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Beispiel Kolumbien - Wie steht die Linke zum bewaffneten Kampf?

Es debattieren Dario Azzellini und Günter Pohl


In der medialen Öffentlichkeit in Deutschland gilt er meist als dem Terror nicht fern - der bewaffnete Kampf von Guerillagruppen in Lateinamerika. Viele Linke betrachten ihn demgegenüber, nicht zuletzt wegen des Erfolgs der kubanischen Revolution, weiterhin als legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung. Gibt es Gründe, diese These für gerechtfertigt zu halten? Oder ist bewaffneter Kampf archaisches, verwerfliches und in der Regel auch gescheitertes Mittel der Auseinandersetzung? Und wie wäre dem bewaffneten Terror von rechts in solchen Regimes zu begegnen, die sich auf brutale Militär- und Polizeigewalt stützen?

Die Debatte führen Dario Azzellini, seit Oktober 2010 wissenschaftlicher Assistent an der Abteilung für Politik- und Entwicklungsforschung am Institut für Soziologie der Johannes Kepler Universität Linz, und Günter Pohl, Autor mit Thema politische Entwicklungen in Lateinamerika.



Eine Form der Selbstverteidigung

Von Dario Azzellini *

Die Wahl diverser Mitte-Links und linker Regierungen in Lateinamerika in den vergangenen 15 Jahren und die aktuellen Friedensgespräche zwischen der FARC-Guerilla und der kolumbianischen Regierung haben der Frage, ob denn der bewaffnete Kampf in Lateinamerika für die Linke noch eine Option darstelle, wieder Aktualität verliehen. Die Frage taucht seit Jahrzehnten mit aller Regelmäßigkeit wieder auf. So wurde der bewaffnete Kampf in Lateinamerika nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion für obsolet erklärt und den kolumbianischen Guerillagruppen wurde damals ein rasches Ende, aufgelöst im Sog der Geschichte, vorausgesagt.

Das Gegenteil war der Fall. 1994 betrat die zapatistische Guerilla EZLN in Mexiko die politische Bühne und interpretierte den bewaffneten Kampf neu. In Kolumbien wuchsen die beiden Guerillas FARC und ELN wie nie zuvor. Das Entstehen und Bestehen von Guerillagruppen in Lateinamerika ist nicht von internationalen Faktoren abhängig, sondern von jeweils nationalen Kontexten.

»Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbst gewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen«, so Karl Marx. Die Option des bewaffneten Kampfes ist in der Regel keine voluntaristische Entscheidung, sondern darauf zurückzuführen, dass die Bedingungen für eine legale effektive politische Betätigung fehlen.

Dies ist auch in Kolumbien der Fall. Vom 1. Januar 1986 bis 31. Dezember 2012 wurden insgesamt 2949 Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen ermordet. Kolumbien ist auch das Land Lateinamerikas, in dem die meisten Journalisten ermordet werden. Regierung, Eliten, transnationale Unternehmen und Drogenmafia arbeiten in wechselnden Konstellationen zusammen, um jegliche Opposition regelrecht zu vernichten. Der ehemalige Präsident Alvaro Uribe gehörte laut US-Geheimdiensten in den 1990er Jahren zu den 100 wichtigsten Drogenhändlern Kolumbiens und war zentral am Aufbau paramilitärischer Gruppen beteiligt, die in den vergangenen Jahrzehnten zehntausende Kolumbianer und Kolumbianerinnen ermordet haben. Ihre Dienste wurden von transnationalen Unternehmen wie Exxon/Esso, Nestlé, Chiquita und Coca-Cola in Anspruch genommen, und in Wahlen sorgen die Paramilitärs für die gewünschten Ergebnisse. Dabei konnte sich die kolumbianische Regierung stets der Unterstützung durch die US-Regierung und auch der europäischen Regierungen sicher sein.

Es sind also die Umstände, die den bewaffneten Kampf hervorbringen. Aus diesem Grund sind in Mexiko in den vergangenen 20 Jahren nach unterschiedlichen Quellen 150 bis 300 bewaffnete linke Organisationen entstanden. Die brutale Niederschlagung breiter linker Bewegungen und die Verhinderung linker Wahlsiege durch massiven Wahlbetrug bildeten den Nährboden für das Aufblühen des bewaffneten Kampfes. Es ist also kaum von Bedeutung, wenn Intellektuelle oder Journalisten den bewaffneten Kampf für obsolet halten, die Realität spricht eine andere Sprache.

