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Stolpersteine auf der Zielgeraden

Zagreb soll 2013 in die EU, wenn die Mitgliedstaaten und Kroaten zustimmen

Von Michael Müller, Zagreb *

Kroatien kann in zwei Jahren Mitglied der Europäischen Union werden. Die EU schloss jetzt nach sechsjährigen Verhandlungen die letzten Kapitel der Beitrittsverhandlungen mit der ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik offiziell ab. Allerdings soll Kroatien bis zum Beitritt unter Überwachung der EU stehen, um sicherzustellen, dass es die Kriterien wirklich erfüllt. Der Beitrittsvertrag soll Ende des Jahres unterzeichnet und danach von allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden

Die kroatischen Medien reagierten geradezu emphatisch. »Europa, hier sind wir!«, jubelte »Vecernji list« auf der Titelseite, und »Jutarnji list« schmeichelte seiner Leserschaft mit der balkenfetten Anrede »Guten Morgen, ihr Bürger Europas!«. Tags zuvor hatte EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso die EU-Mitgliedschaft Kroatiens für Mitte 2013 in Aussicht gestellt. Das wäre dann nach Slowenien die Nummer zwei aus dem Kreis der jugoslawischen Nachfolgestaaten.

Ein zweijähriger Hürdenlauf

Dem ersten überschwänglichen Frohlocken zwischen Drava und Adria folgte schnell öffentliches Nachdenken über die »beiden noch ausstehenden großen Hürden auf dem Weg nach Europa« (TV-Station »HRT 2«): Die bislang 27 Mitgliedsländer müssen der EU-Aufnahme jeweils national zustimmen und die Kroaten selbst darüber auch erst noch per Referendum entscheiden. Hinter das Eine wie das Andere setzen Beobachter derzeit ein Fragezeichen.

»Vor uns steht noch ein zweijähriger Hürdenlauf«, gibt Aleksa Bulajic, die im ostkroatischen Osijek Zeitgeschichte lehrt, den Tenor wieder. »Die EU-Kommission hat dafür jetzt, da sie Kroatien nach langer Prüfung für fit hält, den Startschuss gegeben. Mit vielen guten Worten. Allerdings ohne jede Garantie, dass wir nicht doch noch ins Stolpern kommen.« Wie knapp es innerhalb der EU versus Kroatien zugehen kann, hatte 2008 das Veto der slawischen Schwestern und Brüder in Slowenien gezeigt, das den für 2010 geplanten EU-Beitritt Kroatiens stoppte. Den vergleichsweise nichtigen Anlass bot ein lange schwelender Seegrenzstreit in der nördlichen Adria um den Verlauf der Dragonja-Mündung. Slowenien stimmte damals zwar unter massivem Druck der USA noch einer NATO-Mitgliedschaft des Nachbarlandes zu, zeigte sich aber in Bezug auf die EU aus innerpolitischen Gründen bockbeinig. Denn dieser profane Grenzverlauf ging an die ethnische Glaubensgrenze der slowenischen Seelen. Eine Volksabstimmung, bei der die Regierung um Zustimmung gebeten hatte, das Seegrenzproblem einer internationalen Kommission anzuvertrauen, fand später lediglich eine Mehrheit von 52 Prozent. Und auf diesem schmalen Grat ruht der jetzige Kompromiss.

Die Botschaft des Papstes

Zu solch völkerrechtlicher Weihe der EU-Weichen kam aber jüngst eine möglicherweise viel weiter reichende und gewichtigere – eine geistliche. Anfang Juni, nur wenige Tage vor dem EU-Beitrittssignal aus Brüssel, bezeichnete Papst Benedikt XVI. bei seinem Besuch in Kroatien die Mitgliedschaft des zu mehr als 90 Prozent katholischen und dazu sehr papstreuen Kroatiens als »logisch, richtig und notwendig«. Gleichzeitig goss er Wasser auf die nationalistischen Mühlen, sich für etwas Besseres zu halten als der ganze christlich-orthodoxe wie muslimische südosteuropäische Rest. »Von Anfang an gehörte Ihre Nation zu Europa«, schmeichelte der Ratzinger-Papst. Und in einem Interview mit dem Massenblatt »Vecernji list« befeuerte er die im Land ohnehin weithin vorherrschende elitäre Selbstsicht: »Wir sind nicht der Balkan, wir sind Europa!« Das mag mitunter noch hochnäsigere Westeuropäer, für die der Balkan in Abstufungen entweder schon in Wien, spätestens aber doch in Budapest anfängt, bestenfalls amüsieren. Viele Kroaten indes fühlen sich durch diese päpstliche Floskel höchst gebauchpinselt.

»Ich nicht«, sagt Milan Martinec, der im nordwestkroatischen Karlovac einen Copyshop betreibt. »Wir sind doch alles Südslawen, die in dieser Gegend der Balkanhalbinsel leben. Und die war schon immer Europa – ob mit EU oder ohne, ob mit oder ohne Papst.« Die Zagreber Juristin Maria Pericic sieht das anders. Benedikts Worte seien »Ansporn zur tieferen Beschäftigung mit dem Glauben«, zumal der auch »eine politische Bedeutung« habe.

Und genau das dürfte kroatischer Mainstream sein. Immerhin hatten dem Papst auf dem Gelände der Zagreber Rennbahn 300 000 Menschen begeistert zugejubelt. Dass sich 1994 an gleicher Stelle um seinen Vorgänger sogar noch eine Million Kroaten (bei insgesamt nur 4,4 Millionen Einwohnern!) versammelt hatten, relativiert die jetzige Manifestation kaum. Denn damals herrschten andere nationale Umstände: Es tobte noch der Kroatien-Krieg, der in Kroatien nicht Bürger-, sondern Vaterländischer Krieg genannt wird.

