Die gefährlichste Stadt Kolumbiens
Wo Bombenattentate und politische Morde zum Alltag gehören
Das südkolumbianische Buenaventura verfügt über den wichtigsten Hafen an der lateinamerikanischen Pazifikküste. Trotzdem lebt ein Großteil der Bevölkerung in großer Armut. Der Hafen macht die afrokolumbianisch geprägte Region außerdem zu einer geostrategisch umkämpften Zone, die immer stärker zwischen die Fronten der Kriegsparteien gerät. Die Gewaltrate ist in den letzten Jahren massiv angestiegen.
Von Norbert Ahrens *
Aus den oberen Stockwerken
des Hotels „Capilla del Sol“
hat man einen herrlichen Blick
über die Bucht von Buenaventura.
Große Container-Schiffe liegen
dort ständig vor Anker, um auf
eine frei werdende Mole im Hafen
zu warten. In den letzten zehn
Jahren hat sich Buenaventura mit
jährlichen Zuwachsraten von bis
zu 15 Prozent zum größten Pazifikhafen
ganz Lateinamerikas entwickelt
und das viel besungene
Valparaíso in Chile längst hinter
sich gelassen. Doch Hafenromantik
will in Buenaventura
nicht so richtig aufkommen,
obwohl hier inzwischen fast
60 Prozent des gesamten kolumbianischen
Außenhandels abgewickelt werden.
Die 350.000 EinwohnerInnen
der Hafenstadt, die allermeisten
von ihnen Afro-KolumbianerInnen,
haben nämlich überhaupt keinen
Grund, auf solche Rekordziffern
stolz zu sein. Im
Gegensatz zu europäischen
Ländern,
in denen
die größten Häfen auch zu den
reichsten Städten ihrer jeweiligen
Länder zählen, wie zum Beispiel
Hamburg, Rotterdam oder Barcelona,
gehört Buenaventura in Kolumbien
zu den ärmeren Kommunen.
Von den hier umgeschlagenen
Reichtümern bleibt für die EinwohnerInnen
so gut wie nichts
hängen. Der Hafen ist für sie eher
ein Fluch als ein Segen. Denn er
zieht mit geradezu magischer Kraft
(auch und vor allem) die Gewaltakteure
im kolumbianischen Konflikt
an. So ist Buenaventura in den
letzten Jahren zur Stadt mit der
höchsten Gewaltrate im ganzen
Land geworden und hat dabei sogar
das ehemals berüchtigte Medellín
überholt.
In einer Analyse der sozialen
Situation Buenaventuras schreibt
Hector Epalza, der Erzbischof der
Stadt, dass die Drogenhändler, im
Bestreben ihre Schmuggel-Korridore
zu kontrollieren, einen offenen
Krieg in der Hafenstadt entfesselt
haben. Sie bedienen sich
dabei zahlreicher bewaffneter
Gruppen „außerhalb des Gesetzes“, die die Stadt in Sektoren aufgeteilt
haben, in denen sie ihrerseits
den Drogenhandel eskortieren,
sich untereinander bekämpfen,
Schutzgelder erheben und die
kleinen Händler erpressen. In den
Kaufhäusern der Innenstadt erheben
sie auf die dort gehandelten
Produkte „Kriegssteuern“. Aus der
Analyse des Bischofs, der zum
kleinen progressiven Flügel der
kolumbianischen Bischofskonferenz
gehört, geht unzweideutig
hervor, dass er mit „Gruppen außerhalb
des Gesetzes“ sowohl aktive
als auch entwaffnete Paramilitärs,
aber ebenso die milicias
urbanas, die Stadtmilizen der
FARC-Guerilla meint. Auch Polizei
und Militär kommen nach dem
Urteil des Kirchenmannes nicht
ohne schwere Anschuldigungen
davon. Ihnen attestiert er „Menschenrechtsverletzungen
unter Ausnutzung ihrer Autorität“.
Dies alles bildet schließlich jenes
undurchdringliche Gewaltgeflecht,
das die Mordrate in Buenaventura
in den letzten Jahren auf
über 100 pro 100.000 EinwohnerInnen
im Jahr hat ansteigen lassen.
Zum Vergleich: In Berlin wurden
in den letzten zehn Jahren im
Jahres-Durchschnitt zwei Morde
pro 100.000 EinwohnerInnen
verübt.
Bomben und Schießereien
Die Bombenattentate, die meistens
Polizeistationen oder militärischen
Einrichtungen gelten, aber
gleichwohl Tote und Verletzte
auch unter der Zivilbevölkerung
fordern, werden als „Racheakte“
sowohl der Drogenmafia als auch
gelegentlich den Stadtmilizen der
FARC zugeschrieben. Die Morde
mit Schusswaffen tragen dagegen
sehr häufig die Handschrift der Paramilitärs.
Allein in den ersten drei
Monaten dieses Jahres hat es in
Buenaventura schon ein halbes
Dutzend Bombenattentate gegeben.
Das schwerste am 21. Januar
mit sieben Toten, darunter einem
Kind und zahlreichen Verletzten.
Das vorerst letzte am 3. April mit
einer Toten und einem Dutzend
Verletzten.
