Kolumbien: Barrancabermeja – Pilotprojekt mit tödlichen Folgen
Zwischen Goldminen und Minenfeldern
Beim folgenden Text handelt es sich um einen Bericht über eine Menschenrechtsdelegation aus Europa, die in einer kolumbianischen Raffinerie die Arbeitsverhältnisse begutachten wollte. Der Bericht erschien in der Schweizer Wochenzeitung WoZ unter dem Titel "In der befriedeten Stadt lauert der Tod".
Von Raul Zelik, Barrancabermeja
Seit je zeigen sich in Barrancabermeja die kolumbianischen Verhältnisse
besonders deutlich. Die 350.000 EinwohnerInnen zählende Erdölstadt am
Magdalena-Strom gilt seit ihrer Gründung als Brennpunkt der sozialen
Konflikte des Landes. Das ist auch heute, ein Jahr nach der
«Rückeroberung» der Stadt durch die Armee, noch so. In den
nordöstlichen Vierteln, die noch vor eineinhalb Jahren von Guerillamilizen
kontrolliert wurden, stehen heute an allen strategischen Punkten Gruppen
auffälliger Zivilisten herum: junge Männer mit Sonnenbrillen, Mobiltelefonen
und kleinen Taschen. Es sind Paramilitärs, die im vergangenen Jahr allein
in Barrancabermeja mehr als 500 Menschen umgebracht haben.
Inzwischen, heisst es, sei die Stadt weitgehend «befriedet», und die
paramilitärischen Stützpunkte in den Armenvierteln stehen für neue
Aufgaben zur Verfügung. Sie dienen als Wahlkampfbüros für den
aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten, den Rechtsradikalen
Alvaro Uribe Vélez, der nach Meinungsumfragen um die fünfzig Prozent der
WählerInnen hinter sich hat. Uribe Vélez, den zu kritisieren nur noch
ausländische Korrespondenten wagen, steht für eine autoritäre Lösung des
kolumbianischen Konflikts: Aufrüstung der Armee, Einbindung von einer
Million Kolumbianern in zivilmilitärische Verbände, Verschärfung der
Gesetze und Anforderung von US-Truppen. Als Gouverneur von Antioquia
hat Uribe Mitte der neunziger Jahre seine Politik «der harten Hand» bereits
erproben können. Die Folge war der Anstieg von straflos gebliebenen
Massakern in Medellín und Umgebung. Auch Verbindungen zum
Drogenhandel, der sich in Kolumbien Hand in Hand mit dem
Paramilitarismus ausbreitet, werden Uribe nachgesagt.
Ein Tag in Barrancabermeja
Am Magdalena-Strom, 150 Kilometer östlich von Medellín, fragt man sich,
was sich durch eine Law-and-Order-Politik noch verschärfen liesse. Im
Umfeld der grössten Raffinerie des Landes, bislang eine Art Trutzburg der
gewerkschaftlichen Linken, leistet heute nur noch eine Hand voll
Unerschütterlicher Widerstand – zu einem hohen Preis. «Wir haben noch
Mitglieder, aber es gibt keine Leute mehr, die sich in Ämter wählen lassen
wollen», antwortet der Gewerkschafter Rafael Jaimes Torra auf meine
Frage nach der Situation der Erdölgewerkschaft Unión Sindical Obrera
(USO) in der inzwischen seit zehn Jahren von Paramilitärs kontrollierten
Kleinstadt Sabana de Torre, eine halbe Stunde nordöstlich von
Barrancabermeja. «Wir befürchten, dass es hier bei uns auch bald so sein
wird.» Ich versuche meinen Gesprächspartner aufzumuntern: «So schlimm
wird es nicht werden.» Doch neun Stunden später ist der 38-jährige Jaimes
Torra tot. Ein Kommando der Paramilitärs erschiesst ihn und seinen
24-jährigen Neffen vor der Tür seines Hauses.
