Artemis am Congo
Was hatte die europäische Jagdgöttin in Afrika zu suchen?
Im Folgenden dokumentieren wir den Text einer Studie, die im August 2005 von der Informationsstelle Militarisierung als IMI-Studie 2005/04 herausgegeben wurde (Tübingen 2005, 22 Seiten, ISSN 1611-25). Bestellanschrift: IMI e.V., Hechingerstr. 203, 72072 Tübingen.
Demokratie
Unsere Fahne marschiert durch die geschändete Landschaft und unser
Kauderwelsch erstickt die Trommel.
In den Hauptstädten werden wir die schamloseste Hurerei
hochbringen. Wir werden die vernünftigen Empörungen niedermetzeln.
Hin wo der Pfeffer wächst, in die erschlafften Länder, im Dienste der
ungeheuerlichsten industriellen oder militärischen Ausbeutungen.
Auf Wiedersehen, hier, ganz gleich wo. Rekruten des guten Willens
werden wir uns an die Philosophie der Barbarei halten; Stümper in der
Wissenschaft, Wüstlinge im Genuß des behaglichen Lebens. krepieren
muss die Welt, wie sie heute läuft. Das ist der wahre Fortschritt.
Vorwärts, los!
Arthur Rimbaud, Les Illuminations (1872-1873)
Einleitung
Artemis ist die griechische Göttin der Jagd. Nach ihr wurde die erste autonome EUMilitäroperation
benannt, die von Juli bis September 2003 im Osten der Demokratischen
Republik Congo (DRC) stattfand. Diese Region ist der Schwerpunkt eines seit Jahren
anhaltenden, unübersichtlichen Krieges in Zentralafrika, in dem in wechselnden Allianzen
staatliche und nichtstaatliche Armeen sich gegenseitig bekämpfen, die Bevölkerung
terrorisieren und Rohstoffe und produzierte Waren plündern. An dieser Situation hat sich
im Wesentlichen durch den Einsatz europäischer Soldaten nichts geändert. Dennoch wird
die Mission Artemis von Politikern und EU-Strategen gemeinhin als Erfolg bewertet und
als Vorbild für zukünftige EU-Interventionen genannt. Dies entlarvt den tatsächlichen
Zweck der Mission, den sie durchaus erfüllt hat. Es ging nicht darum, eine humanitäre
Notlage zu beenden, sondern darum, als EU militärische Handlungsfähigkeit zu beweisen,
die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) voranzutreiben und eine Grundlage
für zukünftige Einsätze zu schaffen. Dies äußern nicht nur EU-Politiker ganz offen, sondern
wird auch bei näherer Betrachtung der Umstände und Aufgaben von Artemis deutlich.
Nach einem kurzen geschichtlichen Abriss werde ich den aktuellen Konflikt in der DRC
beschreiben und so die Situation umreißen, in der die EU militärisch aktiv geworden ist.
Anschließend werde ich Ziele und Aufgaben der Militärmission aufzeigen und
argumentieren, dass hier eine passgenaue Mission als Premiere für EU-Militäreinsätze
entworfen wurde. Diese These wird unterstützt durch die heutige Rezeption von Artemis
und ihrer Rolle zur Legitimation der zunehmenden Militarisierung der EU, die ich im
Folgenden darstellen werde. Über wirtschaftliche und politische Verwicklungen zwischen
der EU bzw. europäischer Firmen und Politiker möchte ich auf die Situation am Congo und
die Systematik dieses Krieges zurückkommen, um abschließend zu erörtern, was im
Großen wie im Kleinen zu tun wäre und getan wird, damit sich am Congo endlich wieder
Frieden und Selbstbestimmung entfalten können.
Die traurige Geschichte der „Demokratischen Republik“
Die Demokratische Republik Congo - einst Privatbesitz des belgischen Königs Leopold II -
ist ein schönes und potenziell reiches Land. Fast siebenmal so groß wie Deutschland
(2.345.410 km2) besteht es etwa zur Hälfte aus Regenwald und zur Hälfte aus Savanne. Es
wird von dem Congo-Fluss und seinen Armen durchflossen und bewässert. Im Gegensatz
zu anderen Ländern in Afrika gibt es hier fast keine Dürren und die Vegetation bietet
vielfache Möglichkeiten zur Bewirtschaftung: Kautschuk-Bäume und Palmen, Kaffeesträucher und Baumwollstauden, Bananen, Kochbananen, Mangos, Papayas,
Avocados, Ananas, Kokosnüsse. Das ganze Land ist reich an Rohstoffen wie Uran, Zink,
Blei und Mangan. Vor allem in den Hochebenen am Rande des Congobeckens im Osten
sind reiche Vorkommen an Zinn, Gold, Silber, Diamanten und Coltan.
Doch seit einem halben Jahrtausend hatte diese Region nicht mehr die Möglichkeit, sich
selbstständig zu entwickeln und in Frieden vom Ertrag seiner fruchtbaren Böden zu leben.
Stattdessen ist das Land seit seiner Erschließung für die europäischen Mächte ein Spielball
imperialer Interessen, ausgebeutet und von Kriegen heimgesucht, die beinahe regelmäßig
Massensterben verursachen.
Die ersten Europäer, die den Fluss Congo „entdeckten“ waren 1483 Portugiesen. Sie trafen
auf ein großes, lose organisiertes Königreich, etwa hundert Jahre alt, mit eigener Währung
und Steuersystem, Kupfer und Eisen wurden verarbeitet und die Landwirtschaft konnte
dem fruchtbaren Boden genügend Nahrung abgewinnen. Der amtierende König ließ sich
bald taufen und arbeitete mit den Portugiesen zusammen, in der Hoffnung, von ihnen
dauerhaft als gleichwertig anerkannt zu werden. Diese bauten Kirchen, Schulen und
lieferten Waffen, im Gegenzug verlangten sie Elfenbein, Kupfer und Sklaven. Es waren vor
allem der Sklavenhandel und die militärische Gewalt, die von den Portugiesen ausgingen,
die das Königreich zerstörten: Ganze Landstriche wurden entvölkert, die Bevölkerung etwa
halbiert. Aufstände und Grenzstreitigkeiten wurden brutal niedergemetzelt und sog.
„Mittelsmänner“ der Europäer zogen durchs Land um Sklaven zu fangen und Konflikte
anzuzetteln, denn Kriegsgefangene wurden als Sklaven verkauft. Für die Europäer selbst
war es aufgrund ihrer mangelnden Kenntnisse und ihrer Anfälligkeit gegenüber
Krankheitserregern zu aufwändig und gefährlich, im Landesinneren auf Menschenjagd zu
gehen. Sie bezahlten ihre afrikanische „Mittelsmänner“, gewissermaßen die Vorläufer der
heutigen Warlords, vor allem mit Waffen und Alkohol für Sklaven, die hauptsächlich auf
den amerikanischen Kontinent verschifft wurden. Die selben Schiffe brachten dann
amerikanische Kolonialwaren nach Europa und luden dort wieder Alkohol und Waffen, um
damit für die Sklaven in Afrika zu bezahlen. Ein einträgliches Geschäft für die Pioniere des
Welthandels, eine Katastrophe für Afrika: Nach wenigen Jahren haben die „modern“
bewaffneten Menschenhändler und der große Verlust von arbeitsfähigen jungen Männern
das Königreich Bakongo wie viele andere Gesellschaftsformationen in Afrika zerstört.
Dafür war aus den Mittelsmännern der europäischen Händler eine wahrlich abscheuliche
Elite entstanden. Nur der Südosten der heutigen DRC blieb zunächst unberührt von
europäischem Einfluss. Hier hatte sich bereits im 16. Jhd. mit der Kuba-Föderation ein föderales Königreich aus 20 Bantu-Stämmen entwickelt, welches Mitte des 19. Jhds. seine
Blütezeit erlebte, bevor es der nächsten Kolonialisierungswelle zum Opfer fiel.