Allerdings ist festzustellen, dass die Option einer bewaffneten Revolution in Lateinamerika obsolet ist. Ein militärischer Sieg wie etwa in Kuba oder Nicaragua kann heute weitgehend ausgeschlossen werden. Moderne Kriegführung ist technologisch derart hoch entwickelt, dass eine Guerilla nicht mithalten kann. Sollte wider Erwarten doch ein militärischer Geniestreich gelingen, würden es die USA ganz sicher nicht tolerieren, dass eine sozialistische Regierung bewaffnet an die Macht kommt. Allerdings zeigt Kolumbien aber auch, dass eine Guerilla mit langer Erfahrung und Verankerung in der Bevölkerung ebenfalls nicht besiegt werden kann. Es ist diese Pattsituation, die kolumbianische Guerilla und Regierung an den Verhandlungstisch bringt.

Zugleich lässt der Sturz der demokratisch gewählten linken Regierungen in Honduras 2009 und in Paraguay 2012 darauf schließen, dass die Rechte, die Oberschichten, transnationale Unternehmen sowie die USA und diverse europäische Staaten nicht bereit sind, demokratisch gewählte linke Regierungen zu akzeptieren. Während die nach dem Sturz der Präsidenten Zelaya und Lugo eingesetzten De-facto-Regierungen in Lateinamerika weitgehend isoliert blieben und nicht anerkannt wurden, können sie beide auf Anerkennung aus den USA und aus der EU zählen. Diverse Regierungen, Parteien und ihnen nahestehende Institutionen haben die Umstürze nicht nur wohlwollend anerkannt, sondern waren auch aktiv an ihrem Zustandekommen beteiligt, wie etwa die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung (FNS) im Falle des Militärputsches gegen Präsident Zelaya in Honduras oder der Unterstützung der Konrad-Adenauer-Stiftung für Putschisten in Venezuela.

Es ist also nicht der bewaffnete Kampf, der in Lateinamerika obsolet ist, sondern die Vorstellung der alle repräsentierenden Guerilla, die eine bewaffnete Revolution durchführt. Die Guerilla im 21. Jahrhundert in Lateinamerika füllt eher eine lokale Schutzfunktion aus, eine Art Selbstverteidigung der Basis. So nehmen die Auseinandersetzungen zwischen den Mapuche und den Holzunternehmen in Südchile zunehmend militärische Züge an, und in Venezuela bilden sich bewaffnete Gruppen, um sich gegen Killer von Großgrundbesitzern, Paramilitärs und Drogenmafia zu schützen. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass Bandenkriminalität und Drogenbusiness in den vergangenen Jahren in Lateinamerika weitaus mehr Todesopfer gefordert haben als die meisten Kriege.

* Dario Azzellini arbeitet seit Oktober 2010 als wissenschaftlicher Assistent an der Abteilung für Politik- und Entwicklungsforschung am Institut für Soziologie der Johannes Kepler Universität Linz, Österreich.


Umstände bedingen Taten

Von Günter Pohl **

Die Frage, ob der bewaffnete Kampf noch eine Option für die Linke ist, impliziert - unabhängig vom Kontinent - die Idee, dass Menschen sich nach mal mehr, mal weniger reiflicher Überlegung gegen das System, in dem sie leben, freiwillig auflehnen und dafür Waffen benutzen.

Die Antwort darauf ist gleichsam universell wie individuell: universell, weil immer die Kräfteverhältnisse zu bewerten sind, unter denen dieser Versuch gewagt wird, und individuell, weil auch trotz vergleichbarer Kräfteverhältnisse die Erfolgsaussichten äußerst unterschiedlich sein können. Die Übermacht des Gegners war in den 70er Jahren in Nicaragua oder der BRD für FSLN oder RAF vergleichbar; die Erfolgsaussichten jedoch stark unterschiedlich, da das auserkorene gesellschaftliche Subjekt sich dort massiv, hierzulande aber nicht am Aufstand beteiligte. Dass andererseits Armut und Elend keineswegs einen Aufstandsautomatismus erzeugen, zeigt Bolivien, wo die Kräfteverhältnisse für die Gruppe um Che Guevara angesichts der unmotivierten und militärisch unerfahrenen bolivianischen Armee zwar vergleichsweise günstig waren, die indigenen Bauern jedoch von einer Unterstützung der Guerilleros absahen.