Der Leiter des Leichenschauhauses
von Buenaventura, Dr. Ricardo
del Castillo, bestätigt, dass
er Monat für Monat vierzig bis
fünfzig Leichen auf seinem Seziertisch
hat, die alle durch Schussverletzungen,
meistens aus kürzester
Entfernung, ums Leben gekommen
sind. Von ganz wenigen Ausnahmen
abgesehen, hätten sie
immer drei bis vier Gemeinsamkeiten:
Sie sind jung, männlich und
schwarz; zudem stammen sie
mehrheitlich aus einem der Elendsviertel
am Stadtrand. Auf die Frage
nach den möglichen Tätern und
deren Motiven ist der Mediziner
vorsichtiger als der Bischof. Seine
Aufgabe sei es, jeweils die genaue
Todesursache festzustellen, und
das sei hier in den Tropen manchmal
schwierig genug – besonders,
wenn die Leichen nicht sofort in
den ersten Stunden nach der Tat
auf den Seziertisch kämen. Der
Rest sei Sache der Staatsanwaltschaft…
Morddrohungen gegen Bischof
Nach dem Bekanntwerden seiner
Analyse, die in einem lokalen Radio-
Sender verlesen wurde, erhielt
der Bischof zahlreiche Morddrohungen,
so dass er es vorzog,
für einige Zeit die Stadt zu verlassen.
Die Ergebnisse des Mediziners
hingegen verschwinden in aller
Regel auf Nimmerwiedersehen
in den Aktenschränken der Staatsanwaltschaft.
Trotzdem gibt es gerade aus
dem kolumbianischen Justizapparat
in letzter Zeit einiges zu
erwähnen, was zumindest ein
kleiner Hoffnungsschimmer am
Horizont der weiteren politischen
Entwicklung des Landes sein könnte.
Im Rahmen des Skandals der
so genannten
Parapolítica konnte
zahlreichen Mitgliedern des Lagers
von Präsident Alvaro Uribe eine
enge Verbindung zu den Paramilitärs
nachgewiesen werden. In einigen
Fällen gab es auch Versuche,
führenden Paramilitärs politische
Vorteile zu verschaffen, ja, sie sogar
in den Staats- und Polizeiapparat
einzuschleusen. Die kolumbianische
Justiz hat sich in diesem
Zusammenhang zum ersten Mal
seit langer Zeit als eigenständig
und politisch unabhängig erwiesen.
Dies trat besonders bei der
Verhaftung des früheren Direktors
des staatlichen Geheimdienstes
(DAS), Jorge Noguera, zutage,
den Uribe immerhin persönlich in
dieses wichtige Amt berufen hatte.
Zwar ist Noguera inzwischen wieder
auf freiem Fuß, aber die Justiz
hatte sich bei seiner Verhaftung
nicht, wie bei früheren Gelegenheiten
fast immer der Fall, durch
die Tatsache einschüchtern lassen,
dass er ein persönlicher Freund
und Protegé des Staatspräsidenten
ist.
Lebenserwartung 51 Jahre
Buenaventura ist freilich von rechtstaatlichen
Entwicklungen und gewaltfreien
demokratischen Perspektiven
noch weit entfernt. Die
Bemühungen der Stadtverwaltung,
wenigstens die Grundbedürfnisse
in den Bereichen Wohnung,
Erziehung und Gesundheit
zu sichern, werden von der Realität
des Alltags ad absurdum geführt.
Da Buenaventura alle Binnenflüchtlinge
aufnimmt, die an
der Pazifikküste von der Gewalt
vertrieben werden, beläuft sich
ihre Zahl in der Stadt nach vorsichtigen
Schätzungen mittlerweile
auf circa 35.000. Und täglich werden
es mehr, die das Heer der
absolut Mittellosen vergrößern.
Die Wohnsituation und das Gesundheitswesen
können nur als
katastrophal bezeichnet werden.
Lediglich 45,5 Prozent der städtischen
Bevölkerung haben Zugang
zu ärztlicher Behandlung, 65 Prozent
aller Behausungen, in denen
im Schnitt acht bis 13 Menschen
wohnen, haben keinen Wasseranschluss.
Und während die Lebenserwartung
landesweit bei 62,3
Jahren liegt, beträgt sie in Buenaventura
51 Jahre. Auch im Erziehungsbereich
sind die Zahlen alarmierend
und weitaus schlechter
als im Landesdurchschnitt. Trotz
bestehender Schulpflicht nehmen
in der gesamten Pazifikregion
knapp die Hälfte aller Kinder und
Jugendlichen im schulpflichtigen
Alter nicht am Unterricht teil, ein
Viertel bricht die Schule vorzeitig
ab. Die Analphabetenquote bei
den über 15-Jährigen liegt infolgedessen
bei 22 Prozent, während
der landesweite Durchschnitt immerhin
nur neun Prozent beträgt.
Angesichts dieser desolaten Lebenssituation
ist für viele Jugendliche
die Versuchung groß, sich mit
der Waffe soziale Geltung und ein
gewisses Einkommen zu verschaffen.
Die Gewalt in den Familien
trägt das ihre dazu bei, sich schon
im Kindesalter an gewaltsame
Konfliktlösungen zu gewöhnen.
Nur an zwei Stellen kann dieser
Teufelskreis allmählich durchbrochen
werden: Die eine ist die Beseitigung
oder zumindest die Verringerung
der Armut, was freilich
angesichts des vorherrschenden
neoliberalen Wirtschaftsmodells
eher unwahrscheinlich ist. Die
andere ist die kontinuierliche Stärkung
der Zivilgesellschaft, die sich
ja nichts sehnlicher wünscht als ein
Ende der Gewalt.
Friedliche Konfliktlösungen
müssen – schon in der Vorschule
und erst recht in den Schulen – regelrecht
gelernt und eingeübt werden.
Nur so wird man sich in Buenaventura
an eine Normalität des
Alltags gewöhnen können, die
heute noch als die besondere Ausnahme
gefeiert wird: Fünf von 32
Stadtvierteln Buenaventuras konnten
Ende März auf ein halbes Jahr
ohne jeglichen Mord zurück blicken!
Wo sonst auf der Welt würde
eine solche Tatsache überhaupt
erwähnt werden…?
* Aus: Lateinamerika Nachrichten, Nr. 395 - Mai 2007, S. 19-21
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