Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Diskussion über soziale Probleme gilt als Terrorismus"

In Kolumbien wurden allein in der ersten Hälfte dieses Jahres 270675 Menschen durch Paramilitärs vertrieben. Ein Gespräch mit Yenly Mendez

Yenly Mendez ist Rechtsanwältin in dem kolumbianischen Anwalts­kollektiv ­»Humanidad Vigente« (Wirksame Menschlichkeit) *



In Kolumbien werden pro Tag durchschnittlich 1500 Menschen aus ihrem Dorf oder Wohnviertel vertrieben. Allein im ersten Halbjahr 2008 ist die Zahl der Vertriebenen um 41 Prozent auf 270 675 angestiegen. Wie kommt es dazu?

Die Vertreibungen gibt es seit 40 Jahren, sie sind immer mit Gewalt verbunden. Sowohl die sozialen Probleme als auch der Bürgerkrieg haben sich verschärft – obwohl die gegenwärtige Regierung mit Zahlen nachzuweisen versucht, daß sich die Situation gebessert hat. Das Gegenteil ist richtig: In ihrer Amtszeit haben die Menschenrechtsverletzungen zugenommen.

Nach einem Bericht sozialer Organisationen gab es seit dem Regierungsantritt von Alvaro Uribe vor sechs Jahren 1122 willkürliche Erschießungen durch staatliche Sicherheitskräfte. Um Rohstoffe nutzen zu können, werden Großprojekte gnadenlos durchgezogen. Und wenn die Bewohner dieser Zonen dabei stören, werden sie eben vertrieben. Ein Beispiel dafür ist ein Goldbergwerk am Mittellauf des Magdalenaflusses, das mit Kapital aus Südafrika betrieben wird. Anderswo geht es um Staudämme für den Betrieb von Krafwerken oder um große Ländereien, auf denen Pflanzen für Agrotreibstoffe angebaut werden.

Menschen, die zur sozialen Opposition zählen, erhalten Drohbriefe, immer wieder wird jemand ermordet. Die Leute haben Angst, denn diese Drohungen werden auch umgesetzt. Offizielle Erklärungen der Regierung, die Menschenrechtsorganisationen seien Verbündete der Guerilla, ermutigen die paramilitärischen Banden zu weiteren Gewalttaten.

Wen trifft die Gewalt vor allem?

In diesem Jahr haben Verbände, die die Opfer von Menschenrechtsverletzungen vertreten, eine große Demonstration organisiert. Anschließend gab es Morddrohungen gegen die Sprecher dieser Verbände, einige von ihnen wurden umgebracht. Der Geheimdienst kriminalisiert darüber hinaus Studenten, die sich an den Universitäten organisiert haben, mit der Behauptung, sie seien Unterstützer der Guerilla-Truppe FARC. Auf diese Weise sollen Proteste erstickt und Kritik an der Regierung unterdrückt werden. Jeder Versuch, eine Diskussion über die gravierenden sozialen Probleme zu führen, wird mit dem Terrorismus in Verbindung gebracht.

Welche Rolle spielt die Wirtschaft dabei?

Die kolumbianische Regierung vertritt die wirtschaftlichen Interessen der USA. Priorität hat beispielsweise die ungehinderte Umsetzung des Freihandelsabkommens. Dazu gehört, auf den internationalen Märkten mit Rohstoffen präsent zu sein. Verträge und Abkommen auch mit europäischen Unternehmen werden gefördert und militärisch abgesichert. Die Politik der nationalen Sicherheit orientiert sich ausschließlich an den Interessen der Unternehmer, andere, vor allem die der ärmeren Leute, spielen keine Rolle.

Wer ist für diesen Terror gegen die Bevölkerung verantwortlich?

Gründer der paramilitärischen Gruppen waren Großgrundbesitzer – die ziehen auch heute noch die Fäden. Verantwortlich sind zudem staatliche Sicherheitskräfte sowie die Regierung. Gegen 63 Parlamentsabgeordnete der Regierungsparteien laufen zur Zeit Gerichtsverfahren wegen aktiver Unterstützung von Paramilitärs. Einer ihrer wichtigsten Führer, Salvatore Mancuso, hat zugegeben, daß seine Truppen sogar vom Vizepräsidenten und vom Verteidigungsminister unterstützt werden. Weil Präsident Uribe auf den Obersten Gerichtshof Druck ausgeübt hat, wurde gegen sie aber kein Verfahren eröffnet. Bisher wurden lediglich einige Abgeordnete verurteilt, ein früherer Chef des Geheimdienstes sowie einige Bürgermeister.

Interview: Gitta Düperthal

* Aus: junge Welt, 11. Oktober 2008


Zurück zur Kolumbien-Seite

Zurück zur Homepage