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Großes Rätselraten

Nordkoreas Atomwaffenprogramm: Über Art und Umfang der nuklearen Bewaffnung Pjöngjangs ist nur wenig bekannt. Selbst US-Geheimdienste scheinen nicht viel zu wissen

Von Rainer Rupp *

Die in die Ecke gedrängte Demokratische Volksrepublik Korea (DVRK) wird derzeit von westlichen Medien wegen ihrer Reaktion auf anhaltende US- und südkoreanische Provokationen als angriffslustiger Schurkenstaat verteufelt, der zu allem Unglück auch noch Atomwaffen besitzt. Deshalb kann die DVRK auch nicht wie der Irak 2003 »präventiv« überfallen werden. Auch die Nutzung der Blaupause von Aktionen in Libyen, wo angebliche Menschenrechtsverletzungen als Vorwand für eine westliche Militärintervention vorgeschoben wurden, scheitert an Nordkoreas Nuklearwaffenbesitz. Die Führung in Pjöngjang ist stolz auf diesen Status, der dem Land die ultimative Sicherheit vor westlichen Aggressionen bietet. Im Mai 2012 hatte die DVRK sogar die Verfassung geändert und sich als »nuklear bewaffneter Staat« deklariert. Gespräche über eine einseitige Denuklearisierung des Landes, die der Westen erzwingen will, seien »nicht möglich«, erklärte Pjöngjang im Januar 2013. Die Republik werde sich nur dann nuklear entwaffnen, wenn auch alle anderen Atommächte das tun. Da letztere nichts dergleichen unternehmen, hat Nordkorea eine Erweiterung seines Atomwaffenprogramms angekündigt.

Aus offen zugänglichen Quellen ist über Art und Umfang der atomaren Bewaffnung der DVRK wenig bekannt, das gilt für alle Teilaspekte: von Design, Sprengkraft und technischem Stand der Gefechtsköpfe über Produktionskapazitäten und die Trägersysteme bis hin zu Umfang und Fortschritten bei der Urananreicherung. Dieser Umstand legt nahe, daß auch die US-Geheimdienste nicht viel mehr wissen. Sonst wäre bei den Anhörungen des US-Kongresses oder in den Konferenzen der Washingtoner Denkfabriken unter Beteiligung aktiver und ehemaliger Experten der Geheimdienste längst mehr durchgesickert. In einer soeben erschienenen Studie des Wissenschaftlichen Dienstes des US-Kongresses (CRS), die nicht für das breite Publikum bestimmt ist, junge Welt aber vorliegt, wird der Stand des Wissens nach öffentlich zugänglichen Quellen zusammengefaßt.

Nordkoreas Atomwaffenprogramm basierte von Anfang an auf Plutonium. Im Rahmen eines internationalen Abkommens wurde aber im Juni 2008 die Plutoniumanlage des Landes stillgelegt und ihr Kühlturm zerstört. Allerdings hat die nordkoreanische Regierung am 1. April 2013 erklärt, den Plutoniumreaktor wieder hochfahren zu wollen. Laut CRS schätzen US-Experten, »daß der Neustart etwa sechs Monate brauchen wird«. Bei Wiederaufnahme der vollen Produktion würde dann »genug Plutonium für eine neue Bombe pro Jahr anfallen«.

US-Geheimdienste vermuten dem CRS zufolge, daß Pjöngjang »im letzten Jahrzehnt einen zweiten Weg zum Bau von Atomwaffen – nämlich über hoch angereichertes Uran – entwickelt hat«. Beweise dafür werden jedoch nicht vorgelegt. Nordkorea hat lediglich im Jahr 2009 offen eingestanden, ein Programm zur Urananreicherung zu haben, aber diese diene ausschließlich der Herstellung von Brennstoff für Kernkraftwerke. Pjöngjang zeigte in einer kurzen »Tauwetter«-Periode in den nordkoreanisch-amerikanischen Beziehungen im November 2010 einer Gruppe von US-Experten einen im Bau befindlichen 100-Megawatt Leichtwasserreaktor und eine gerade fertiggestellte Anlage mit 2000 Gaszentrifugen in Yongbyon gezeigt, die Uran nur schwach, d. h. für die zivile Nutzung, anreicherten. Laut CRS halten es die US-Geheimdienste für wahrscheinlich, daß noch andere, geheime Urananreicherungsanlagen existieren, die Nordkorea zu einem schnelleren Zugang zu weiterem nuklearwaffenfähigen Material verhelfen würden.

Dem Bericht zufolge gehen viele Experten davon aus, »daß die höchste Priorität des nordkoreanischen Nuklearprogramms die Entwicklung eines (leichten) Atomsprengkopfes für Mittel- und Langstreckenraketen ist«. Dies sei durch nordkoreanische offizielle Verlautbarungen Ende März 2013 bestätigt worden. Aber die Miniaturisierung eines raketentauglichen Sprengkopfs dürfte zusätzliche Versuche und Raketentests notwendig machen. Darauf schien Pjöngjangs Ankündigung im Januar 2013 von zukünftigen Atomtests auf einer »höheren Ebene« auch hinzudeuten.