Im Laufe des 19. Jhds. hatten sich die europäischen Systeme von Monarchien zu sog.
Demokratien transformiert, der Kapitalismus löste den Merkantilismus ab und der
interkontinentale Sklavenhandel wurde abgeschafft. Stattdessen war nun die Lohnarbeit
erfunden worden. Für die Menschen am Congo änderte sich dadurch aber wenig zum
Guten. Die Mittelsmänner ließen sich statt Sklaven Kautschuk liefern und verkauften es an
die Europäer. Die Portugiesen verloren zwar ein wenig ihr Interesse, dafür war aber der
belgische König Leopold II auf das Gebiet aufmerksam geworden. Er las die Berichte des
britischen Abenteurers, Aufschneiders und Journalisten Henry Morton Stanley, der 1870 in
Zentralafrika den Missionar David Livingston suchte und das Congobecken für die Briten
erforschen wollte, von der Royal Society aber nicht ernst genommen wurde. Entgegen dem
belgischen Parlament und der Bevölkerung wollte Leopold II eine Kolonie „besitzen“. Er
gründete das scheinbar altruistische "Comité d'Études du Haut Congo" und beauftragte
1978 Stanley, im Congobecken Verträge mit den Häuptlingen zu schließen, die Leopold
zum Eigentümer des Landes und der darauf befindlichen Arbeitskräfte machten. Die
Häuptlinge verstanden den Inhalt der Verträge nicht und viele unterschrieben. Gleichzeitig
gründete Stanley in einem ungeheuren Kraftakt Städte, baute unter Zwangsarbeit Werften
und Straßen und erschloss so Teile des Congolaufes. Auf dieser Grundlage wurde 1885 das
Gebiet der heutigen Demokratischen Republik Congo auf der Berliner Kongo-Konferenz
als „Freistaat Congo“ Leopold II als Privatbesitz zugesprochen. Während Belgien mit Hilfe
der Warenströme aus der Kolonie den Aufstieg zum Industriestaat schaffte und Leopold II
aus dem Erlös von Gummi, Kupfer und Elfenbein nach Gutdünken Prachtbauten errichten
ließ, stürzte der „Freistaat“ in tiefste Armut. Die Menschen wurden dazu gezwungen,
Kautschuk zu sammeln, der in dieser Zeit boomte, und kamen kaum noch dazu, für ihre
Ernährung zu arbeiten. Weigerten sich Einzelne oder war der Ertrag zu gering, wurden
ganze Dörfer niedergebrannt. Neben Zwangsarbeit waren auch Vergewaltigungen und
Verstümmelungen an der Tagesordnung, denn die Soldaten mussten für jede verbrauchte
Kugel einen Menschenarm vorlegen [1]. Erneut halbierte sich die Bevölkerung im Land,
Schätzungen gehen heute von bis zu 10 Mio. Opfern zwischen 1880 und 1920 aus [2].
Diese sog. „Kongogräul“ ging 1908 selbst einigen anderen Kolonialmächten zu weit und
auf internationalen Druck hin verkaufte Leopold II 1908 den Freistaat an den belgischen Staat als Kolonie (Belgisch-Kongo). Kurz darauf wurde auch die Zwangsarbeit verboten,
stattdessen aber ein Steuersystem eingeführt, welches die Menschen zur Arbeit zwang.
Politische Betätigung und das Vollziehen traditioneller Riten blieben verboten. Um die
Rohstoffe besser ausbeuten zu können, wurden Menschen aus Ruanda und Burundi in die
teils entvölkerten Gebiete umgesiedelt. Belgisch-Kongo war die einzige Kolonie Belgiens,
wurde ausgebeutet, aber nur notdürftig verwaltet. Zwar versuchte Belgien relativ
flächendeckend Grundschulbildung zu gewährleisten, verhinderte aber konsequent eine
Elitenbildung und verwehrte den Kongolesen jeglichen Zugang zu administrativen Posten.
Nach dem 2. Weltkrieg kam es vermehrt zu Unruhen und Protesten gegen die autoritären
Kolonialherren, alte Kulte wurden wieder belebt und 1950 gründete sich illegal mit der
ABAKO die erste kongolesische Partei. Diese Proteste und politischen Bemühungen waren
jedoch nur selten national geprägt, sondern schlicht anti-kolonial oder anti-belgisch. Zwar
wurde der Ruf nach Unabhängigkeit lauter, doch nur wenige wollten einen Staat, der alle
Provinzen umfasst. Einen Mittelweg ging Joseph Kasavubu mit seiner ABAKO, die
zunächst die sofortige Unabhängigkeit der eigenen Provinz forderte, später Vorstellungen
von einer föderalen, dezentralen Republik in den Grenzen der heutigen DRC verfolgte.
1958 wurden Parteien von der belgischen Regierung unter zunehmendem Druck zugelassen
und es fanden die ersten Kommunalwahlen statt. Der spätere Ministerpräsident Patrice
Lumumba gründete die einzige nationale Partei, die MNC (Mouvement National
Congolais). Er versuchte die antikolonialen Bestrebungen zu bündeln und daraus eine
nationale Bewegung entstehen zu lassen und veranstaltete 1959 einen Kongress zusammen
mit verschiedenen tribalistischen und regionalen Parteien. Dieser endete mit der Forderung
nach sofortiger und vollständiger Unabhängigkeit des Landes. Unruhen brachen aus,
Lumumba wurde verhaftet und nach Belgien gebracht. Vier Monate später hat die belgische
Regierung ihre Strategie gewechselt. Völlig überstürzt – so scheint es – kündigt sie am 27.
Januar 1960 die Unabhängigkeit Congos bis 30. Juni 1960 an. Die Staatenbildung, die in
Europa über Jahrhunderte durchgesetzt wurde, musste in der zukünftigen DCR innerhalb
weniger Monate ablaufen. Das war unmöglich: Die Bevölkerung ist sehr ungleichmäßig
verteilt, spricht 250 verschiedene Dialekte und setzt sich aus eben so vielen Ethnien
zusammen. Die Probleme, welche eine bloße Kopie des europäischen, nationalstaatlichen
Herrschaftssystems als Ordnungsprinzip für die zukünftige „Demokratische Republik
Congo“ mit sich brachten, waren absehbar: Der paternalistische Kolonialismus hatte zur „Lähmung und Verkrümmung politischer Eigendynamik und die Zerstörung der althergebrachten sozialen Netze selbstgenügsamer bäuerlicher Gesellschaften“[3] geführt. Höhere Verwaltungsposten waren fast ausschließlich von Belgiern besetzt und keine 30
Kongolesen hatten einen Hochschulabschluss. Die Amtssprache Französisch verstand nur
eine kleine Minderheit, die faktische Völkerwanderung war unvereinbar mit Staatsgrenzen
und Staatsbürgerschaft, es existierte keine wirtschaftlich privilegierte
„Mehrheitsgesellschaft“, die sich in einem Schaukampf zwischen zwei oder mehr
„Volksparteien“ entscheiden könnte.
Bei den Parlamentswahlen konnte die MNC des Patrice E. Lumumba als einzige landesweit
antretende Partei dementsprechend die meisten Stimmen auf sich vereinigen. Die
Regierung musste Lumumba mit seinem Hauptkonkurrenten Joseph Kasavubu bilden. Fünf
Tage nach der offiziellen Unabhängigkeit am 30. Juni 1960 brachen die „Kongowirren“
aus: Afrikanische Soldaten wollten sich nicht mehr von den nahezu ausschließlich
belgischen Offizieren befehligen lassen und revoltierten, die rohstoffreichen Regionen
erklärten sich unabhängig, wenige Menschen identifizierten sich mit der Regierung und der
Nation. Belgien hatte seine Truppen gleich im Land gelassen und sicherte die
rohstoffreichen Regionen. Auch die USA nutzten diese Gelegenheit, um wieder Truppen
im Land zu stationieren. Mit ihrer Unterstützung wurde Lumumba ermordet und der
Militärdiktator Mobutu putschte sich an die Macht. Er blieb dort die folgenden 37 Jahre –
als antikommunistisches Bollwerk in Afrika und Rohstofflieferant unterstützt vom
gesamten Westen.