Obwohl die politische Klasse Kroatiens bereits mit der Unabhängigkeitserklärung von Jugoslawien, also seit 1991, stramm auf die EU zusteuert, wirft gerade der dann folgende Sezessionskrieg derzeit einen dunklen Schatten auf die EU-Freudigkeit der Bevölkerung. Das hängt mit dem kroatischen Ex-General Ante Gotovina zusammen, der kürzlich in Den Haag wegen Kriegsverbrechen zu 27 Jahre Haft verurteilt wurde. Der Mann, dem Massenerschießungen kroatischer Serben sowie die terroristische Vertreibung Zehntausender nachgewiesen worden sind, wurde und wird in Kroatien nämlich als Nationalheld verehrt.

Vor der Urteilsverkündung am 15. April war die öffentliche Stimmung und Meinung in Kroatien von Politik und Medien quasi auf Freispruch gepolt worden. Die Fernseh-Liveübertragung aus dem Gerichtssaal hatte eine Einschaltquote von bis zu 90 Prozent. Mit Landesfahnen und den Fotos ihres Idols verfolgten Abertausende die Sendung auf den Marktplätzen des Landes vor Großleinwänden. Auch in Zadar, an der dalmatischen Küste, wo der Ex-General, der aus dieser Gegend stammt, seit 2001 Ehrenbürger ist. »Ich habe das erste Mal seit dem Krieg wieder geweint«, sagte dort der Veteran Ivica Kapitanovic im Staatsfernsehen »HRT 1« nach dem Urteil. »Die Politiker, die den General ans Messer geliefert haben, müssen zur Rechenschaft gezogen werden.« An den Häuserwänden von Zadar war die gehässige Gleichung »Zagreb = Beograd« aufgesprüht.

Das Gotovina-Urteil, das selbst die konservative Premierministerin Jadranka Kosor (wohl vor allem angesichts der Volksstimmung) öffentlich für »unannehmbar« hält, wurde landesweit als Tiefschlag ins Bemühen Kroatiens um Anschluss an die EU gewertet. Zu der Losung »Den Haag bestraft eine ganze Nation« gesellte und gesellt sich bei den bis heute anhaltenden Protestbekundungen immer häufiger auch diese: »Ich liebe Kroatien, nicht die EU!« Würde jetzt in Kroatien das noch anstehende EU-Beitrittsreferendum stattfinden, würde es jedenfalls, so einige Meinungsumfragen, mit großer Wahrscheinlichkeit durchfallen.

Natürlich kann Zeit, vor allem aber kann (EU-)Geld Wunden heilen – und auch Helden vergessen lassen. Doch bei Kroatien sollte man sich in dieser Hinsicht dennoch nicht sicher sein. Man denke nur an die Verehrung, die dort nach wie vor dem Kardinal Alojzije Stepinac (1898-1960) entgegen gebracht wird. Obwohl er als Erzbischof zur Zeit des ustascha-faschistischen Regimes eines Ante Pavelic über Verfolgte, nämlich Kommunisten, Orthodoxe, Juden, Sinti und Roma, nur dann seine Hand hielt, wenn sie sich zwangs(um)taufen ließen. Zu den Massakern an den anderen habe er geschwiegen, heißt es. Hunderttausende sind in den kroatischen KZ abgeschlachtet worden; dessen schlimmstes, das von Jasenovac, ist von einem ehemaligen Franziskanermönch geleitet worden.

Der Fall des Alojzije Stepinac

Papst Benedikt XVI. nannte besagten Kardinal Stepinac übrigens während seines jüngsten Kroatienbesuches einen Verteidiger »des wahren Humanismus«, der sich »gegen den Zeitgeist gestellt« habe. Selig ist er bereits gesprochen, ein Heiligsprechungsverfahren läuft. Demgegenüber existiert der Befreiungskampf der Tito-Partisanen in der aktuellen kroatischen Geschichtsschreibung vor allem als eine Folge bolschewistischer, von Moskau gesteuerter Gräueltaten an der Zivilbevölkerung. Wobei Kroatiens Präsident Ivo Josipovic gerade anmahnte, dass Kroatien endlich anfangen sollte, seine Geschichte »leidenschaftslos zu betrachten«. Der bislang praktizierte »virtuelle Antifaschismus« (also ein wohl nicht realer – d.A.) habe »die Partisanen und ihre Symbole ignoriert«. Bleibt nur zu hoffen, dass der Papst auch das absegnet. Nur dann hätte es in Kroatien eine Chance, Realität zu werden.

Doch all das spielt natürlich kaum eine Rolle beim nunmehrigen Beschluss der EU, Kroatien, wenn es weiterhin fleißig für Rechtsstaatlichkeit und gegen Korruption im Land agiere, 2013 in die Gemeinschaft aufzunehmen. Brüssel macht Tempo auf dem, wie man es nennt, Westbalkan, also vor allem im ehemaligen Jugoslawien. Dabei geht es vordergründig um Kroatien, später vielleicht auch um Bosnien-Herzegovina. Hintergründig geht es, worauf in politischen Gesprächen in Zagreb gern hingewiesen wird, um Serbien, Montenegro und Mazedonien. Wenn sich Brüssel dort nämlich nicht beeilt, wird Moskau zum großen Retter und Partner. Auf dem Immobilien- und Kreditmarkt ist da bereits viel Bewegung. Und mit der geplanten Erdgasleitung »Jushni Potok« (Souths Stream) käme noch mehr in Fluss.

* Aus: Neues Deutschland, 8. Juli 2011


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