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Trommeln gegen die Logik der Gewalt

In Kolumbien stellen Jugendliche Kulturprojekte zur Befriedung ihres Stadtteils auf die Beine

Von Knut Henkel, Medellín *

Die Comuna 13 gilt als das gefährlichste Stadtviertel Medellíns.Organisierte Banden, Paramilitärs und die Guerilla treiben in der kolumbianischen Metropole ihr Unwesen. Jugendliche wollen mit Theater, Tanz und Musik den Kreislauf der Gewalt durchbrechen.

Jaison steht am Fenster des Übungsraumes und schaut den Halbwüchsigen drinnen zu, wie sie an der Choreografie einer Tanznummer feilen. »Eso es«, das ist es, ruft er lachend und klatscht der Gruppe Beifall. Der 16-Jährige mit den raspelkurzen Haaren und der grünen Kapuzenjacke vertreibt sich die Zeit, denn sein Trommelunterricht beginnt erst in einer Stunde. Zudem entleeren sich gerade die Regenwolken über Medellín. Unter dem Vordach der Terrasse des Kulturzentrums steht Jaison im Trockenen. Ansonsten traut sich jetzt kaum jemand vor die Tür in der von windschiefen Backsteinbauten dominierten Comuna 13. Die Häuser krallen sich förmlich in die Berge, die den Talkessel begrenzen, in dem Medellín liegt. Von hier oben hat man einen fantastischen Ausblick über die zweitgrößte Stadt Kolumbiens inmitten der Anden.

Medellín ist eine prosperierende Stadt, die vom Handel lebt, und Hauptstadt eines der größten Verwaltungsbezirke des südamerikanischen Landes namens Antioquia. Die Bewohner, auch Paisas genannt, sind bekannt dafür, dass sie freundlich, fleißig, zielstrebig sind, aber auch cholerisch und rechthaberisch sein können. Jeden Tag kommen in der Drei-Millionenmetropole Flüchtlinge aus allen Landesteilen an. Jaison ist einer von ihnen. Aus dem Chocó, der im Norden an Panama grenzenden, von Wasserstraßen durchzogenen Regenwaldregion stammt seine Familie. Aufgewachsen ist er hier in »Nuevo Conquistadores«, einem der Stadtviertel der weitläufigen Comuna 13. Mehr als 120 000 Menschen leben in dem Bezirk, der wie ein Teppich aus Backstein, Wellblech und Holz die einst grünen Hügel überzieht. »Neue Eroberer« hat sich das Viertel getauft, das von Treppen und Trampelpfaden geprägt ist und förmlich über der Stadt thront. Auf die blickt man auch von der schmalen Terrasse des Kulturzentrums Son Batá hinunter. Schon von weitem fällt das gelb, rot, grün und schwarz gestrichene Gebäude zwischen den unverputzten Backsteinbauten ins Auge. »Son Batá« steht in dicken gelb-orange-farbenen Lettern unter einem Fenster, darunter etwas kleiner der Schriftzug »Mi Palenque«.

Erhalt der Kultur der Afrokolumbianer

Palenque hießen die Wehrdörfer entlaufener Sklaven, die einst an der Karibik- und der Pazifikküste Kolumbiens in großer Zahl entstanden. »Heute sind diese Dörfer Orte, wo die afrokolumbianische Kultur gepflegt wird«, erklärt Jaison. Auch in dem kleinen Kulturzentrum mitten in der Comuna 13 können Kinder und Jugendliche lernen, was zu Hause kaum mehr eine Rolle spielt. Die Trommel zu schlagen, auf der Marimba zu spielen, in einer Chirimía-Kapelle mitzumachen oder die Theaterbühne zu erobern. Jaison hat das Trommeln für sich entdeckt. »Die Musik setzt positive Energie in mir frei«, erklärt der drahtige Halbwüchsige. Seit drei Jahren spielt er in einer Chirimía, dem klassischen Musik-Ensemble des Chocó. Mehrere seiner Freunde aus »Nuevo Conquistadores« sind ebenfalls dabei. Auftritte im Viertel und auch darüber hinaus gibt es regelmäßig - darum kümmert sich sein Bruder Carlos Alberto Sánchez alias Nene.

Der 24-Jährige mit den dicken Brillantohrsteckern ist einer der drei Gründer von Son Batá und koordiniert die Aktivitäten des Kulturzentrums. Gerade ist er aus einem höher gelegenen Haus gekommen, um den Proberaum zu öffnen. Da stehen die Marimba, das hölzerne Xylophon, die Tamburine, die Trommeln. Klarinetten, Posaunen und Trompeten hängen an den Wänden des Musikraums, wo täglich unterrichtet wird. 80 Kinder und Jugendliche sind es derzeit, die hier lernen, Instrumente zu spielen, 150 weitere an zwei weiteren Standorten in der Comuna 13.