Die Belgier haben so ein komprimiertes Paradebeispiel geliefert, wie Staatenbildung nicht
funktioniert bzw. Dekolonisierung funktionierte. Der damals zuständige Kolonialminster
De Schrijver gestand ein, dass die Kongowirren geplant oder zumindest gewollt waren,
damit das belgische Militär um Hilfe gerufen wird [4]. Es gab gar nicht den Wunsch, eine
wirkliche Unabhängigkeit des Congos zu erreichen, viel zu kostbar sind dessen Rohstoffe.
Belgien hatte sich auf diese Weise seiner kolonialen Verantwortung entledigt, ohne
praktisch den Einfluss in der Region zu verlieren.
Das Regime Mobutus wird häufig als „Kleptokratie“ bezeichnet. „Herrschaft der
Plünderer“, trifft die Sache ziemlich gut. Denn Mobutu bereicherte sich und seine Klientel
an westlichen Entwicklungshilfegeldern und willkürlich erhobenen Steuern, ohne
irgendetwas für die Masse der Bevölkerung zu tun oder auch nur eine funktionierende wirtschaftliche Infrastruktur aufzubauen. Diese politische Kultur und auch die Eliten des
Mobutu-Regimes bestimmen noch heute, nach Mobutus Absetzung und seinem Tod, die
(Un)Ordnung des Landes – nur, dass sich diese Ordnung in den letzten Jahren zunehmend
militarisiert und differenziert hat. Nach dem Ende des Kalten Krieges verlor Mobutu seine
antikommunistische Funktion für den „Westen“ und die Geldströme für seine Klientel
nahmen ab. Die regionalen Vertreter Mobutus bereicherten sich zunehmend auf eigenen
Wegen an der Bevölkerung und die Stabilität der von Mobutu in Kinshasa ausgehenden
Herrschaft und des Herrschaftsgebildes „Zaire“ (Mobutu hatte die DRC im Rahmen einer
Nationalisierungskampagne in Zaire umbenannt) nahm ab. Diese Situation nutzte Laurent-
Désiré Kabila ab 1994, um eine Rebellenarmee (AFDL „Alliance des Forces
Démocratiques pour la Libération du Congo“) aufzubauen. L.-D. Kabila hatte schon
mehrfach Rebellionen und Putschversuche gegen Mobutu unternommen, doch dieser war
nun körperlich und politisch soweit geschwächt, dass Kabila mit seiner Armee 1997
kampflos nach Kinshasa einmarschieren konnte und sich selbst zum Präsidenten ernannte.
Ein Jahr später verbot er alle Parteien und jegliche Beteiligung der Bevölkerung am
"Demokratisierungsprozess".
Der „1. Afrikanische Weltkrieg“
15 Monate nachdem der amtierende Präsident Laurent-Désiré Kabila mit der Unterstützung
Ugandas und Ruandas den Diktator Mobutu gestürzt hatte, marschierten ruandische und
ugandische Truppen in den Congo ein und versuchten zusammen mit verschiedenen
Rebellenarmeen Kabila zu stürzen und die Macht in der Hauptstadt Kinshasa an sich zu
reißen. Seit dem ist Krieg am Congo. Kabila wird von Angola, Simbabwe und Namibia
unterstützt. Dazu sind zahlreiche Milizen in wechselnden Allianzen aktiv. Insgesamt sind
zwischenzeitlich sieben afrikanische Staaten militärisch in den Konflikt involviert und
Madeline Albright spricht vom 1. Afrikanischen Weltkrieg. Kabila bleibt in Kinshasa an
der Macht, aber im ganzen Land bekämpfen sich seit dem verschiedene Armeen und
Rebellenbewegungen, die das Land ausplündern und die Zivilbevölkerung massakrieren.
Formal wird mit dem Friedensabkommen von Lusaka 1999 ein Friedensprozess eingeleitet
und tatsächlich ziehen Ruanda und Uganda offiziell ihre Truppen aus dem umkämpften
Osten zurück. Nach dem mysteriösen Mord an Laurent-Désiré Kabila übernimmt sein Sohn
Joseph Kabila das Amt des Präsidenten. Die westlichen Regierungen trauen ihm zu, die
Lage zu stabilisieren, aber vor allem im Nordosten gehen die Gefechte weiter. Im April
2004 einigen sich die Führer der verschiedenen Armeen über die politische Machtaufteilung in Kinshasa. Eine „Allparteienregierung“ mit 72 Ministern aus den
verschiedenen Rebellenarmeen und Kabilas Partei wird gebildet, Kabila auf eine
Übergangsverfassung vereidigt. Bis Juni 2005 sollen Wahlen durchgeführt werden und die
Streitkräfte entwaffnet bzw. zusammengeführt werden. Stattdessen brechen im Juni 2003 u.
a. aufgrund des Gerüchtes, in Ituri im Osten der DRC wäre Öl gefunden worden, wieder
verstärkt Gefechte aus, die sich um die Stadt Bunia konzentrieren. Die EU entsendet 1400
Soldaten um drei Monate die Stadt zu sichern und eine Auswechselung der Soldaten der
UN-Mission MONUC zu ermöglichen. Die Gefechte halten aber an. Zuletzt erklärten die
Regierenden der beteiligten Staaten auf der „Friedenskonferenz des Afrika der Großen
Seen“ in Tansanias Hauptstadt Daressalam
"vorbehaltlos die nationalen Friedensprozesse
in der Region zu unterstützen und von allen Handlungen, Erklärungen oder Haltungen
Abstand zu nehmen, die sie negativ beeinflussen könnten".
Ende November 2004 überquerten erneut ruandische Armeeeinheiten die Grenze, worauf
sich die Gefechte im Ostkongo verschärfen. Kabila entsendet Regierungstruppen "um die
territoriale Integrität zu verteidigen", die von regionalen Milizen ebenso angegriffen
werden, wie die eindringenden ruandischen Truppen. Die Kräfte der UN-Mission Monuc
werden aufgestockt und versuchen eine Pufferzone zwischen ruandischen und
kongolesischen Truppen zu errichten. Sie haben Schießbefehl und werden sporadisch
angegriffen. Die Zugehörigkeit der Angreifer ist dabei oft nicht einmal festzustellen.
Internationale Politiker protestieren gegen den Vorstoß Ruandas, hunderttausende sind
wieder auf der Flucht. Zum Jahreswechsel beruhigen sich die Gefechte, aber der
Friedensprozess ist nachhaltig gestört. Die auf Juni angesetzten Wahlen sollen verschoben
werden. Bei Demonstrationen gegen diese Verschiebung eröffnet die Polizei das Feuer auf
Demonstranten, von denen viele sterben. Bis heute hat dieser Krieg 4 Millionen Todesopfer
gefordert und Schätzungen zu Folge sterben noch heute täglich tausend Menschen an den
Folgen des Krieges. Während in Kinshasa die Warlords als Minister um ihre Pfründe
feilschen, kämpfen ihre Milizen v. a. im Osten um politischen Einfluss und Zugang zu
Rohstoffen. Die meisten Soldaten erhalten keinen Sold, sondern leben von Plünderungen
oder den Geschäften von Unternehmen, die den Milizen offen oder verdeckt angegliedert
sind.
Die Vielzahl militärischer Organisationen im Norden und Osten der DRC ist kaum zu
überblicken. Zunächst haben wir die offiziellen Armeen, gegenwärtig die RPA (Ruandian
Patriotic Army) des Staates Ruanda, und die Armee der Übergangsregierung der DRC
sowie die Truppen der UN-Mission MONUC. Sowohl die ruandische, vor allem aber die kongolesische Armee setzen sich zu weiten Teilen aus Soldaten ehemaliger
Rebellenorganisationen und Milizen zusammen und plündern, morden und vergewaltigen
ebenso wie die anderen Soldaten, was durch die Tatsache befördert wird, dass sie oft
monatelang keinen Sold oder überhaupt nur sehr wenig von ihren Regierungen bezahlt
werden. Beide Armeen haben Kindersoldaten und es werden ihnen Zwangsrekrutierungen
vorgeworfen.
