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Südkorea: Wenn das Parlament gegen das eigene Volk putscht

Über das Amtsenthebungsverfahren gegen den Staatspräsidenten Roh

Von Young-Jin CHOI

Zum ersten Mal in der Geschichte der Republik Südkorea beschloss das Parlament am 12. März die Amtsenthebung eines Staatspräsidenten. Innerhalb von 180 Tagen muss jetzt das Verfassungsgericht endgültig über die Absetzung von Präsident Roh Moo Hyun entscheiden. Seit dem umstrittenen Parlamentsbeschluss erfolgen tagtäglich landesweit massive Proteste und Demonstrationen von empörten Bürgern. Laut Umfragen sind über 70 Prozent der Südkoreaner gegen die Absetzung Rohs. Über die ausländischen Medien wurden diese Vorgänge nur unzulänglich und nicht ganz korrekt vermittelt; teilweise konzentrierte sich die Berichterstattung einseitig auf Sensationen wie die Tumulte und Handgreiflichkeiten im Parlament. Manche deutschen Zeitungen scheinen davon auszugehen, dass die Vorwürfe gegen Roh wohl begründet seien.

Im koreanischen Parlament hat die konservative Opposition derzeit eine gute Zweidrittelmehrheit bei der Sitzverteilung. Die Oppositionsparteien unter Führung der GNP (Große Nationalpartei), gefolgt von der DMP (Demokratische Milleniumspartei) als zweitstärkster Kraft sowie der kleinen FDU (Freie Demokratische Union), konnten den Amtsenthebungsantrag leicht durchsetzen. Sie beschuldigten Roh des Verstoßes gegen das Wahlgesetz sowie der Annahme illegaler Spenden im Wahlkampf 2002 und legten ihm außerdem die 'Wirtschaftsmisere' des Landes zur Last. Die 'Wirtschaftsmisere' ist nicht nachweisbar und vor allem keine Gesetzesverletzung. Der Spendenvorwurf hält nicht, weil noch zu ermitteln ist, ob Roh von den illegalen Spenden wusste. Er klingt vor allem wie ein Witz, wenn man bedenkt, dass laut Bericht der Staatsanwaltschaft die Summe der illegalen Spenden an die GNP siebenmal so hoch wie die der Partei Rohs lag. Der unmittelbare Anlass für den Antrag war folgende Antwort Rohs auf eine Frage bei einer Pressekonferenz: "Ich würde gern der Uri-Partei bei der Parlamentswahl am 15. April mit allen legalen Mitteln zum Stimmengewinn verhelfen." Die Opposition behauptet, dass Roh für die regierungsnahe Uri-Partei geworben und folglich das Gesetz, das die politische Neutralität von Beamten vorschreibt, verletzt habe. Dieser Vorwurf ist offensichtlich übertrieben. Laut Verfassung hat jeder das Recht, seine Meinung frei zu äußern. Warum sollte der Präsident dieses Recht nicht genießen? Die Mehrheit der befragten Rechtswissenschaftler interpretiert Rohs Äußerung ausschließlich als sachliche Antwort, nicht als Werbung für die Partei. Der Vorwurf beruhte zwar auf einer Mitteilung der Wahlkommission. Die Wahlkommission hatte aber Roh nur zur Vorsicht gemahnt und dabei erklärt, dass es hier nicht um einen Gesetzesverstoß gehe. Daraufhin hatte die DMP den Vorsitzenden der Wahlkommission genötigt, seine Aussage zu Gunsten der Opposition zu revidieren.

Die meisten Koreaner reagieren verblüfft über die Anmaßung des Parlaments. Sie fragen sich, ob dieses Parlament, das seine Arbeit generell viel schlechter als Roh gemacht habe, überhaupt dazu berechtigt gewesen sei, ihn zu denunzieren. Roh ist bekanntlich viel weniger korrupt als die bisherigen Präsidenten und ermöglichte sogar zum ersten Mal die Autonomie der bisher von der Regierung bevormundeten Justiz, wofür er nun bestraft zu werden scheint. Zu Zeiten der Militärregime hatte nämlich kein Parlament gewagt, dem amtierenden Präsidenten Diktatur und Korruption vorzuwerfen.

Eigentlich war der Amtsenthebungsantrag keine Überraschung, sondern ein lange erarbeitetes (Mach-)Werk der GNP. Die erzkonservative GNP, die seit der Parlamentswahl 2000 die meisten Sitze im Parlament hat, hatte ihre Niederlage bei der Präsidentenwahl 2002 nicht anerkannt und Roh häufig - laut Statistik mindestens 147-mal - mit Amtsenthebung gedroht, vor allem weil er die Entspannungspolitik seines Amtsvorgängers Kim Dae Jung gegenüber Nordkorea fortzusetzen gewagt hatte. Zuletzt war es der GNP gelungen, Verbündete wie die DMP und die FDU zu finden.

Mit dem Amtsenthebungsverfahren scheint Roh parardoxerweise das verloren gegangene Vertrauen des Volkes wiedergewonnen zu haben. Noch vor wenigen Monaten lagen die Zustimmungswerte für ihn bei 30 Prozent. Selbst seine Anhänger kritisierten ihn vehement, weil er gegen den Willen des Volkes die Truppenentsendung in den Irak verkündet und sich für eine arbeitnehmerfeindliche Wirtschaftspolitik entschieden hatte. Derzeit aber stehen über 70 Prozent der Bevölkerung hinter ihm. Die Uri-Partei genießt Rückenwind. Allen Umfragen zufolge liegt sie mit 40 Prozent an der Spitze der Beliebtheitsskala. Die Oppositionsparteien müssen dagegen massive Verluste hinnehmen. Die Vorsitzenden der GNP und DMP haben sich auch mit Kritik aus den eigenen Reihen auseinanderzusetzen. Besonders dramatisch sieht es im Lager der DMP aus - zahlreiche Mitglieder verließen die Partei bereits und ein Vorstandsmitglied trat von seinem Posten zurück. Die FDU ist zusammengeschrumpft. Die Oppositionsparteien befinden sich in der Defensive und versuchen verzweifelt, den Widerstand des Volkes herunterzuspielen. Sie warfen dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen vor, die öffentliche Meinung manipuliert zu haben, und drohten mit dem Boykott der Fernsehgebühren.

Derzeit ist überall von einer Krise des Staates die Rede. Im Alltag spürt man jedoch keine Anzeichen für ein Chaos. Die Nation sieht sich an die bürgerliche Revolution in den 80er Jahren erinnert, die zum Einlenken des diktatorischen Machthabers führte. Die Massendemonstrationen verlaufen aber durchaus friedlich und erscheinen oft wie Kulturveranstaltungen. Die Mehrheit der Koreaner rechnet mit der Annullierung des Parlamentsbeschlusses durch das Verfassungsgericht. Das Parlament hätte damit einen erheblichen Teil seiner Autorität als Volksvertretung eingebüßt. Daher werden nun die Stimmen lauter, die vom Parlament eine Rücknahme des Amtsenthebungsantrags fordern. Es wird befürchtet, dass es zu weiteren destruktiven Handlungen der Oppositionsparteien kommt. Sie könnten z. B. durch eine Änderung des Wahlgesetzes die anstehenden Wahlen verschieben oder die Verfassung zu ändern versuchen, um mitregieren zu können, was nach Meinung von kritischen Intellektuellen im Sinne der Südkoreapolitik der USA läge.


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