Auf der Beerdigung versammeln sich 200 Gewerkschafter mit ihren
Leibwächtern sowie die Aktivistinnen der autonomen Frauenorganisation
Organización Feminina Popular, denen es dank internationaler
Unterstützung als einzigen aus der Linken gelungen ist, die Arbeit in den
Armenvierteln aufrechtzuerhalten. Man lacht, keine fünf Meter vom Sarg
Rafael Jaimes’ entfernt. Der Terror ist alltäglich in Barrancabermeja. Und er
folgt offensichtlich einem Kalkül: Jaimes Torra ist nach Aury Sarat in
Cartagena und Gilberto Torres in Casanare der dritte führende
USO-Gewerkschafter, der innerhalb kurzer Zeit ermordet wird. Alle drei
waren Organisatoren von regionalen «Erdölforen», gross angelegten
Veranstaltungen, bei denen kritisch über die staatliche Energiepolitik und
die Verwendung der Exporterlöse debattiert wird.
«Erste Priorität hat die Bekämpfung der Selbstverteidigungsgruppen.»
Selbstverteidigungsgruppen, so nennen sich die rechten Paramilitärs. Der
Polizeikommandant von Barrancabermeja, Alvaro Becerra, weiss, wie man
kritischen Ausländern gegenüber aufzutreten hat. Die Ermordung des
USO-Gewerkschafters bezeichnet er als schreckliche Tat und verspricht,
die Schuldigen zu verfolgen. «Allerdings haben wir nur 300 Polizisten zur
Verfügung. 300 Mann in einer Stadt von 350 000 Einwohnern.» Man
möchte dem Mann glauben, so überzeugend trägt er seine Erklärungen
vor. Doch die Wirklichkeit spricht eine andere Sprache. Der
Paramilitarismus wird in der Stadt – wie in allen kolumbianischen
Konfliktgebieten – von den Sicherheitsorganen gedeckt und militärisch
abgesichert.
Menschenrechtsaktivisten berichten, dass parallel zu einer
paramilitärischen Offensive im vergangenen Jahr Sondereinheiten der
Polizei in die Stadt verlegt wurden. Während die schwer bewaffneten
Polizisten in einem Strassenzug Häuser durchsuchten, ermordeten
Paramilitärs eine Strasse weiter angebliche Guerillasympathisanten. Doch
davon will Polizeikommandant Alvaro Becerra nichts wissen. «Es gibt
immer noch viel zu viele Tote, aber die Tendenz ist positiv. 2001 hatten wir
in diesem Zeitraum 167 Morde. Dieses Jahr sind es nur 17.» Ein
verschmitztes Lächeln. «Das ist immer noch viel zu viel. Aber unsere
Leute hier sind explosiv. Diese Mischung aus Spaniern und Chibcha, das
ist nicht einfach.»
Bei den staatlichen Behörden in Barrancabermeja – vom
Menschenrechts-Ombudsmann Jorge Gómez einmal abgesehen –
bekommt man solche und ähnlich seltsame Theorien immer wieder zu
hören. Giorgina Hernández zum Beispiel, eigentlich damit beauftragt,
staatliche Vergehen zu überprüfen und Disziplinarverfahren einzuleiten,
setzt kurzerhand die Theorie in Umlauf, die USO-Gewerkschafter würden
sich kurz vor Führungswahlen häufig gegenseitig umbringen, und das
Militärbataillon Nueva Granada habe selbstverständlich «nichts mit
Terrorismus» zu tun. Im Gegenteil, die Armee zeige gerade hier ihr
soziales Gewissen.
Generalleutnant Gilberto Ibarra Mendoza, zuständig für das
«Sozialkommando», erzählt stolz von dem von ihm geleiteten Pilotprojekt.
«Wir müssen die Legitimität des Staates wiederherstellen, wir müssen ihm
Anerkennung verschaffen.» Aus diesem Grund lässt der Generalleutnant
Soldaten Sportplätze bauen und Parks anlegen, kümmert sich um die
Behördengänge Bedürftiger oder sammelt Medikamente. «Diese Tüte
hier», er hält sie lächelnd in die Luft, «geht in ein besonders armes Dorf in
unserer Region – nach San Blas.»
San Blas, im Süden des Departements Bolívar gelegen, ist ein wichtiger
Stützpunkt und Drogenumschlagplatz der Paramilitärs in der Region.