Viele Rückkehrer aus den Bürgerkriegsregionen, auch Teilnehmer am Völkermord in
Ruanda 1994, werden von der Regierung „reintegriert“, indem sie der offiziellen Armee
eingegliedert werden. Oft spalten sich aber wieder ganze Einheiten ab und verfolgen ihre
eigenen Ziele. Die kongolesische Armee der Übergangsregierung setzt sich aus Kämpfern
zusammen, die sich bis vor zwei Jahren noch bekämpft haben, viele Truppenteile sind
untereinander verfeindet. Auch die Soldaten der MONUC haben einen schlechten Ruf bei
der Zivilbevölkerung und im vergangenen Jahr sind über hundert Fälle von
Zwangsprostitution und sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch MONUC-Soldaten
bekannt geworden, laut Beobachtern nur die Spitze des Eisbergs.
Neben den staatlichen Armeen sind verschiedene große, tw. straffer geführte
Rebellenarmeen aktiv. Die Führer der beiden mächtigsten, der MLC(Bemba) und der RCDGoma(
Ruberwa) wurden Vizepräsidenten und konnten einige Ministerposten für sich
gewinnen. Die beiden kleineren Rebellenarmeen RCD-ML und RCD-N konnten immerhin
je zwei Ministerposten erlangen. Zwischen diesen Armeen sind die zwei Drittel der DRC
grob aufgeteilt, die nicht von der Regierung in Kinshasa kontrolliert werden können, und
aus ihnen soll die nationale Armee aufgebaut werden.
Zuletzt existieren noch kleinere Milizen, die sich eher spontan aus der allgemeinen
Militarisierung und Unsicherheit bildeten. Städte und Regionen stellen ihre eigenen
Selbstverteidigungsarmeen auf oder nach einem Massaker schließen sich die
Übriggebliebenen zusammen und bewaffnen sich, entweder um Rache zu üben, oder
einfach um am Leben zu bleiben, weil ihnen alles, was sie hatten, genommen wurde.
Massaker werden oft nach ethnischen Gesichtspunkten ausgeführt, um gezielt Rassenhass
zu schüren und neue Mobilisierungspotenziale zu erschließen.
Unter all dem leidet die Zivilbevölkerung unermesslich. Über zwei Millionen Menschen
sind auf der Flucht, hunderttausende Kindersoldaten wurden ihrer Kindheit beraubt und
Schätzungen zu Folge fast eine Millionen Frauen vergewaltigt, oft noch als Kinder. Dazu
kommt noch der Hunger, die Unterernährung, die etwa ein Drittel der Bevölkerung betrifft.
In einem Land mit fruchtbarem Boden und massenhaften Rohstoffen.
Eine passgenaue Mission
Vor allem die Geschwindigkeit, in der die EU-Mission Artemis realisiert wurde, ist
beeindruckend. Nach Absprachen zwischen Kofi Annan und der französischen Regierung
ersuchte der UN-Generalsekretär am 15. Mai offiziell den Sicherheitsrat, einer zeitlich
befristeten, multinationalen Notfall-Eingreiftruppe zuzustimmen. Am 19. Mai beschloss der
Europäische Rat, zu prüfen, ob solch eine Mission im Rahmen der ESVP (Europäische
Sicherheits- und Verteidigungspolitik) durchzuführen sei und die nötigen Ressourcen zur
Verfügung stünden. Erst damit wurde die Möglichkeit öffentlich, dass in der Region der
großen Seen ein erster autonomer militärischer Einsatz der EU stattfinden könnte und in
europäischen Medien wurde verstärkt über die humanitäre Lage und Massaker in der
Provinz Ituri berichtet. (Verstärkt wurde diese Aufmerksamkeit ab dem 3. Juni, als eine
„Informationskampagne“ durch den EU-Rat gestartet wurde.) Am 30. Mai dann
verabschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Resolution 1484 (2003), die
ein robustes, aber zeitlich bis zum 1. September 2003 begrenztes Mandat für die EUEingreiftruppe
beinhaltete und Aufgaben und Ziele des Einsatzes definierte. Fünf Tage
später werden die ersten französischen Soldaten in die DRC verlegt.
Die strategische Planung und die Abstimmungen im Europarat brauchten nur sechs Tage,
die anschließende operationelle Planung durch die Einsatzführung und den
Militärausschuss der EU wurde in weiteren sechs Tagen abgeschlossen und am 11. Juni
durch den Europarat bestätigt. Am folgenden Tag begann offiziell die EU-Mission Artemis.
Nachdem der deutsche Bundestag bereits am 6. Juli über eine Beteiligung diskutiert hatte,
beschloss er am 18. Juni eine Beteiligung am Einsatz mit 350 Soldaten, sowohl im
Planungs- und Führungszentrum in Paris als auch am einsatznahen Transportstützpunkt in
Entebbe (Uganda).
Die operationelle Planung der EU-Mission umfasste lediglich die ersten zwei von den zehn
Forderungen der UN-Resolution 1484. Die anderen acht Punkte richteten sich in erster
Linie an alle UN-Miglieder und zielten auf ein langfristiges Engagement der UN ab. Was
dadurch an Aufgabenstellung für die Mission Artemis übrig blieb, trägt eher die Züge eines
Manövers zu Übungszwecken denn die eines Einsatzes, der eine humanitäre Katastrophe
verhindern und die Lage stabilisieren soll. Aus dem Ziel, zur
„… Stabilisierung der
Sicherheitsbedingungen und zur Verbesserung der humanitären Lage in Bunia beizutragen,
den Schutz des Flughafens sowie der Binnenvertriebenen in den Lagern in Bunia zu
gewährleisten und, falls die Situation es erfordert, zur Sicherheit der Zivilbevölkerung, des Personals der Vereinten Nationen und der humanitären Helfer in der Stadt beizutragen“
und damit eine Verstärkung der MONUC-Kräfte durch die UN zu ermöglichen, wurde
folgender Einsatzplan [5]:
-
die sofortige Verlegung von Vorkommanden;
- die vorgestaffelte Verlegung von Spezialeinsatzkräften zur Aufklärung
und Erkundung;
- die Sicherstellung einer nahe gelegenen Einsatzbasis als Umschlagplatz
vom strategischen zum taktischen Lufttransport (Entebbe);
- die Sicherung des Flughafens Bunia als einzigen leistungsfähigen Port of
Debarkation (POD, wörtl. Ausschiffungshafen, hier sinngemäß
Eintrittsmöglichkeit in den Einsatzraum);
- die Sicherstellung einer Einsatzbasis im Einsatzraum;
- die Koordination der Einsatzführung mit der ebenfalls vor Ort
agierenden MONUC (Mission de l’Organisation des Nations Unies en
République démocratique du Congo);
- die Stabilisierung und Verbesserung der Sicherheitslage in und
unmittelbar um Bunia.
Die Operation umfasste drei afrikanische Staaten. Als logistischer Stützpunkt fungierte
Entebbe in Uganda, wo die meisten deutschen Soldaten stationiert waren, von Tschad aus
wurden Aufklärungsflüge gestartet und in Bunia (DRC) waren fast ausschließlich
französische Truppen damit beauftragt, den Flughafen zu sichern, Flüchtlingslager zu
schützen und in der Stadt für Ruhe zu sorgen. Die Vorhut bildeten dabei stets
Spezialeinheiten, die das Gelände sicherten und die Bevölkerung einschüchterten, bevor
reguläre Truppen die Spezialeinheiten ersetzten. Bevor die ersten EU-Soldaten in Bunia
landeten, wurde dennoch mit der vorrangig in Bunia aktiven Armee, der UPC des Thomas
Lubanga, vereinbart, dass sie die Stadt räumen würde. Im Umkreis von zehn Kilometern
wurde allen außer den EU- und UN- Soldaten verboten, Waffen zu tragen. Eigentlich hatte
die Stadt 300 000 Einwohner. Als die Europäer ankamen, waren noch knapp 90 000 da.