Man versteht den eingangs erwähnten voluntaristischen Ansatz für Lateinamerika besser, wenn die kubanische Revolution in Betracht gezogen wird: Es entwickelten sich nach 1959 Dutzende Guerillabewegungen, die sich zwar auf die Indigenen- und Bauernmassen bezogen, deren Kämpfer/innen jedoch vorwiegend aus dem städtischen Milieu, häufig den Universitäten kamen. Die allermeisten dieser Gruppen verschwanden früher (militärisch aufgerieben) oder später (resigniert mit der welthistorischen Niederlage ab 1990).

Anders gelagert sind die Fälle derjenigen lateinamerikanischen Guerillagruppen, die sich aufgrund der staatlichen Repression bildeten und daher in diesem Sinne unfreiwillig entstanden: entweder als antioligarchische Selbstverteidigungsgruppen, z.B. im Kolumbien der 50er Jahre (daraus wurde 1964 die FARC - »Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens«) oder gegen die Militärdiktaturen der 60er-, 70er- und 80er Jahre. Letztere verloren mit der Rückkehr zu bürgerlichen Demokratien ihre Grundlage. In Uruguay, Brasilien und Nicaragua sind heute ehemalige Guerilleras/os Präsidenten - und es scheint, als habe der bewaffnete Kampf im Subkontinent nun die Berechtigung verloren, weil überall gewählt wird, sogar Linke siegen können und die lateinamerikanische Integration sie zudem schützt.

Einzig in Kolumbien gibt es noch bewaffnet kämpfende Linke - warum? In Kolumbien hat sich an der strukturellen Gewalt des Staates und damit den Bedingungen für die unbewaffnete Linke in 65 Jahren Bürgerkrieg nichts Substanzielles geändert, weshalb es für Zehntausende Guerilleros und ihre Unterstützer nicht um politische Korrektheit oder gar eine ethische Kategorie geht, sondern um ihr Überleben.

Daher ist »Es kommt darauf an« die passende Antwort auf die obige Frage. Und zwar völlig unabhängig von persönlicher Sympathie für den bewaffneten Kampf oder gar Empathie für eine der bewaffneten Gruppen.

Zwar gilt Kolumbien in Europa manchen als »stabilste Demokratie Lateinamerikas«, aber die Wahlergebnisse sind regelmäßig entweder durch Morde an Oppositionellen, durch massive Drohungen oder durch Fälschungen zustande gekommen. Wollten sich Guerilla-Kämpfer/innen in das unbewaffnete politische Geschehen einbringen und gaben die Waffen ab, so wurden sie danach von staatlichen und paramilitärischen Banden meist bestialisch ermordet. Im Falle der aus den FARC entstandenen Patriotischen Union (UP) waren das nach 1984 etwa 5000 Menschen, weshalb die Überlebenden vielfach zurück in den bewaffneten Widerstand gingen. Mindestens 1200 Menschen aus Armenvierteln wurden 2010 von Soldaten ermordet, um sie wegen der Prämien als FARC-Kämpfer zu präsentieren.

Auf Kolumbien fallen zwei Drittel der weltweit pro Jahr ermordeten Gewerkschaftsmitglieder; viele Kämpfer des ELN2 oder der FARC sind untergetauchte Gewerkschafter oder Mitglieder linker Parteien. Bewaffneter Kampf wird von ihnen weder voluntaristisch noch altruistisch, sondern in Selbstverteidigung geführt - solche Gegengewalt wird von der UN-Charta als legitim betrachtet. Das Fernziel des Sozialismus ergibt sich aus der unnachgiebig-mörderischen Haltung der lokalen Oligarchie; das Nahziel bleibt der gesellschaftlich gerechte Frieden. Die aktuellen, von den FARC militärisch erzwungenen Verhandlungen werden deshalb nur unter massiver Mitwirkung des Volkes erfolgreich sein können.

** Günter Pohl arbeitet und schreibt regelmäßig zu den politischen Entwicklungen in Lateinamerika mit den Schwerpunkten Kolumbien, Ecuador und Kuba , unter anderem in »Unsere Zeit« (Wochenzeitung der DKP).

Beide Beiträge erschienen in: neues deutschland, Samstag, 16. Februar 2013 ("Debatte")


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