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Kolumbiens vergessene Katastrophe

Ungewöhnliche Wassermassen machen dem südamerikanischen Land seit Monaten zu schaffen

Von Knut Henkel *

Kolumbien leidet seit Monaten unter Überschwemmungen. Besonders betroffen ist der Süden des Verwaltungsbezirks Córdoba. Für die Betroffenen wurde zwar landesweit Geld gesammelt, doch in vielen Regionen ist kaum etwas angekommen. Exemplarisch ist das kleine Dorf Sincelejito.

Der Bug des schwer bepackten Bootes bohrt sich langsam in den Uferschlick, wo bereits mehrere einfache Boote liegen. Extrem wenig Tiefgang haben die Canoas, die Kanus, die in der Ciénaga von Ayapel, einer einzigen Seelandschaft im Norden Kolumbiens unterwegs sind. Dort steht der Wasserpegel seit Monaten so hoch, dass viele Menschen in der Region eine zweite Ebene in ihre Häuser eingezogen haben und sozusagen über dem Wasser leben. Wie in dem kleinen Dorf Sincelejito, wo endlich Hilfe ankommt, freut sich Rugero Manuel Avila.

Der 65-Jährige sitzt gemeinsam mit José Achipo López unter einem Baum und wartet wie viele andere darauf, dass die Säcke mit den Lebensmitteln, die das große Boot gebracht hat, verteilt werden.

»Unsere Situation ist verheerend, denn die meisten haben ihre Ernte verloren, kein Saatgut mehr und auch viele Obstbäume sind kaputtgegangen. Obendrein steigt der Pegel immer noch. Was sollen wir machen? Wir sind auf Hilfe angewiesen«, schildert der Bauer die Situation. Doch trotz aller Versprechungen bleiben die groß angekündigten Hilfsprogramme von staatlicher Seite in Sincelejito aus.

Das bestätigt auch Padre Javier Márquez von der Diözese Montelibánon, der bereits zum dritten Mal in der Region ist und Hilfsgüter der deutschen Diakonie Katastrophenhilfe verteilt. »Mindestens 50 000 Familien leben hier im natürlichen Schwemmland des Río Cauca und des San Jorge. Hochwasser ist relativ normal in der Region, aber das Ausmaß der Überschwemmungen hat ein nie dagewesenes Ausmaß«, erklärt der Geistliche.

Die Region rund um die kleine Provinzstadt Ayapel steht seit Dezember 2010 unter Wasser. Zuvor sorgten die Niederschläge bereits dafür, dass der Río Cauca an vielen Orten über die Ufer trat. Dann folgte die Katastrophe, denn ein Damm am Río Magdalena, dem größten Fluss des Landes, wurde auf einer Länge von 214 Metern weggespült. Das sorgte für einen gigantischen Rückstau in die Schwemmgebiete und seitdem leben die Menschen dort unter unbeschreiblichen Bedingungen.

Zwar hat die Regierung Hilfe versprochen und es wurden auch viele Millionen US-Dollar gespendet. »Doch die Dimension der Katastrophe ist in Kolumbien kaum bekannt«, erklärte Anfang Mai Everardo Murillo, Beauftragter für die Flutkatastrophe. Javier Márquez bestätigt das. Doch der streitbare Padre appelliert auch an die Menschen. Er rät den Leuten, genau zu überlegen, für wen sie bei den Regionalwahlen im Oktober stimmen. Korruption und die Selbstbedienungsmentalität in den Amtsstuben macht er dafür verantwortlich, dass nur ein Bruchteil der Hilfe für die Flutopfer ankommt. »Die Acción Social hat sich hier bisher nicht gezeigt«, ärgert sich Rugero Manuel Avila und fährt sich mit der schwieligen Hand über den Schnurrbart. Das soll sich in den nächsten Monaten ändern, sagt Murillo, der einen guten Ruf als »Zar des Wiederaufbaus« genießt, weil er Ende der 90er Jahre den Wiederaufbau in der erdbebenverwüsteten Kaffeezone des Landes organisierte. Nun soll er die Überschwemmungen in den Griff bekommen. Das begrüßt auch Padre Márquez, denn wichtig ist, dass die Katastrophe wahrgenommen wird. In Sincelejito hat die Verteilung der Lebensmittelsäcke gerade begonnen. Rugero Manuel Avila hat seinen Sack geschultert und steuert auf sein Boot zu, um nach Hause zu fahren.

* Aus: Neues Deutschland, 9. Juni 2011


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