Während der Operation Artemis sind 25 000 zurückgekehrt und andere wiederum geflohen.
Vor allem nachts kam es vereinzelt zu Schusswechseln in der Stadt. In der Umgebung
sowieso, denn die aus der Stadt vertriebenen Soldaten zogen sich aufs Land zurück. Die
Bauern flohen vor ihnen in die Berge.
Nach knappen drei Monaten wurde die Mission planmäßig beendet, die gestärkte UNMission
MONUC, deren Soldaten hauptsächlich von Bangladesh, Nepal, Pakistan und
Indien bereitgestellt werden, übernahm wieder das Kommando in Bunia. Obwohl Kofi
Annan die EU-Staaten mehrfach darum bat, Soldaten für die UN-Mission beizusteuern,
verhalten sich die Regierungen hier wesentlich zurückhaltender, als wenn es um robuste
Kampfeinsätze unter eigener Flagge geht. Denn nach Abzug der EU-Soldaten verschwand
der weitere Verlauf des Konfliktes in der DRC schnell wieder aus dem Blick der
europäischen Öffentlichkeiten. Zum Glück der EU-Strategen, denn diese genierten sich in
der Folge nicht, die Operation Artemis als Erfolg zu bewerten und als Beweis für
kerneuropäische Führungskraft und militärische Unabhängigkeit:
„Deutschland und Frankreich begrüßen den Erfolg der Operation "Artemis" in der
Demokratischen Republik Kongo, der ersten eigenständig durchgeführten militärischen
Operation der Europäischen Union. Mit dieser Operation zur Stabilisierung und
Verbesserung der humanitären und Sicherheitslage in Bunia hat die Europäische Union
ihre politische und militärische Fähigkeit gezeigt, schnell und effizient auf eine
Krisensituation zu reagieren.“[6]
An der UN-Mission nehmen hingegen nur drei reguläre Soldaten aus Frankreich teil, das
zuvor immerhin Lead-Nation beim EU-Kampfeinsatz war und sich stets so besorgt um die
humanitäre Lage in der DRC gezeigt hat. Deutschland verweigert jegliche personelle
Unterstützung, während Tschechien (3), Belgien (7), England (6) und Frankreich (6)
gemeinsam immerhin 22 Militärbeobachter beisteuern. Kofi Annan schlug im Oktober
letzten Jahres vor, die MONUC-Mission angesichts neuer Eskalationen und der auf Juni
2005 angesetzten Wahlen auf knapp 24000 Soldaten aufzustocken, doch in seinem Entwurf
für die UN-Resolution 1565 korrigierte Frankreich die Zahl auf 16700 herunter und
Deutschland stimmte diesem Entwurf zu. Vor allem die EU-Staaten, die sich noch im Juni
2003 der UN zu einem robusten Kampfeinsatz geradezu aufdrängten und etwas von
humanitärer Verantwortung heuchelten, ziehen sich heute aus der Affäre, obwohl sie ihre
Aktivitäten von Juni bis September 2003 als vollen Erfolg bejubelten und ohne Verluste an
Menschenleben beenden konnten. Statt sich im Rahmen der UN zu engagieren, probt die EU mittlerweile zwei neue Interventionsformen in der DRC: Im Rahmen von EUPOL
KINSHASA bilden etwa 30 europäische Polizisten eine spezielle Polizeieinheit aus, die das
Warlord-Regime und die Institutionen des Übergangs schützen soll und unter dem
Missionsnamen EUSEC DR Congo sitzen "Militärberater" aus der EU an den Schaltstellen
der offiziellen Armee.
Tatsächlich hat Operation Artemis keine der fatalen politischen Kontinuitäten in der DRC
zu brechen vermocht und noch heute ist ein erfolgreicher Abschluss des Friedensprozesses
mehr als fraglich. Dazu war Artemis auch von Anfang an nicht angelegt. Dafür war sie zu
klein und zu begrenzt. Wenn die deutsche und französische Regierungen tatsächlich
glaubten, eine humanitäre Notlage mit einem militärischen Einsatz beenden zu können,
dann müssten sie die gegenwärtige UN-Mission nach Kräften unterstützen. Doch
offensichtlich ging es bei der Operation Artemis um etwas anderes.
6 Erklärung des Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrates. Berlin, 18.09.03
Je länger der Einsatz her ist, desto klarer schält sich der strategische Sinn der EU-Jungfern-
Mission aus seiner humanitären Schale. Artemis, benannt nach der jungfräulichen
griechischen Jagdgöttin, war ein Lehrstück und die „Geburtsstunde der europäischen
Sicherheitspolitik"[7], der praktische Beweis für die globale Handlungsfähigkeit der EU.
Joschka Fischer beendete sein Plädoyer für eine Beteiligung deutscher Soldaten im
Bundestag am 18.06.2003 vor der Abstimmung mit den Worten:
„Die Operation Artemis zeigt, dass sich die Europäische Union dieser Dimension bewusst
ist und dass sie in einer humanitären Notlage rasch und effektiv agieren kann. Die
Europäische Union beweist also, dass sie handlungsfähig ist, wenn die großen
Mitgliedstaaten zusammenarbeiten.“[8]
Tatsächlich ist die Geschwindigkeit, in der die Operation vorbereitet wurde, beeindruckend.
Doch bei näherer Betrachtung kann auch sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser
„Beweis“ eigentlich nur sich selbst beweist, dass Artemis nicht die spontane Reaktion auf
eine Krise war, sondern genau zu dem frühstmöglichen Zeitpunkt stattfand, wo sie möglich
war, ohne auf eine Überwindung der Krise ausgelegt zu sein, sondern lediglich auf die
Simulation eines Erfolges. Die EU hat ihr erstes Manöver im Feld erfolgreich absolviert,
ohne dass je ein Misserfolg gedroht hat, dafür waren die selbst gesteckten Ziele viel zu
niedrig angesetzt.
Die häufig bemängelten militärischen Transportkapazitäten der EU wurden überbrückt,
indem bis zur Großanschaffung der Airbus A310 russische Antonows AN-124 gemietet wurden. Bislang war der Mangel an Transportflugzeugen für schweres Gerät Grund dafür,
dass die EU-Staaten, v. a. Deutschland, auf NATO-Strukturen bzw. die USA angewiesen
waren, um schnelle und massive Kampfeinsätze im weiteren Ausland logistisch zu
bewerkstelligen. Es wäre dem EU-Rat sicherlich möglich gewesen, über die NATO USTransporter
anzufordern, aber er verzichtete diesmal bewusst auf diese Option und
signalisierte mit dem mieten russischer Maschinen vor allem auch gegenüber den USA vor
dem Hintergrund des mäßig erfolgreichen Krieges gegen den Irak Unabhängigkeit. In
verschiedenen nationalen Parlamenten wurde dieser Umstand von transatlantisch
orientierten Parteien kritisiert.
So war beispielsweise in Deutschland die parlamentarische Unterstützung für eine
militärische Beteiligung insgesamt hoch, doch während sich SPD und Grüne nahezu
geschlossen hinter den EU-Einsatz stellten, kritisierten vor allem Unionspolitiker das
transatlantische Säbelrasseln, dass nämlich eine Zusammenarbeit mit der NATO bei der
Operation Artemis nicht vorhergesehen war.
