Armut hinter glänzenden Fassaden
EU-Kandidat Kroatien: Vor allem Ältere kämpfen um das Überleben
Von Hannes Hofbauer, Zagreb *
Von einem einheitlichen Staat Kroatien kann kaum noch gesprochen werden. Nicht nur die Kluft
zwischen entwickelten und zurückbleibenden Regionen wird größer, auch das Gefälle zwischen
Wohlhabenden und Armen. Für viele Ältere reicht bei steigenden Preisen das Einkommen kaum
noch aus. Die Gründe für diese Entwicklung liegen nicht nur in den Folgen des Krieges, sondern
auch in dem monetaristischen Kurs der Regierungen und politischem Kalkül.
Ein warmer Spätsommertag in der Zagreber Innenstadt. Am zentralen Jelacic-Platz, wo
üblicherweise um diese Zeit ein Kommen und Gehen herrscht und die Mehrheit der Menschen in
Straßenbahnen ein- oder aus ihnen aussteigt, haben sich hunderte alte Männer und Frauen vor
einem der noblen Kaffeehäuser hinter dem gusseisernen Ban Jelacic versammelt. Als ob es etwas
gratis gäbe. Und tatsächlich, es gibt etwas gratis. »Frühstück für Arme« könnte man die
Werbemaßnahme des Etablissements umschreiben, dem überraschend viele Hungrige gefolgt sind.
Es sind Momente wie diese, an denen sichtbar wird, was sonst in der kroatischen Hauptstadt
versteckt bleibt: die unter alten Leuten weit verbreitete Armut.
Preise höher als in Lissabon
Die Zukurzgekommenen leben mitten unter der Durchschnittsbevölkerung. Nicht einmal die
Protzigkeit der Neureichen, wie sie in Belgrad mittels allradgetriebener Pkw-Monster Einzug
gehalten hat, zeugt in der kroatischen Metropole von großer sozialer Differenz. Aber sie existiert.
Und sie ist ein Phänomen der alten Generation. 48 Prozent der als arm eingestuften Haushalte
haben einen Rentner als Haushaltsvorstand. Frauen betrifft die Armut mehr als Männer, wie einer
Weltbankstudie zu entnehmen ist. Demnach müssen 26,4 Prozent der Frauen über 65 Jahre als
verarmt eingestuft werden. Die Gründe sind nicht nur in den Zerstörungen des »Heimatkrieges« mit
seiner folgenden Frühverrentung zu suchen, sondern auch in der monetaristischen Politik seither.
Diese hat zu einem Hochpreisniveau geführt, das die Pensionisten vor allem bei
Grundnahrungsmitteln zu spüren bekommen. Eine OSZE-Statistik vom Juni 2007 über
Nahrungsmittelpreise in europäischen Großstädten attestiert Zagreb ein Preisniveau, das jenseits
aller Hauptstädte der zwölf in den Jahren 2004 bzw. 2007 aufgenommenen osteuropäischen EULänder
liegt und sogar höher als in Lissabon ist.
Schon drehen EU, Weltbank und Zagreber Finanzministerium erneut an der Preisspirale. Die
fehlende Mehrwertsteuer auf Brot, Milch, Bücher und Medikamente ist ihnen ein Dorn im Auge.
Massensteuern rauf, lautet die Devise. Statt Null Prozent sollen die Kroaten in Zukunft für
Grundnahrungsmittel die üblichen 22 Prozent Steuern bezahlen, damit das Staatsbudget anderswo,
bei Unternehmern und Grundbesitzern, sparen kann. »Wir erwarten, dass die Null-Prozent-Rate bei
der Mehrwertsteuer fallen wird«, gibt sich Staatssekretärin Martina Dalic dazu unerschrocken.
Zum Ende der Tudjman-Ära im Jahr 1999 war beinahe jeder vierte Beschäftigte im Staatsdienst
angestellt. Tudjmans etatistische, autoritäre Politik hat Beamten und Soldaten einen großen
Stellenwert eingeräumt. Nirgends in den übrigen Transformationsländern gab es einen vergleichbar
hohen Staatsanteil bei den Beschäftigten. Dies zu ändern, sind die obersten Wärter des
Neoliberalismus – Weltbank und Währungsfonds – angetreten. Während ihnen Franjo Tudjman für
ihre Pläne, das Staatspersonal zu kürzen, im Jahr 1997 noch die kalte Schulter zeigte, öffnete die
nach Tudjmans Tod im Januar 2000 ins Amt gewählte westorientierte Koalition dem Sparkurs Tür
und Tor. 10 000 Beamte aus dem Innen- und Verteidigungsministerium, das musste Premierminister
Ivica Racan im Angesicht eines 250 Millionen US-Dollar schweren Stand-by-Kredits versprechen,
würden entlassen bzw. in den Ruhestand geschickt.
Die sozialdemokratische Regierung erwies sich als Musterschüler in Sachen Sparpakete. Auch
deshalb, weil sie damit Personen aus dem Staatsdienst loswurde, die der von Tudjman gegründeten
Partei HDZ nahestanden. Die von Weltbank und Währungsfonds geforderte Entnationalisierung
nutzten Racan und Konsorten zur parteipolitischen Umfärbung der Ministerien.
Die Entlassungen der Racan-Ära (2000 bis 2003) können nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein
ungleich größeres Problem bereits seit Tudjmans Tagen bestanden hatte – und bis heute
sozialpolitisch virulent ist. Im Jahr 2007 stehen 1,5 Millionen Beschäftigten 1,2 Millionen Rentner und
Kriegsrentenbezieher gegenüber. Vor dem Krieg war das Verhältnis noch »normal« gewesen,
damals kamen auf einen Rentner knapp vier Beschäftigte.