Vor sechs Jahren haben Nene und seine beiden Mitstreiter, John Jaime Sánchez und Freddy Asprilla, begonnen, das Kulturprojekt aufzubauen. Damals sind die drei durch das Viertel gezogen und haben Musik gemacht. Kinder und Jugendliche folgten den Rappern wie die Motten dem Licht und so begannen sie, den Kids das Rappen beizubringen und auf Instrumenten zu spielen, zu tanzen, die eigene Kreativität zu entdecken. »Mit ein paar Spenden von christlichen Organisationen haben wir die ersten Instrumente gekauft«, erinnert sich Nene. So nahm ein Projekt seinen Lauf, das gekonnt auf sich aufmerksam macht. An den Schulen der Comuna 13 präsentieren Nene und seine Kollegen regelmäßig ihre Arbeit. Auch die Stadtverwaltung von Medellín hat mittlerweile mitbekommen, dass in der Comuna 13 ein Projekt läuft, das auch in anderen Stadtvierteln funktionieren könnte. Das pompöse Rathaus ist nur eine knappe halbe Stunde Fahrtzeit von der Comuna 13 entfernt, doch das Leben im Tal mit den Museen und Einkaufszentren ist völlig anders als jenes zwischen den Hügeln. »Hier oben herrschen andere Gesetze und wir versuchen mit unserer Arbeit dem Kreislauf der Gewalt etwas entgegenzusetzen«, schildert Nene das zentrale Ziel des Kulturprojekts.

Kein Nachwuchs für den Krieg

Dabei wird an die eigene Kultur angeknüpft - die afrokolumbianische. »Nuevo Conquistadores« ist ein schwarzes Viertel und über schwarze Kultur lässt sich bei Son Batá einiges lernen. »Die eigene Identität entdecken, erkennen, wo die Wurzeln liegen und was die Kultur ausmacht, das ist die Basis, um Kinder und Jugendliche vor der Rekrutierung durch Banden und bewaffnete Akteure zu bewahren«, erklärt John Jaime Sánchez. Schon früh werden Kinder im Austausch für ein paar Peso für Botendienste eingesetzt, später für das Wachestehen und irgendwann reihen sie sich bei den minderjährigen Kämpfern ein. Alltag in Kolumbien, wo die Jugendarbeitslosigkeit extrem hoch ist und die Zukunftsperspektiven alles andere als rosig sind.

In der Comuna 13 ist die Situation noch prekärer, weil der Bezirk strategische Bedeutung als Korridor für den Waffen- und Kokainschmuggel hat. Mit der Förderung der eigenen Kultur will Son Batá dem vor allem nachts ausgetragenen Krieg den Nachwuchs rauben, wie es John Jaime Sánchez nennt. Er ist bei Son Batá für die künstlerische Ausrichtung verantwortlich und sitzt derzeit regelmäßig an den Reglern, um die erste CD von Son Batá im kleinen Studio über dem Kulturzentrum einzuspielen - den Soundtrack zum Ausbruch aus dem Kreislauf der Gewalt. Dabei hat das Kulturprojekt mittlerweile beachtliche Unterstützung.

Dazu beigetragen haben Aktionen wie der alljährliche pazifistische Neujahrs-Musikmarsch durch die Comuna, aber auch das Konzert vom 21. September vergangenen Jahres anlässlich des weltweiten Tages des Friedens. Kolumbiens Superstar Juanes trat gemeinsam mit der Rockband Doctor Krápula vor mindestens 10 000 Menschen in der Comuna 13 auf. Landesweit wurde über Son Batá berichtet. In diesem Jahr hat es keine vergleichbare Veranstaltung gegeben, weil die Stadtverwaltung, die das Projekt nun mitfinanziert, von derartigen Großevents wenig halte, sagt Nene.

Spenden und Anerkennung von den Behörden

Stolz ist er trotzdem. Denn niemand hätte es dem kleinen Kulturverein zugetraut, ein derartiges Ereignis auf die Beine zu stellen. Allerdings war der friedliche Tag im Zeichen der Musik auch ein Tag des Gedenkens - an Andrés Medina. Der Musiklehrer von Son Batá wurde Anfang Juli 2010 erschossen. Versehentlich, wie es später hieß.

Diesen Teil der harten Realität in der Comuna 13 will Son Batá verändern. Dabei helfen nicht nur Spenden, wie von der Schweizer Vertretung für Instrumente und die Studioausrüstung, sondern auch die Beachtung durch die nationalen Kulturinstitute. Sie wollen das Beispiel von Son Batá auf andere Regionen und Stadtteile übertragen, sagt Nene. Er studiert mittlerweile Musik und Englisch. Die Gewalt hat er hinter sich gelassen. Die Saat könnte auch bei Jaison aufgehen. Er sitzt inzwischen an den Trommeln im Übungsraum und wartet auf seinen Lehrer.

* Aus: neues deutschland, 8. November 2011


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