„Gescheiterte Staaten“ und „Neue Kriege“
Artemis wird von EU-Strategen und Politikern als das Vorbild zukünftiger Einsätze
gehandelt und auch in politikwissenschaftlichen Debatten spielt der Krieg in der DRC und
die europäische Operation heute eine wichtige Rolle, gilt doch die DRC geradezu als
Prototyp eines „failed states“ bzw. „gescheiterten Staates“. Solche gescheiterten Staaten
avancieren gerade neben dem Terrorismus zur primären Begründung militärischer Politik
und zum paradigmatischen Wahrnehmungsmuster außenpolitischer Strategen. Dies gilt vor
allem für den US-amerikanischen und den europäischen Machtblock, für die sog. „Erste
Welt“. Für die Staaten Nordamerikas und Westeuropas sind konventionelle Angriffe und
militärische Übergriffe durch feindliche Staaten gegenwärtig völlig unwahrscheinlich. Sie
waren bis zum Ende der Blockkonfrontation, neben einem Atomkrieg zwischen den
Blöcken, die vorrangige Bedrohung gewesen, auf die sich Militärstrategen einstellten und
die als Begründung für Aufrüstung und militärische Verteidigung generell benannt wurde.
Das bedeutendste strategische Szenario bestand darin, dass konventionelle Truppen der
UDSSR nach Westeuropa vorstoßen, und dementsprechende Verteidigungskapazitäten
wurden von westeuropäischen Staaten aufgebaut. Dieses Szenario ist in sich
zusammengefallen und seit dem wird von den Außen- und Militärstrategen aktiv ein neues
Bedrohungsszenario aufgebaut, in dessen Mittelpunkt mittlerweile „gescheiterte Staaten“
und „Neue Kriege“ stehen.
Aus der subjektiven Wahrnehmung, dass die eigenen Grenzen von keinen feindlichen
Armeen mehr bedroht sind und der objektiven Tatsache, dass im Verhältnis immer mehr
Kriege innerhalb von Staaten statt zwischen den Staaten ausgefochten werden, werden
Erstere zum neuen Paradigma europäischer und US-amerikanischer Strategen. So werden
verschiedene Regionen auf der Weltkarte ausgemacht, in denen staatliche Herrschaft nicht
(mehr) greift, innerstaatliche Konflikte schwelen oder, wie in der DRC, seit Jahren
Bürgerkriege wüten. Diese Konflikte haben oft längst ihre politischen Zielsetzungen
verloren, werden um ihrer selbst willen oder aufgrund ökonomischer Interessen immer
weiter geführt und von so vielfältigen Akteuren ausgefochten, dass ein einfacher
Friedensschluss nicht mehr möglich ist. Verfechtern von der These der „Neuen Kriege“
wird oft entgegengehalten, dass solche Kriege schon immer Realität gewesen seien oder
sich die o. g. Charakteristika auch in klassischen zwischenstaatlichen Kriegen finden
ließen. Dies verneinen jedoch auch die Protagonisten der „Neuen Kriege“ nicht, sie
schlagen nur vor, diese Charakteristika zu unterstreichen, sozusagen eine neue Brille
aufzusetzen, die staatliche Akteure und Geographien in den Hintergrund treten lassen und
statt dessen in erster Linie ein Wirrwar aggressiver Warlords und rachsüchtiger Milizen
zum Vorschein bringt. Dieser Vorschlag macht zwar Sinn, birgt aber die Gefahr, dass alles,
was jenseits der eigenen nationalstaatlichen Wirklichkeit stattfindet, als bedrohliches Chaos
wahrgenommen wird. Genau dies ist eingetreten, und der 11.9.2001 war die perfekte
Inszenierung dieser Angst. Seit dem gelten gescheiterte Staaten als Brutstätten des
Hauptfeindes liberaler Demokratien: des Terrorismus. Doch nicht nur der Ursprung des
Terrorismus wird in diese Regionen projiziert sondern von dort gehen in der Wahrnehmung
westlicher Politiker auch die anderen großen Probleme der internationalen Gemeinschaft
aus: Massenvernichtungswaffen, illegale Kleinwaffen und organisierte Kriminalität ebenso
wie Wirtschaftskrisen, Infektionskrankheiten und Umweltzerstörung. Und aufgrund der
sog. Globalisierung bedrohen diese Gefahren nicht nur die Menschen vor Ort, sondern
können täglich, in Sekundenbruchteilen, auch in konsolidierten Staaten Elend und
Verwüstung anrichten. Dies ist die neue, gewissermaßen postmoderne Bedrohungsanalyse,
die von europäischen und US-amerikanischen Eliten wohl weniger selbst geglaubt als
lauthals propagiert wird. Denn diese Bedrohungsanalyse provoziert eine
sicherheitspolitische oder auch moralische Verantwortung, die als Legitimation
interessengeleiteter militärischer und ziviler Interventionen funktioniert. Die gesamte Welt
ist Einsatzgebiet und wo immer die politischen Führer den eigenen wirtschaftlichen und
geopolitischen Interessen nicht entsprechen können oder wollen, wird Staatszerfall diagnostiziert und, bei entsprechendem Kosten-Nutzen Verhältnis, eingegriffen.
Diese Interventionen werden zunehmend, soweit sie militärisch ausgeführt werden, den
Charakter von Polizeimissionen haben. Das Militär wird nicht mehr in erster Linie die
Aufgabe haben, eine feindliche Armee niederzuringen und die gegnerische Hauptstadt zu
besetzen, sondern einzelne Enklaven zu sichern (Bunia), einzelne Menschen zu verhaften
(Osama bin Laden, Aidid), Rebellenhochburgen zu stürmen (Fallujah), Wahlen
abzuschirmen (Afghanistan) oder Milizen zu entwaffnen. Hier erkennen wir die oben
beschriebene Mission Artemis wieder: Eine Ad-hoc Koalition von EU-Staaten entsendet
eine Mission mit sehr spezifischem Auftrag, Elitesoldaten besetzen einzelne Punkte in der
Stadt und werden später abgelöst, die Aktion verläuft schnell und präzise und vor allem:
ohne negative Schlagzeilen und eigene Verluste. Artemis war nicht nur ein Beweis für die
militärische Führungs- und Handlungsfähigkeit Kerneuropas, sondern auch Übung im Feld.
Bis heute dauert die militärisch-strategische Auswertung der Mission an: was ist gut
gelaufen, wo fehlte es und welche Materialien müssen beschafft werden.
Dieser Übungscharakter der Mission wird verstärkt durch das Fehlen eines klaren
militärischen Ziels und somit der Möglichkeit eines Scheiterns. Offizieller Zweck der
Mission war es, die Lage in Bunia zu stabilisieren und eine Ablösung der UN-Soldaten zu
ermöglichen. Von Anfang an war klar, dass dies gelingen würde. Doch zukünftige
Missionen werden Funktionen erfüllen, die über politische Signale an USA und UNO
hinausgehen. Wie bereits erwähnt hatte Artemis keine langfristige Auswirkung auf die
Lage in der DRC, es wurde keine Miliz entwaffnet und kein Rebellenführer festgenommen.
Die Mission diente nicht einmal als Einfallstor europäischer Wirtschaftsinteressen wie einer
Beteiligung europäischer Firmen am Wiederaufbau oder der Sicherung von Schürfrechten
oder Transportwegen für die reichhaltigen Rohstoffe, wie es beispielsweise bei der Mission
im Sudan der Fall ist.
Die USA haben schon einige solcher neuartiger Missionen mit klarem militärischen Ziel
hinter sich, die zumeist kläglich gescheitert sind: In Somalia ist es nicht gelungen Aidid zu
verhaften, stattdessen zogen sich die USA nach Verlusten eigener Soldaten zurück, Osama
bin Laden konnte nicht verhaftet werden und die Zerstörung Fallujahs nicht von den
Medien abgeschirmt werden. Sie rief internationale Kritik hervor. Demgegenüber ist es der
EU mit Artemis und deren bescheidener Zielsetzung gelungen, eine „erfolgreiche“
Jungfernmission vorzuweisen und sich so den UN für weitere Missionen anzudienen, die
freilich nur umgesetzt werden, wenn sie politischen Interessen entsprechen.
Stattdessen!