Nichts bewegt sich dort ohne Zustimmung der Todesschwadronen. So
greift ein Rädchen ins andere. Die Paramilitärs ermorden oder vertreiben
eine als aufsässig geltende Bevölkerung, die Polizei gibt sich ohnmächtig,
die staatlichen Strafverfolgungsbehörden verdächtigen die Opfer, und die
Armee schliesslich kümmert sich darum, in den «gesäuberten» Vierteln
die Lage mit zivilen Projekten zu konsolidieren. Terrorismus und
Entwicklungsprojekte Hand in Hand, das ist das strategische Projekt nicht
nur in dieser Region.
Goldschürfen im ELN-Gebiet
Ein Stück flussabwärts, im Süden des Departements Bolívar, ist man noch
nicht so weit. Knapp hinter der von Paramilitärs terrorisierten Kleinstadt
Santa Rosa beginnt Guerillagebiet. Vor drei Jahren kündete der
Kommandant der Todesschwadronen, Carlos Castańo, vollmundig an, er
werde bis zum Jahresende 1999 seine Hängematte in den Wäldern der
Serranía San Lucas aufspannen. Die bis 2200 Meter hohen Berge hinter
Santa Rosa besitzen grosse Bedeutung: Hier, im nördlichen Zentrum
Kolumbiens, befinden sich die grössten kolumbianischen Goldvorkommen,
aber auch das wichtigste Rückzugsgebiet der zweitgrössten Guerilla
Kolumbiens, des Ejército de Liberación Nacional (ELN). Bis man die
Minen oberhalb von Santa Rosa erreicht, muss man vier oder fünf
Sicherheitskordons der Guerilla passieren: Strassensperren, mit
Sandsäcken gesicherte Kontrollpunkte, Minenfelder – alles wirkt
improvisiert und ist doch Ausdruck der Entschlossenheit, den Vormarsch
der Paramilitärs zu stoppen. Die Fahrt auf der ungeteerten Piste ist wie
eine Reise in die Vergangenheit. Je höher man kommt, desto schlechter
wird die Strasse und desto grüner die Vegetation. Während die tiefer
gelegenen Täler der Serranía schon vor zwanzig Jahren abgeholzt wurden
und nun in der Trockenzeit unter einer Staubschicht verschwinden, breitet
sich auf den Bergkämmen immer noch majestätisch der dunkle Regenwald
aus. Seine Tage dürften allerdings auch hier gezählt sein. Wo man
hinschaut, sieht man Rauchfahnen und die Spuren der Brandrodungen.
Bis zum Gebiet der Goldminen am Fusse des La-Teta-Gipfels sind es vier
Stunden Fahrt mit dem Pick-up und weitere drei Stunden Fussmarsch. Mit
Guerillaromantik haben die Lebensverhältnisse hier oben in der erstaunlich
dicht besiedelten Serranía nichts zu tun. Der Goldrausch hat tausende in
den Wald gelockt. Sie leben in provisorischen Holzhütten und schlagen
unter abenteuerlichen Bedingungen Gestein aus dem Berg. Zwischen den
Waldflächen sieht man erodierte Hänge, Mineneingänge,
Plastikverschläge, Müllhalden und breite, ausgetretene Maultierpfade.
Alles, was in die Region gelangt, kommt auf dem Rücken der Tiere hierher.
Die Abbaumethoden sind eine einzige Katastrophe. Die Mineros fassen
ohne Schutzhandschuhe in die Quecksilberschalen. Die Zyanidbecken
sind direkt neben den Wohnhütten angelegt. Kinder spielen in einem Sand,
der in Westeuropa auf einer Sondermülldeponie gelagert werden müsste.
Unter solchen Bedingungen beginnt man für die Brandrodungen nach
einiger Zeit fast schon Sympathien zu hegen. «Wir ermuntern die Leute,
Pflanzungen anzulegen und Landwirtschaft zu betreiben», erklärt Cediel
Mondragón von der Federación Agrominera del Sur de Bolívar, der
regionalen Bauern- und Goldsucherföderation. «Wir ermuntern die Leute,
Bauern zu werden und sich hier fest anzusiedeln.» Die Föderation schlägt
vor, sich ähnlich wie im Guatemala der achtziger Jahre in
Widerstandsdörfern zu organisieren, um sich gegen die drohende
Vertreibung zu wehren. Der kolumbianische Staat versucht alles, um den
Süden des Departements Bolívar unter Kontrolle zu bekommen und die
Goldvorkommen gewinnträchtig an transnationale Unternehmen zu
verscherbeln. Doch mit Goldschürfern lässt sich der Widerstand nur
schwer organisieren. «Die Mineros sind Vagabunden», sagt Mondragón.
