Teufel, Tito, Tvornica
Wie das heutige Kroatien versucht, sich eine Geschichte zu geben
Von Michael Müller, Zagreb *
Der Adria-Grenzstreit mit Slowenien, der den EU-Beitritt Kroatiens bisher blockierte, scheint geklärt
zu sein. Nun verlangt der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag von Kroatien noch die
Garantie, auch auf dessen Dokumente aus dem Krieg 1991 bis 1995 zugreifen zu können. Doch
Zagreb gibt sich, was jüngere, aber auch ältere Geschichte angeht, mal blau-, mal einäugig und mal
blind.
Der silberschwere Sarkophag steht direkt im Chor der Zagreber Kathedrale, ist stets mit Blumen
überhäuft und von dicht an dicht kniend Betenden umgeben. Das wächserne grabkünstlerische
Antlitz des 1960 verblichenen Kardinals Alojzije Stepinac strahlt Ehrfurcht erweckende Güte aus.
Johannes Paul II. hatte ihn 1998 selig gesprochen. Ein Märtyrer des Glaubens sei er gewesen,
sagte der Papst. Nicht zuletzt in seiner Leidens-Haft nach 1945 in Jugoslawien. Warum er zu 16
Jahren verurteilt worden war (nach sechs Jahren wurde er in Hausarrest entlassen), spielte in der
Rede keine Rolle.
Mit Gott und den Ustascha-Faschisten
Und es spielt auch heute in Kroatien kaum eine Rolle. Offiziell genießt die zu 90 Prozent katholische
Bevölkerung eher die Tatsache, einen Seligen in ihrer Mitte liegen zu haben. Doch im weiteren
Umfeld dieses Seligen liegen auch unzählige Leichen. Nach der Devise, dass nichts wichtiger sei als
der Sieg über die Gottlosigkeit, sprich über Kommunistisches, Serbisch-Orthodoxes, Jüdisches,
Zigeunerisches, hatte der damalige Erzbischof Stepinac von 1941 bis 1945 mit den Ustascha-
Faschisten und ihrem Führer Ante Pavelic kollaboriert. Katholisch war staatsoffiziell mit »kroatischer
Rasse« gleichgesetzt. Serben galten als »Servi« (lat. Servus – Knecht, Diener). »Nein, nein, der
Selige hatte immer ein Herz für die Schwachen, hat Nahrung an Flüchtlinge verteilen lassen und
Tausende Kinder gerettet«, ist dagegen die hochbetagte Anda Milankovic sicher, die am 21. jedes
Monats (am 21. November ist Alojzije-Namenstag) an dem Sarkophag betet.
Von der Zagreber Kathedrale knapp 100 Kilometer in südöstliche Richtung fahrend, erreicht man auf
der Autobahn die Abfahrt nach Jasenovac. Eine fürs Auge sanfte, auenähnliche Gegend, wo die
Save mit Una und Strug zusammenfließt. Doch genau hier arbeitete einst das größte
Vernichtungslager im von den Nazis besetzten Südosteuropa. Betrieben wurde es von Ustascha-
Faschisten.
In der historischen Literatur ist vom »kroatischen Auschwitz« mit bis zu 700 000 Opfern die Rede.
Getötet wurde nicht in Gaskammern, sondern per Hand, mit Gewehren, Bajonetten, Äxten,
Hämmern, Brechstangen. Der erste Kommandant hieß Miroslav Filipovic-Maistorovic, ein
Franziskanermönch mit dem Beinamen »Der Teufel«. Dieser teuflische Pater wurde 1946 in Zagreb
gehängt. Die 1966 errichtete Opfergedenkstätte von Jasenovac jedoch wurde in den 90er Jahren,
während des »Heimatkrieges«, wie ihn die Kroaten nennen, von Kroaten zerstört.
Die 2006 neu eröffnete Gedenkstätte klammert bei der Frage nach den Tätern die katholische Kirche
aus. Derzeit kommen, wie von Gedenkstättenmitarbeiter Marka Delica zu hören ist, jährlich um die
10 000 Besucher. Im sozialistischen Jugoslawien seien es übers Jahr rund 600 000 gewesen. Doch
vor einigen Wochen war erstmals seit 1945 sogar ein Nachfolger des seligen Stepinac da. Kardinal
Josip Bozanic, Primas aller kroatischen Katholiken, betonte aber laut Tageszeitung »Vjesnik«, dass
er nicht etwa gekommen sei, »um sich zu entschuldigen oder zu rechtfertigen«. Vielmehr wurde er
mit den Worten zitiert: »Während wir mit christlicher Frömmigkeit für die Opfer des Ustascha-
Regimes beten, erheben wir unseren Hilferuf auch für die Opfer des kommunistischen Regimes und
verlangen, dass die Wahrheit über seine Verbrechen aufgezeigt werden.«
Eben in diesem Sinne druckt »Glasnik Postulature«, die offizielle Monatsschrift des Zagreber
Bistums, seit längerem in jeder Ausgabe eine Fortsetzungsfolge »Opfer der kommunistischen
Gewaltherrschaft«. Dabei geht es immer um die zügellose tödliche Rache, die kroatische Tito-
Partisanen 1945 nach Kriegsende zehntausendfach an echten und vermeintlichen Ustascha-
Faschisten nahmen. Nie aber um deren Vorgeschichte.