Doch was wäre die richtige Mission gewesen, um den Krieg in der DRC zu beenden, die
Milizen aufzulösen und den Menschen in der Region der Großen Seen ein sicheres und
selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen? Unzählige Thinktanks in Europa und weltweit
setzen sich gegenwärtig mit der Lage in der DRC und, abstrahiert, mit den „Neuen
Kriegen“ auseinander. Jedoch ist zu beobachten, dass dabei ein staatszentrierter Ansatz
überwiegt (was natürlich mit der Vergabe staatlicher Fördermittel zusammenhängt), dass
dadurch auch militärische Lösungsansätze überwiegen und kontinuierlich die
Hauptursachen für das Anhalten der militärischen Auseinandersetzung ignoriert werden.
Eine der beiden Hauptursachen ist mittlerweile klar benannt. Eine von den UN eingesetzte
Expertenkommission [9] untersuchte über drei Jahre die illegale Ausbeutung von Rohstoffen
und anderen Gütern in der DRC und kam zu dem Schluss, dass der Kampf um Rohstoffe
und persönliche Bereicherung der Politiker und Warlords zum „Ziel“ des Bürgerkrieges
geworden ist und somit keine der beteiligten Eliten ein Interesse an dessen Beendigung hat.
Klar benannt wurden auch die ausländischen Profiteure des Bürgerkrieges. Die
Expertenkommission benannte 85 Firmen aus aller Welt, die in der DRC gegen die OECDRichtlinien
für multinationale Unternehmen verstoßen haben und eine Mitschuld am
Andauern des Konfliktes tragen. Für 29 Konzerne werden explizit finanzielle Sanktionen
empfohlen, um sie zu zwingen, ihre Beteiligung an der Kriegsökonomie zu beenden. Bei
diesen insgesamt 114 transnationalen Konzernen handelt es sich hauptsächlich um
Minenunternehmen, Spediteure, Rohstoffhändler und -verarbeiter, Banken und Fluglinien.
Etwa die Hälfte von ihnen haben ihren Firmensitz in einem der Staaten, die sich an Artemis
beteiligt haben. Der Konflikt ließe sich förmlich austrocknen, würden die Kriegsherren in
der DRC keine finanzstarken Abnehmer mehr für ihre Waren finden. Doch offensichtlich
besteht daran von Seiten der Regierungen, die bereit sind, sich kurzfristig als zusätzliche
militärische Partei in den Konflikt einzubringen, kein Interesse. Denn diese behelligten ihre
ansässigen Unternehmen eben so wenig, wie die westlichen Produzenten derer Waffen, mit
denen in der DRC die Zivilbevölkerung terrorisiert wird. Diese namentlich benannten
Firmen bilden jedoch nur die Spitze des Eisberges und verweisen auf einen größeren
Zusammenhang, der sich beispielhaft am Mineral Coltan aufzeigen lässt. Coltan ist ein
Mineral, das seit einigen Jahren für die High-Tech-Industrie von immenser Bedeutung ist,
denn es enthält Metalle, die sich aufgrund ihrer natürlichen Eigenschaften hervorragend für die Herstellung kleinster Kondensatoren eignen, aber auch für Raketen und Atomreaktoren
von großer Bedeutung sind. Schätzungen zufolge liegen 80% aller weltweiten Vorkommen
von Coltan auf dem Gebiet der DRC. Der Boom der Handy- und Mikroelektronik-Branche
seit dem Jahr 2000 hängt in doppelter Weise mit dem Anhalten des Krieges in der DRC
zusammen. Erstens sorgte die ungemeine Nachfrage der High-Tech-Industrie für ein
zusätzliches Potenzial für die Finanzierung der kämpfenden Parteien in der DRC und
verschärfte damit die militärischen Aktivitäten der Armeen und Milizen, die neu
entstehende Minen unter ihre Kontrolle bringen wollten. Zweitens wäre der Boom dieser
Industrie, der ungemeine Profite abwirft und einen ungeheuren Überfluss an Elektroschrott
verursacht, in diesem Ausmaß gar nicht möglich gewesen, wenn die Menschen in der DRC
von ihrem quasi-Monopol auf Coltan entsprechende Gewinne hätten abschöpfen können
und sich auf dem Weltmarkt durch knappes Angebot und hohe Nachfrage ein
entsprechender Preis gebildet hätte. Aber im Kontext eines Bürgerkriegs, dessen
vorrangiger Zweck die Ausbeutung von Rohstoffen und die kurzfristige Mega-
Bereicherung kleiner Eliten von Warlords, Politikern und Großkapitalisten ist, wird
abgebaut, soviel geht, zu den geringsten Preisen verkauft, die Erträge aus zivilen Minen
einfach geklaut und die Arbeiter oft ohne Entgelt zum Arbeiten gezwungen. Ein Teil der
Gewinne wird sofort in neue Waffen investiert, die in der DRC zu einer Art Kapital
geworden sind, das nötig ist, um sich die Arbeit anderer zunutze zu machen. Der Krieg am
Congo ist also in gewisser Weise Voraussetzung für eine spezifische Entwicklungsphase
des hoch entwickelten Kapitalismus und dafür, dass hierzulande bald jedeR ein Handy und
jedeR Dritte einen Laptop besitzt. Zugleich ist die Nachfrage nach diesen Gütern, die wohl
keineswegs lebenswichtig sind, eine der wichtigsten Voraussetzung für das Anhalten des
Krieges und das Leiden der Zivilbevölkerung in der DRC. Dasselbe gilt für die anderen
Rohstoffe und Güter, die zur Finanzierung des Bürgerkrieges beitragen: Gold, Diamanten,
Tropenhölzer. Besonders zynisch ist, dass es sich hierbei um Luxusgüter handelt, die sich
in den kapitalistischen Metropolen akkumulieren, von denen aus wiederum die Waffen in
die DRC fließen. Dieser nahezu ungehemmte Waffenstrom ist neben der Finanzierung des
Krieges durch Rohstoffausbeutung und westliche Nachfrage die zweite Hauptursache für
das Anhalten des Konfliktes. Er ist keineswegs selbstverständlich oder alternativlos. Doch
Regierungen, die in der menschlichen Katastrophe am Congo lediglich eine Chance für
militärische Profilierung sehen, werden nicht damit anfangen, ihre milliardenschweren
Beihilfen für die Rüstungsindustrie einzustellen, abzurüsten und ihren militärischindustriellen
Komplex aufzulösen. Genau dies wäre aber eine wichtige Voraussetzung, um die Gefahr, die von sog. „gescheiterten Staaten“ nach innen und außen ausgeht, langfristig
einzudämmen.
Offensichtlich ist die internationale Gemeinschaft aber nicht bereit, strukturell gegen die
Ursachen und Triebfedern der „Neuen Kriege“ vorzugehen. Es liegt auf der Hand, dass eine
wirksame Prävention solcher Konflikte darin besteht, deren wirtschaftliche
Voraussetzungen zu unterbinden und die Verfügbarkeit an Waffen zu reduzieren. Das
Gegenteil ist aber der Fall, die Staaten protegieren ihre global tätigen Unternehmen und
bauen gezielt die Rüstungsindustrie aus. Die wirtschaftliche Systematik, die dazu führt,
dass sich die Reichtümer in den kapitalistischen Metropolen ins unermessliche
Akkumulieren, während dort, wo sie entstehen bzw. abgebaut werden, Elend und
Unsicherheit ausbreiten, wird von ihnen forciert, und zwar, wenn nötig: militärisch, unter
dem Vorwand, eine humanitäre Katastrophe zu verhindern, die in früheren imperialen
Feldzügen ihren Ursprung genommen hat.
Insofern repräsentiert die Lage in der DRC auch das, wozu Kapitalismus führt, wenn er sich
ungebremst entfalten kann und militärisch flankiert wird. Sie zeigt zugleich, dass
Kapitalismus militärisch durchgesetzt wurde und keine Zwangsläufigkeit darstellt. Bereits
auf den ersten kolonialen Expeditionen waren Soldaten und Händler gemeinsam unterwegs.
