Orangen-Revolution in der Ukraine, 2004, in der die US-Regierung und private Finanziers wie George Soros einen dem atlantischen Machtblock (USA und EU) nahen Präsidenten an die Regierung brachten. Er ist anti-Chávez, also antibolivarianisch und gegen den kubanischen Staat. Es handelt sich um ein Trojanisches Pferd auf das die kubanische Regierung angemessen reagieren sollte.

* Aus: Neues Deutschland, 24. August 2008


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