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Kroatien fürchtet den Ausverkauf

Bevölkerung skeptisch über EU-Beitritt / Brüssel bescheinigt nur langsame Fortschritte

Von Veronika Wengert, Zagreb *

Zu viel Bürokratie, Korruption und ein steifes Justizkorsett – das sind nur drei Aspekte, die die Europäische Union an ihrem Beitrittskandidaten Kroatien kritisiert. Das Land mache zwar »erhebliche Fortschritte«, lobte das Europäische Parlament am Mittwoch in Straßburg, dennoch gebe es noch einiges zu tun im Hinblick auf den Reformprozess.

Ljubica Bogdanovic hat Angst. Sollte Kroatien der Europäischen Union beitreten, könnte alles noch viel teurer werden. Schon jetzt müsse sie von 150 Euro Monatsrente den Großteil für die Mietnebenkosten ihrer Wohnung abzweigen. Überleben könne sie nur durch Betteln – und das nach 30 Jahren Fabrikarbeit. Den Sozialismus bezeichnet die Rentnerin aus Zagreb als »goldenes Zeitalter«, die politische Wende und der Bürgerkrieg seien für ihr Land allerdings »eine schreckliche Katastrophe« gewesen. Und jetzt noch die EU? Das bringe sicher nichts Gutes, vor allem nicht für die Armen.

Mit ihrer Einstellung spricht Ljubica Bogdanovic den meisten der 4,4 Millionen Einwohner Kroatiens aus der Seele. Gerade mal vier von zehn Bürgern befürworten den EU-Beitritt ihres Landes, wie verschiedene Meinungsumfragen ergeben haben. Doch auch die EU ist weiterhin skeptisch, was einen raschen Beitritt Kroatiens betrifft. Dies zeigt der jüngste Fortschrittsbericht des österreichischen sozialdemokratischen EU-Abgeordneten Hannes Swoboda, der am Mittwoch vom Europäischen Parlament in Straßburg verabschiedet wurde: Kroatien erfülle zwar die politischen Beitrittskriterien und könne als funktionierende Marktwirtschaft bezeichnet werden, allerdings müsse man in Zagreb das Reformprogramm konsequent durchsetzen und die beträchtlichen Schwachstellen beheben. Nur so könne man mit den Marktkräften innerhalb der EU mittelfristig konkurrieren, schrieb Swoboda in seinem Bericht. Reformen seien im Justizbereich, aber auch bei Polizei und Verwaltung dringend nötig. Gerichtsverhandlungen ziehen sich oft jahrelang dahin, Richter seien oftmals nicht unparteilich und Bestechungen bei Justiz und Polizei aufgrund niedriger Gehälter immer noch keine Ausnahme. Ein Dorn im Auge ist den EU-Politikern auch die schleppende Privatisierung: An fast 70 Unternehmen hält der kroatische Staat noch die Mehrheit. Der übermächtige staatliche Einfluss mache sich vor allem im Stahlbau- und Schiffsindustriesektor bemerkbar: Ausländische Investoren blieben hier meist ausgeschlossen. Der hoch subventionierte Schiffbau, so Wirtschaftsexperten, dürfte vermutlich noch einige Jahre fest in staatlicher Hand bleiben – was von der EU ebenfalls nicht gern gesehen wird.

Positiv bewerten die Europaparlamentarier die Entwicklungen im Hinblick auf den Schutz von Minderheiten, auf Vertriebene und Rückkehrer. Eine objektive Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit der Region und eine echte Aussöhnung der Volksgruppen stehe unterdessen noch aus, heißt es in dem Report. Auch habe sich die uneingeschränkte Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das frühere Jugoslawien verbessert. Allerdings bestehe auf lokaler Ebene eine »feindselige Haltung«, die eine wirksame Verfolgung von Kriegsverbrechern und einen ausreichenden Schutz der Zeugen vor Einschüchterung verhindere. Auch im Umweltbereich herrscht nach Ansicht der Parlamentarier Nachholbedarf: Kroatien müsse europäische Umweltstrategien durchsetzen und das Kyoto-Protokoll ratifizieren.

Indes gilt ausgerechnet das kroatische Verhältnis zu Slowenien, dem Vorreiter in Sachen EU-Beitritt, als angespannt – vor allem im Hinblick auf die Grenzstreitigkeiten in der Adria. Nun hat die EU allerdings ein Machtwort gesprochen: Das Problem müsse »ein und für alle Male« beseitigt werden, im Notfall mit Hilfe Dritter. Wenn Slowenien im ersten Halbjahr 2008 die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, wolle man diesen »Schatten« nicht mehr sehen, interpretiert das kroatische Onlineportal »index.hr« die Einmischung der EU.

Die meisten Kroaten, acht von zehn Befragten, fürchten mit dem EU-Beitritt den Ausverkauf der Häuser und Grundstücke, vor allem an der attraktiven Adriaküste. Zu den weiteren Sorgen, die »Brüssel« bei den Kroaten hervorruft, gehört neben steigenden Preisen und Ängsten, stärker in das Blickfeld von Terroristen zu geraten, auch die Befürchtung, in Zukunft auf den selbst gebrannten Pflaumenschnaps und auf handgepresstes Olivenöl aus Dalmatien verzichten zu müssen – aufgrund der strengen EU-Normen für solche Erzeugnisse. Dies ergab eine Umfrage des kroatischen Meinungsforschungsinstituts »Puls«. Vor allem Landwirte stehen der EU sehr skeptisch gegenüber. Das räumt auch Außenministerin Kolinda Grabar-Kitarovic vor kurzem gegenüber Journalisten ein: Es seien große Herausforderungen, die auf die Landwirtschaft bei einem EU-Beitritt zukommen, sagte die Politikerin.

Dass Kroatien bereits 2009 der EU beitreten könnte, pünktlich zu den EU-Wahlen, bezweifelt kaum jemand. Zumindest nicht unter führenden Politikern in Zagreb. Der neue Fortschrittsbericht gilt als erstes Dokument, das diese Jahreszahl konkret erwähnt. Daher wurde das Dokument von kroatischen Medien als »schicksalsweisend« bezeichnet. In Straßburg hält man sich mit voreiligen Versprechungen allerdings zurück: Wann eine Entscheidung falle, sei noch unklar. Erst einmal müssten alle Verhandlungskapitel abgeschlossen werden, so der Pressesprecher des Europäischen Parlaments, Andreas Kleiner. Politische Beobachter sind jedoch der Ansicht, dass die EU nicht noch einmal den gleichen »Fehler« wie bei Bulgarien und Rumänien begehen möchte: Ein fester Termin könnte den erklärten Reformwillen Kroatiens drosseln, das sich auf seinen bisherigen Lorbeeren ausruhen könnte.

Das Stichwort: EU-Beitrittskriterien

1993 hat der Europäische Rat in Kopenhagen drei wesentliche Kriterien für den Beitritt zur EU festgelegt:
  • Das politische Kriterium: institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung;
  • das wirtschaftliche Kriterium: funktionierende Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerb in der EU standzuhalten;
  • das Acquis-Kriterium: Die Fähigkeit, die aus der Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen zu übernehmen.
(ND)


Aus: Neues Deutschland, 27. April 2007


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