«Sie wohnen zwei Jahre hier und ziehen dann weiter zur nächsten Mine.»
Seine Organisation hofft, dass sich die BewohnerInnen der Region ähnlich
wie die Bauern und Bäuerinnen weiter im Süden des Departements stärker
organisieren, wenn sie sich erst einmal niedergelassen haben und Land
bestellen.
Der zweite, noch wichtigere Grund für die Kampagne der Föderation ist
jedoch die ökonomische Not. Armee und Paramilitärs haben, nachdem die
Guerilla ihre Offensiven zurückschlagen konnte, ein Embargo gegen die
Dörfer in den Bergen verhängt. Werkzeuge, Maschinen, Medikamente und
andere Produkte werden von den Paramilitärs an ihren Posten
beschlagnahmt, Händler mit dem Tode bedroht oder gleich ermordet. Als
Folge davon sind die in den Regionen der Goldsucher traditionell hohen
Preise weiter explodiert. Im einzigen Gesundheitsposten in der Region, im
Consultorio von Mina Vieja, sind die Regale leer. Medikamente im Wert
von vier Millionen Pesos, etwa 3500 Franken, hat die Armee, wie
Mondragón berichtet, dem Gesundheitsposten einfach gestohlen. Selbst
Lebensmittel werden nicht mehr durchgelassen. «Wir haben keine andere
Wahl, als so viel wie möglich in der Region selbst herzustellen. Wir
müssen uns selbst versorgen.» Die Zerstörung des Waldes mag einem in
der Seele wehtun, aber sie ist immer noch erträglicher als die Vorstellung,
dass auch hier wieder kleine Bauern und Goldsucher den ökonomischen
Grossprojekten weichen werden.
Die BewohnerInnen der Region ertragen ihre Lage mit erstaunlicher
Geduld. Vielen von ihnen, vor allem den Führern der sozialen
Organisationen, ist es unmöglich geworden, das Gebiet zu verlassen.
Ausserhalb der von der Guerilla kontrollierten Zone gelten die Mineros als
«militärische Ziele». Doch wie militärische Bollwerke wirken die
Widerstandsdörfer keineswegs. Auch weiter im Süden nicht, wo der Ring
der Armee so eng ist, dass manche der Gemeinden nur noch per
siebentägigen Fussmarsch zu erreichen sind. Unter den Goldschürfern
hingegen paart sich Widerstandswille auf seltsame Weise mit Lethargie.
Niemand will hier vor den Drohungen der Paramilitärs weichen, aber auch
kaum jemand ist bereit, sich fester zu organisieren. Man überlässt die
Angelegenheit den Bauernführern und hält sich zurück. Selbst die
banalsten gemeinschaftlichen Einrichtungen, ob nun die Müllentsorgung
oder der Aufbau einer Schule, kommen meist nur auf Drängen von aussen
zustande – oft auf Initiative der ELN, die mit kleinen Gruppen in den
Dörfern präsent und als Autorität anerkannt ist.
Wie es sein könne, dass die Guerilla Aufgaben übernehme, die eigentlich
die Bevölkerung selbst lösen müsse, frage ich einen Kommandanten der
lokalen ELN-Front. Und ob die ELN, die doch so viel von direkter
Demokratie spricht, die Menschen damit nicht bevormunde. Die Kritik sei
berechtigt, antwortet der Mann nachdenklich. Aber man müsse auch
berücksichtigen, in welcher Situation man hier lebe. «Der Paramilitarismus
richtet sich nicht direkt gegen die Guerilla. Er bekämpft vor allem Zivilisten,
Gemeinderäte, Kooperativen, Bauernorganisationen. Das soziale Geflecht
soll zerstört werden, jede Solidarität untereinander verschwinden. Was
bleibt uns da anderes übrig, als jeden Tag zu versuchen, dieses soziale
Geflecht wieder zusammenzuflicken?»
Aus: Woz, 4. April 2002
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