Besonders seit dem Krieg 1991-1995 erlangte die katholische Kirche, die den Aufschwung des
neuen kroatischen Nationalismus mitträgt, eine feste ideologische Basis in Staat und Armee. Das
Kreuz wird nicht selten als Dreieinigkeit von Glaubenszeichen, Nationalsymbol und Fanal westlicher
Kultur missbraucht. Als sich beispielsweise der kroatische Präsident Stjepan Mesic kürzlich gegen
Kreuze in Schulen aussprach, schossen die Würdenträger scharf zurück. Einen von ihnen zitierte die
Tageszeitung »Jutarnji List« mit der Vermutung, Mesic sei »nicht ganz bei sich«. Und ein
»Hochverräter« sei er auch, weil er mit dem Jugoslawien-Tribunal in Den Haag zusammenarbeite.
Wohingegen für die katholischen Hirten und viele ihrer Schafe der dort wegen Kriegsverbrechen
angeklagte einstige Fremdenlegionär und spätere kroatische General Ante Gotovina als
Nationalheld gilt, dessen Fotos überall bekennend wie provozierend Häuserwände zieren.
Durchaus belebter als an der fast besucherleeren KZ-Gedenkstätte Jasenovac geht es 35 Kilometer
nördlich von Zagreb im Dorf Kumrovec zu, dem Geburtsort Marschall Josip Broz Titos. Der
legendäre jugoslawische Führer stehe »bei Umfragen nach der populärsten Person aller Zeiten trotz
aller Gegenwinde in Kroatien immer noch auf Platz eins«, erzählt Stipan Baran, der hier um den
hübsch instand gehaltenen Bauernhof herum gärtnert. Viele Touristenbusse halten. Das Gästebuch
ist mit Sympathiekundgebungen besonders in südosteuropäischen Sprachen angefüllt. Eine in
Kroatisch lautet: »Mein Wunsch ist es, dass dieses Haus im Geiste Jugoslawiens erhalten bleibt.«
Im heutigen offiziellen Kroatien wird genau das Gegenteil gewünscht. Doch die Jugend löckt auch
hier wider den Stachel. Nahe dem Tito-Denkmalsgehöft kann sich die Diskothek »Club Marshall«
über Besuchermangel nicht beklagen.
Franjo Tudjman, von 1991 bis 1999 Kroatiens vom Erzkommunisten zum Ultranationalisten
gewendeter Präsident, plädierte für die Revision aller jüngeren Geschichte und für die Besinnung auf
die älteren und ältesten nationalen Zeugnisse. Kein einfaches Unterfangen. Denn vom einzigen
kroatischen Königreich (924 - 1102) gibt es kaum Dokumente, geschweige denn Bauten. Und
danach herrschten über 800 Jahre lang bis 1919 Ungarn, Osmanen, Venezianer, Habsburger ... In
nationalromantischer Manier ging man deshalb beispielsweise daran, die spärlichen Reste der
mittelalterlichen ungarischen Rückzugsfestung Medvedgrad in der Medvednica (wieder) aufzubauen.
Ein bisschen Geschichte wie aus der Disneywelt.
»Das soll Kroatien als ein antiosmanisches Bollwerk symbolisieren, obwohl die Türken einen ganz
anderen Weg nach Wien gegangen waren«, meint der Zagreber Professor Vjenceslav Vlahov sehr
distanziert. Und er fügt zufrieden hinzu, dass es Präsident Tudjman nicht mehr gelang, das alles
auch noch mit dem Altar der Heimat, einer Art Ehrenhain nebst ständiger Ehrenwache für die
kroatischen Gefallenen von 1991-1995, zu umrahmen. Eine solche Klitterung ging Tudjmans
Nachfolger Stjepan Mesic (ab 2000) denn wohl doch zu weit.
Heimat, Herkunft und Verständigung
Natürlich müssen auch Prominente aus der Geschichte für die Stiftung einer nationalen Identität
herhalten. Etwa Nikola Tesla. Dem genialen Physiker, der in den USA die Wechselstromtechnik
erfand, ist bei seinem Geburtshaus im Dorf Smiljan am Velebitgebirges eine imposante, 2006
eröffnete Gedenkstätte gewidmet. Doch auch bei der kundigen Führerin Nicolina Asic erfährt man
nur auf Nachfrage, dass Tesla Serbe war, sein Vater gar serbisch-orthodoxer Priester. Wenn der
berühmte Sohn, wie Frau Asic erzählt, immer betont habe, er sei Serbe, aber seine Heimat sei
Kroatien, so klingt das sehr sympathisch – doch selbst dieses Bekenntnis klammert die Ausstellung
sorgsam aus.
Höchst patriotisch bemüht sich das neue Kroatien übrigens auch schon jahrelang in der
Alltagssprache. Das einstige Serbokroatisch wird offiziell als »Relikt aufgezwungener sprachlicher
Vereinigungsbestrebungen zu jugoslawischen Zeiten« bezeichnet. So hat es das Institut für
Kroatische Sprache und Linguistik in Zagreb bestimmt.
Das heute gängige Kroatisch unterscheidet sich vom Serbischen deshalb nicht nur im Akzent,
sondern zunehmend auch durch eigene Wörter. Da steht heute über der Apotheke statt Aptjeka
Ljekarna. Ein Betrieb ist keine fabrika mehr, sondern eine tvornica, ein Teelöffel keine kasicica,
sondern eine zlicica, tausend heißt nicht mehr hiljada, sondern tisuca.
Das sind alles keine neuen Wörter, sondern Archaismen, wiederbelebt weniger durch Volkes Zunge
als durch Behördenpraxis und eilfertige Medien. Trotzdem gilt unter den Balkanslawen – von
Bulgaren bis zu Slowenen, von Kroaten bis zu Mazedoniern – nach wie vor, dass sie sich immer und
in fast allem verstehen. Nur eines vorausgesetzt: Sie müssen es auch wollen.
* Aus: Neues Deutschland, 11. November 2009
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