Am 12. Februar 2013 meldete die nordkoreanische Nachrichtenagentur KCNA eine »erfolgreiche« unterirdische Atomexplosion. Deren Ziel war der Test eines »kleineren, leichten« Sprengkopfes. Japanische und US-amerikanische Experten schlossen mit Blick auf die Aufzeichnungen seismischer Überwachungssysteme auf eine Sprengkraft von sechs bis sieben Kilotonnen TNT-Äquivalent. Die Atombombe, welche die USA 1945 auf Hiroschima abgewarf, hatte eine Sprengkraft von etwa 15 Kilotonnen TNT. Ob der jüngste Test Nordkorea in seinen Bemühungen für den Bau einer nuklear bestückten Langstreckenrakete weitergebracht hat, ist nicht bekannt. Außerdem gibt es scheinbar keine Hinweise, die den US-Experten Rückschlüsse auf Design und Stand der Technik des getesteten Sprengkopfs erlauben würden.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 11. April 2013


Nordkoreas nukleare Einsatzdoktrin

Pjöngjangs Atomwaffen dienen der Abschreckung und Abwehr von Aggressionen

Von Rainer Rupp **


Die nuklearen Fähigkeiten Nordkoreas (DVRK) dienen mehr der Abschreckung von Angriffen, dem internationalen Ansehen des Staates und einer mit Gewaltandrohungen gestützten Diplomatie als der Führung eines Krieges.« Zu diesem Schluß kommt der wissenschaftliche Dienst des US-Kongresses (CRS). In seiner aktuellen Studie über das nordkoreanische Atomwaffenprogramm faßt er unter anderem die gemeinsame Beurteilung aller (!) US-Geheimdienste zusammen, die der Director of National Intelligence, Dennis Blair, in seiner »Jährlichen Einschätzung der Bedrohungslage« (Annual Threat Assessment) am 31. Januar 2012 dem Geheimdienstausschuß des US-Senats vorgetragen hat. Demnach würde Pjöngjang »höchstwahrscheinlich den Einsatz von Atomwaffen nur unter engen Voraussetzungen erwägen«. Wörtlich sagte Blair dem CRS zufolge: »Wir gehen davon aus, wenn auch mit geringerem Vertrauen, daß Pjöngjang nicht versuchen würde, Atomwaffen direkt gegen US-Truppen oder US-Territorium einzusetzen, es sei denn, das Regime sieht sich am Rande der militärischen Niederlage und riskiert den unwiederbringlichen Verlust seiner Kontrolle (über das Land, jW)«.

Erklärungen nordkoreanischer Regierungsmitglieder machten deutlich, so die CRS-Studie weiter, daß die Bemühungen Pjöngjangs zur Erweiterung seines Atomwaffenprogramms eine Antwort auf die dort wahrgenommenen Bedrohungen durch die Vereinigten Staaten sind. Außerdem würden Nuklearwaffen Nordkorea auch als wichtiges Unterpfand bei diplomatischen Unterredungen dienen. Die bedrohliche Rhetorik der DVRK-Regierung überschneide sich oft »mit Zeiten innerpolitischer Krisen und der Aufnahme von Verhandlungen«. Im Januar 2008 z.B. hatten nordkoreanische Medien erklärt, daß das Land »als Antwort auf Versuche der USA, den Atomkrieg zu initiieren, seine Abschreckungskapazitäten weiter ausbauen werde«. Tatsächlich aber – so der Dienst des US-Kongresses – habe Pjöngjang damit nur »seinen Unmut darüber ausdrücken wollen, daß Nordkorea immer noch nicht von der US-Liste der Staaten, die den Terrorismus unterstützen, gestrichen worden war«. Ähnliche Drohgebärden, mit dem Ziel, diplomatische Hebel anzusetzen, habe es seither von Pjöngjang noch öfter gegeben.

Das jahrelange westliche Rätselraten über nordkoreanische Intentionen und die nukleare Einsatzdoktrin wurde erst Anfang dieses Monats beendet. Nachdem im Mai 2012 der Status als Atomwaffen besitzendes Land in der Verfassung Nordkoreas festgeschrieben worden war, wurde nun am 1. April 2013 das »Gesetz zur Konsolidierung der Position des Kernwaffenstaats« verabschiedet, das über die Einsatzdoktrin für die Atomwaffen Klarheit verschafft. Die offizielle nordkoreanische Nachrichtenagentur KCNA hat laut CRS den Inhalt des Gesetzes wie folgt zusammengefaßt: »Atomwaffen dienen der Abschreckung und Abwehr von Aggressionen und militärischen Angriffen des Feindes gegen die DVRK.« Sie seien dazu da, »tödliche Vergeltungsschläge gegen die Hochburgen der Aggression zu führen, solange die Welt nicht atomwaffenfrei ist«. Laut diesem Gesetz können die nordkoreanischen Nuklearwaffen also nicht für einen Angriff, sondern nur zur Abwehr »einer Invasion oder eines Angriffs einer feindlichen Atommacht (USA, jW) eingesetzt werden«. Der Einsatzbefehl dazu »kann nur vom Obersten Befehlshaber der koreanischen Volksarmee kommen«. Zugleich macht das Gesetz klar, daß die DVRK niemals »Atomwaffen gegen einen nichtnuklearen Staat einsetzen, noch diesen damit bedrohen wird, sofern dieser (Südkorea, jW) nicht einen feindlichen Atomwaffenstaat (USA, jW) bei einer Invasion oder einem Angriff gegen die DVRK unterstützt«.

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 11. April 2013


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