Was damals Zivilisierung und Missionierung war, sind heute zivil-militärische humanitäre
Einsätze. Die kolonialen Staaten ermöglichten ihrem Kapital stets die Ausdehnung und
Unterwerfung neuer Gebiete, politisch und militärisch. Nun, wo der Kapitalismus sich
global ausgedehnt hat, territorial an seine vorerst letzte Schranke gestoßen ist, werden in
seiner neuen, modernisierten Form - dem Neoliberalismus - neue soziale Räume
erschlossen, die bisher verschont wurden. Den Bedeutungsverlust, der den Staaten durch
den Rückzug aus den sozialen Bereichen und der Grundversorgung droht, versuchen sie
durch Mondflüge, verschärfte Repression und verstärktes militärisches Engagement zu
kompensieren. In einer Zeit, in der auch in den kapitalistischen Metropolen den Menschen
ihre soziale Sicherheit entrissen wird, wird eben unter dem Schlagwort „Sicherheit“ eine
neokoloniale Außenpolitik betrieben, bei der die globale militärische Konkurrenz ebenso
zunimmt, wie die wirtschaftliche Rivalität unter den Menschen. Deshalb sollte sowohl der
in Europa stattfindende Sozialabbau als auch der Blick auf Zentralafrika, wo der
Kapitalismus seit Generationen nur Zerstörung anrichtet, auch als warnende Vision einer
globalen Zukunft dazu anregen, das kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem in
Frage zu stellen. Seinem Prinzip der Konkurrenz, des Gegeneinander, ist das Soziale, das
Miteinander entgegenzustellen.
Aber auch im globalen kapitalistischen Kontext gibt es Möglichkeiten, diejenigen Firmen
zu sanktionieren, die an der Fortfinanzierung des Bürgerkrieges beteiligt sind. Die
mächtigsten Instrumente dafür stehen natürlich den Regierungen zur Verfügung die aber im
Gegenteil ein Interesse an einer leistungsfähigen und effektiven High-Tech- und
Sicherheitsindustrie haben. Deshalb sollten sich weltweit die Menschen, die mit der Lage in
der DRC nicht einverstanden sind, über die Verwicklungen von Unternehmen informieren
und ihr Konsumverhalten in diesem Kontext hinterfragen. Einige öffentliche Kampagnen
sind hier bereits sehr erfolgreich verlaufen. In Deutschland sah sich die im Coltan-Handel
nach eigenen Angaben führende Bayer-Tochter H.C. Starck immenser Kritik ausgesetzt,
nachdem sie von der UN-Expertengruppe mit dem Bürgerkrieg in Verbindung gebracht
wurden [10]. Mehrfach mussten sie versichern, aus dem Handel mit „Blut-Coltan“
ausgestiegen zu sein und seit dem wird dies von Pax Christi und globalisierungskritischen
Initiativen akribisch überprüft. Weitere deutsche Firmen sahen sich Kritik ausgesetzt, wie
beispielsweise die Fa. Masingiro GmbH (Burgthann) und der Anlagenbauer COMETEC
(Linsengericht).[11] In Belgien wurde die Fluglinie Sabena boykottiert und hat daraufhin ihre
Transportflüge in und aus dem Congo eingestellt.
Eine andere Möglichkeit positiv auf die Lage in der DRC einzuwirken besteht darin,
Kontakt mit denen aufzunehmen, die selbst im Bürgerkrieg eine militärische Beteiligung
und persönliche Bereicherung stets abgelehnt haben und stattdessen versuchen solidarische
Strukturen aufrecht zu erhalten oder aufzubauen [12]. Während Pax Christi oder kleinere
NGOs wie Dialog International hier kontinuierliche Arbeit leisten, sind staatliche Akteure
für diese Bestrebungen blind und kooperieren lieber mit den alten Eliten, die für das
Anhalten des Konfliktes (mit)verantwortlich sind und aus ihren Kontakten zu westlichen
Politikern einen Teil ihrer innenpolitischen Macht schöpfen. So erhält die ruandische
Regierung seit Jahren mit die größten Summen aus der deutschen Entwicklungshilfe,
obwohl die ruandische Armee mehrfach in die DRC eingedrungen ist, um sich am
Rohstoffhandel zu beteiligen und kontinuierlich an der Destabilisierung der Region
beteiligt ist. Mit diesen Eliten ist kein Staat zu machen, und ob nationalstaatliche Strukturen
die beste Möglichkeit sind, Zusammenleben und Güteraustausch zu organisieren, muss angesichts des chronischen Scheiterns dieses Konzeptes ebenfalls in Frage gestellt werden.
Wie die Menschen ihr Zusammenleben und die Güterproduktion organisieren, müssen sie
selbst entwickeln und dabei sollten jene unterstützt werden, die selbst im Bürgerkrieg nicht
nur nach politischer Macht und ökonomischer Bereicherung strebten.
All dies wird natürlich nicht unmittelbar dazu führen, dass die Waffen sofort aus der DRC
verschwinden und die Vergewaltigungen aufhören. Deshalb meinen viele, militärische
„Abrüstungsmaßnahmen“ und die Reintegration der Milizen in eine staatliche Armee,
geführt von einer korrupten Elite, wäre im Moment auch für die Menschen am Congo die
beste Lösung. Doch genau das stimmt nicht: Solche UN- oder EU-geführten Missionen
sorgen zunächst dazu, dass mehr Waffen im Land sind und eine zusätzliche Partei in den
Konflikt eintritt. Sie stärken auch militärische und staatszentrierte Organisationen
gegenüber zivilen Bestrebungen und halten als Argument her, aufzurüsten und die
Rüstungsindustrie aufzublähen. Stattdessen muss auf eine langfristige Verbesserung der
globalen Verhältnisse abgezielt werden. Durch internationale Solidarität, fairen Austausch
von Waren und bewussten Konsum, durch eine radikale Abrüstung und die Entmachtung
globaler militärischer und miltaristischer Eliten!
Anmerkungen-
Joseph Conrad: Heart of Darkness, Erstveröffentlichung: Blackwood's Magazine 1899
- Adam Hochschild: Schatten über dem Kongo, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1999
- Ansprenger, Franz: „Geschichte Afrikas“, C.H. Beck, München 2002
- Jef Van Bilsen, "Kongo, 1945-1965: het einde van een kolonie", Leuven 1993
- Major Kurt Radner: "ARTEMIS" - die EU-Mission im Kongo, in: Bundesministeriums für
Landesverteidigung, Zeitschrift Truppendienst - Folge 274, Ausgabe 1/2004
- Erklärung des Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrates. Berlin, 18.09.03
- So bezeichnete sie euphorisch die fanzösische Verteidigungsministerin Alliot-Marie.
- http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/ausgabe_archiv?archiv_id=4636
- Final report of the Panel of Experts on the Illegal Exploitation of Natural Resources and Other Forms of
Wealth of DR Congo
- medico international, Pax Christi u.A.: Was hat mein Handy mit dem Krieg im Kongo zu tun? –
Rohstoffausbeutung und Krieg in Afrika (http://kongo.paxchristi.de/downloads/mi-coltan_it_v004.pdf), aber
auch: FTD vom 23.8.2001: Mit illegalen Rohstoffhandel finanzieren Rebellengruppen ihre Kriege oder: FTD
vom 29.8.2001: Bayer: Der Teufelskreis
- Pax Christi Kommission „Solidarität mit Zentralafrika“ - Rundbrief 4 (7/2002)
- Connection e.V., Antimilitaristischen Angolanischen Menschenrechtsinitiative e.V. (HG): "Das andere
Afrika: Widerstand gegen Krieg, Korruption und Unterdrückung"
Herausgeber der IMI-Studie 2005/04 "Artemis am Congo" ist die Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
Adresse: Hechinger Str. 203, 72074 Tübingen;
www.imi-online.de, e-mail: imi@imionline.de
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