»Herstellung des sozialen Friedens«
Mit dem unfinanzierbar gewordenen Rentnerboom hat es folgende Bewandtnis: Anfang der 1990er
Jahre, mitten im Krieg gegen Jugoslawien und »die Serben«, erließ General und Präsident Franjo
Tudjman ein Dekret, das es allen ermöglichen sollte, in Frührente zu gehen, so sie zuvor 15 Jahre
gearbeitet hatten. Von einem Tag auf den anderen ergriffen 150 000 vergleichsweise junge Männer
und Frauen diese Gelegenheit beim Schopfe. Was hätten sie auch anderes machen können. Die
Fabriken waren geschlossen, die Produktionslinien mit den anderen südslawischen Republiken auf
lange Zeit unterbrochen.
Im Jahr 2007 belasten 350 000 Frührentner und 200 000 vom Staat bezahlte Veteranen zusätzlich
die staatliche Pensionskasse. Die ist vollständig überfordert. Eine erste, von der Weltbank
angeleitete Pensionsreform schlug im Jahr 2000 fehl, später wurde das bekannte 3-Säulen-Modell
eingeführt, das junge Beschäftigte unter 40 Jahren zum Teil der verpflichtenden privaten Vorsorge
unterwirft. »Das Angebot zur Frühpensionierung war ein Akt zur Herstellung des sozialen Friedens«,
umschreibt der Vorsitzende der Kroatischen Rentnerpartei (HSU), Vladimir Jordan, das Motiv für die
Tudjmansche Frühverrentung treffend. Die Durchschnittsrente beträgt 1900 Kuna, umgerechnet 270
Euro. »Davon kann man nur sehr schwer leben«, erklärt Jordan indirekt, warum seine Partei relativ
starken Zulauf genießt. Aus Protest gegen Rentenkürzungen in den späten 1990er Jahren
gegründet, sitzt die HSU mit drei Abgeordneten im Zagreber Parlament, dem Sabor, und koaliert mit
der HDZ.
550 000 alte bzw. »früh-alte« Menschen müssen mit weniger als dem Rentendurchschnitt von 270
Euro auskommen. »18 Prozent der Kroatinnen und Kroaten leben unter der Armutsgrenze«, weiß
auch der Chefökonom der großen kroatischen Gewerkschaftsföderation SSSH, Mario Svigir, zu
berichten. Die Ärmsten der Armen erhalten nur einen Bettel: die Sozialhilfe beträgt entwürdigende
80 Euro.
Besser als zivilen Pensionisten geht es den Kriegsveteranen. Von den schätzungsweise 400 000
erhalten 200 000 eine nennenswerte staatliche Unterstützung. In die beste Kategorie fallen die
»Hrvatski branitelji«, die »Verteidiger Kroatiens«. 50 000 von ihnen können monatlich mit 750 Euro
Veteranenrente auf ihrem Konto rechnen, mehr als doppelt so viel, wie die alten Partisanen aus dem
Zweiten Weltkrieg erhalten.
Regionen driften auseinander
Wer aus Richtung Zagreb kommend auf der Höhe von Zadar, 30 Kilometer von der nach Split
führenden Autobahn abfährt, kann von Wohlstand im Westen bis Armut im Osten alles erleben.
Beides prägt die Regionen des Landes mehr und mehr. Kroatien weist nicht nur naturräumlich große
Unterschiede auf, sondern auch starke regionale Disparitäten. Ersteres ist reizvoll, letzteres
gefährlich. Istrien, der nördliche adriatische Küstenstreifen und Zagreb zählen zu den reichen
Regionen des Landes, die südliche Adria gilt als moderat reich und entwicklungsfähig. Der ganze
Rest des Landes kann als arm eingestuft werden. Wo es bereits vor dem Krieg schlechte
Lebensbedingungen, z.B. im Landesinneren, gegeben hat, hat sich die Situation nach 1991
verschlechtert, und wo der Krieg seine Wunden geschlagen hat, sind diese bis heute nicht verheilt.
Die Folge sind extreme regionale Unterschiede, die es schwer machen, von einem einheitlichen
Land zu sprechen.
Der Unterschied im Pro-Kopf-Einkommen zwischen Zagreb oder Nord-Dalmatien und den
Elendsbezirken im Zentrum oder im Nordosten beträgt fast vier zu eins. Und er wird größer. Zagreb
und die Adriaküste wachsen, das Zentrum und der Nordosten schrumpfen. »Die regionale
Ungleichheit ist erstaunlich«, meint auch der vor Ort stationierte Ökonom der EU-Kommission David
Hudson. »Wir haben es mit komplett unterschiedlichen ökonomischen Situationen zu tun.« Ob die
EU gegen das Auseinanderdriften etwas unternimmt? »Wir sind dabei, die Regionen zu definieren«,
so Hudson.
Solch vage Bekenntnisse können die kroatische Beauftragte für Integration, Martina Dalic, nicht
irritieren. Unbeirrt hält sie an der These fest, wonach sich Brüssel um die Angleichung von
Differenzen, seien sie nun sozial oder regional, kümmern wird. »Mit dem Beitritt zur EU wird sich die
Attraktivität für Investoren erhöhen«, verlautet sie zweckoptimistisch, »das wird verschiedenen
Regionen zugute kommen«. Warum sie glaubt, dass Investoren z. B. rund um Knin ihr Geld anlegen
werden, wenn die Tausend Kilometer lange Küste oder die unzähligen Inseln rentablere Geschäfte
versprechen, bleibt ihr Geheimnis.
* Von Hannes Hofbauer erscheint im November "EU-Osterweiterung. Historische Basis - ökonomische Triebkräfte - soziale Folgen" im Wiener Promedia Verlag.
Aus: Neues Deutschland, 29. August 2007
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