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"Nordirland ist ein Vorbild"

Davíd Flórez über die bevorstehenden Friedensverhandlungen in Kolumbien


Davíd Flórez ist Mitglied der linken Sammelbewegung Marcha Patriótica (Patriotischer Marsch) in Kolumbien. Das Bündnis vereint rund 2000 bäuerliche, studentische, indigene und gewerkschaftliche Organisationen des Landes. Über die anstehenden Friedensverhandlungen befragte ihnfür »nd« David Graaff.


nd: Wie bewerten Sie die zwischen Regierung und Guerilla vereinbarten Friedensverhandlungen?

Flórez: Zunächst ist das eine große Freude. Wir sehen das auch als Resultat der Bemühungen der Marcha Patriótica (MP), die seit Jahren ein Ende des Konflikts fordert. Nun aber gilt es, auf diesen Prozess sehr gut aufzupassen, ihn zu schützen. Denn es gibt Teile der Gesellschaft, wie die extreme Rechte, die vom Krieg profitieren und die versuchen werden, die Verhandlungen zu sabotieren. Es wäre nicht überraschend, wenn nach Verhandlungsbeginn Sprengkörper in den Städten explodieren, um dies der Linken in die Schuhe zu schieben und den Verhandlungen ihre Legitimation zu entziehen.

Besteht die Gefahr, dass die MP das gleiche Schicksal ereilt wie die Unión Patriótica (UP), deren Mitglieder in den 80ern systematisch ermordet wurden?

Diese Frage impliziert, dass die beiden Bewegungen vergleichbar sind. Die UP entstand aber aus einer ausdrücklichen Vereinbarung der Guerilla mit der damaligen Regierung Betancur. Das ist bei der MP nicht so, auch wenn das einige glauben machen wollen. Der Versuch, die MP mit der UP gleichzusetzen und sie als zivilen Arm des bewaffneten Widerstands zu stigmatisieren, wie es Militärs öffentlich getan haben, macht uns Sorgen.

Welche Friedensprozesse können als Beispiel dienen?

Was die Einbeziehung der Bevölkerung betrifft, ist der Friedensprozess in Nordirland sicherlich ein Vorbild. Ein anderes Beispiel ist der in El Salvador. Hier war an einem gewissen Punkt klar, dass die Nationale Befreiungsfront Farabundo Martí (FMLN) und der Staat sich nicht militärisch besiegen können. Heute, 20 Jahre danach, hat die FMLN eine wichtige politische Stellung, weil es Garantien für die Guerilla gab, Teil der Politik zu sein. Diese Garantien hat es in vergangenen Verhandlungen mit kolumbianischen Guerillas wie der M19 oder der EPL nicht gegeben, deren Verhandlungsführer wurden ermordet.

Ist die Marcha Patriótica eine mögliche »politische Landebahn« für ehemalige Guerilleros?

Darüber zu diskutieren, ist noch viel zu früh. In einem bestimmten Moment wird die Guerilla entscheiden müssen, wie sie politisch agieren will. Sollte sie sich für die MP entscheiden, werden wir über die Aufnahme diskutieren.

Die Möglichkeiten zur Beteiligung an den Verhandlungen sind für die Gesellschaft sehr beschränkt. Wie will die MP das Themenspektrum erweitern?

Eine Sache sind die formalen Beteiligungsmechanismen, eine andere die Realität, die in der Gesellschaft debattiert wird. Bestimmte Teile der Gesellschaft können in den Massenmedien Themen setzen. Wir als soziale Organisationen haben auch unsere Mechanismen: große Demonstrationen und Protestveranstaltungen. Für den 12. Oktober, vier Tage nach dem offiziellen Beginn der Friedensgespräche, planen wir einen landesweiten Streik, um auf unsere Forderungen aufmerksam zu machen.

Steckt hinter der Bereitschaft der Regierung zu Verhandlungen nicht auch die Absicht, Kontrolle über wirtschaftlich sehr wertvolle Regionen zu erlangen, beispielsweise für große Agrarprojekte?

Natürlich haben beide Seiten politische Absichten. Wie versteht Präsident Santos die ländliche Entwicklung? Ein Beispiel sind die Zonen für kleinbäuerliche Produktion. Santos will diese Zonen nicht als autonome Gebiete behandeln, sondern als Teil der Konsolidierungspläne in Post-Konflikt-Regionen. In Verbindung mit einem Gesetz zur Rückerstattung geraubter Ländereien ermöglicht dies eine Legalisierung der Ländereien, die dann in die internationalen Märkte eingebunden werden können. Aber die Guerilla ihrerseits wird auch eine Vorstellung von ländlicher Entwicklung haben - und darüber werden sie diskutieren.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 21. September 2012


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