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"Die Kinder sind für uns soziale Subjekte"

Die Republik Benposta kümmert sich um marginalisierte Jugendliche

Die Kinderrechte werden in vielen Regionen Kolumbiens systematisch verletzt. Schätzungen zufolge gibt es rund 11 000 Kindersoldaten und zwei Millionen Kinder, die nicht zur Schule gehen. Aus ihrer oftmals aussichtslosen Situation will die Kinderrepublik Benposta den Kindern helfen. Mit dem Gründer von Benposta, dem 61-jährigen Spanier José Luis Campos, einem studierten Philosophen und Theologen, der seit 34 Jahren in Kolumbien lebt, sprach für das "Neue Deutschland" (ND) Knut Henkel.



ND: Sie leiten die Kinderrepublik »Benposta«. Seit wann gibt es die und wie funktioniert eine Kinderrepublik?

Campos: Die Idee dahinter entstand vor fünfzig Jahren in Spanien. Dort gründete der Pfarrer Jesús Cesar Silva Méndez in Orense »Benposta, Nación de Muchachos«. Ziel ist es, Kinder vor Ausbeutung und Ausschluss zu schützen. In Kolumbien haben wir mit unser Arbeit 1974 begonnen und sind in drei Regionen des Landes präsent: in Bogotá und den Departamentos Meta und Córdoba. Bei uns können die Kinder selbstbestimmt leben, sie gründen sozusagen ihre eigene Regierung und entscheiden selbst. Bisher unterhalten wir an zwei Orten, in Bogotá und in Villavicencia, eine Art Kinderdorf und bieten Kindern dort Zuflucht an, die bedroht, ausgebeutet, zwangsrekrutiert oder anderweitig missbraucht wurden.

In Bogotá sind derzeit 150 Kinder zwischen neun und achtzehn Jahren, die im Projekt leben. In der internen Struktur der Kinderrepublik wird alle zwei Jahre gewählt, es gibt eine lokale Verwaltung, das Bürgermeisteramt, und eine Regierung. Die Kinder sind für uns soziale Subjekte und keine hilfsbedürftigen Objekte. Sie organisieren sich selbst. So zum Beispiel sind nicht wir Erwachsenen es, die über die Lebensmittel wachen und sie verteilen, sondern die Kinder. Die kümmern sich darum, dass gekocht und auch gegessen wird.

Ist das Teil der »Wiederherstellung der Träume«? So lautet doch eines der Projektziele von Benposta.

Oh ja. Ein Begriff, den wir in unserer Arbeit benutzen, ist das »Recht auf Hoffnung«. Dieses Recht müssen alle Kinder haben und wir geben uns viel Mühe, die Hoffnung in ihnen wiederzuerwecken. Dazu muss man wissen, dass die Verhältnisse in Kolumbien ausgesprochen kompliziert und schwierig sind. 40 Prozent der 44 Millionen Kolumbianer sind Kinder unter 18 Jahre und viele von ihnen werden systematisch ihrer Rechte beraubt. So gehen zwei Millionen Kinder in Kolumbien nicht zur Schule, es gibt Kinder, die sich mit acht, neun Jahren um ihre Geschwister kümmern müssen und für die ihre Kindheit beendet ist. Das Recht, die eigene Kindheit zu genießen, haben nur wenige Kinder. Das ist ein echtes Privileg in Kolumbien. Wir weisen auf dieses Problem hin und zeigen Alternativen auf, wie man den Kindern ihre Rechte und die Hoffnung wiedergeben kann. Verweigern wir den Kindern ihre Rechte in der Gegenwart, nehmen wir ihnen und uns selbst unsere Zukunft.

Wie verhält sich die Regierung - gibt es Unterstützung?

Das ist eine komplizierte Frage, denn auf konstitutioneller und juristischer Ebene ist Kolumbien ein recht weit fortgeschrittenes Land mit Normen, Gesetzen und Verordnungen. Formell werden die Kinderrechte geschützt und es gibt auch die juristischen Instrumente, um diese Rechte durchzusetzen. Das zentrale Problem aus unserer Perspektive ist jedoch, dass der Staat in vielen Regionen nicht präsent ist und dass nicht nur dort die Kinder sich selbst überlassen sind. Die besten Gesetze helfen nicht, wenn man sie nicht durchsetzt.

Ein spezifischer Bereich ist die Reintegration von Kindersoldaten. In diesem Bereich hat sich die Regierung ehrgeizige Ziele gesetzt. Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation?

Grundsätzlich werden die Kindersoldaten als Opfer und nicht als Täter behandelt. Das ist ein großer Fortschritt und es gibt darauf aufbauend eine Strategie zur Reintegration und zur Wiederherstellung ihrer Rechte. Das ist ausgesprochen positiv und da ist Kolumbien sicherlich sehr viel weiter als viele andere Länder. Allerdings gibt es einen großen Widerspruch, denn viele der Kinder, die eine Reintegrationsmaßnahme durchlaufen, fassen nicht wieder Fuß. Es gibt immer wieder ehemalige Kindersoldaten, die mit 17 oder 18 Jahren erneut zur Waffe greifen und zurück in den Krieg gehen. Der zentrale Grund dafür ist, dass sie keine Perspektiven und keine Alternativen zum Krieg sehen. Das ist eine andere Facette der kolumbianischen Realität. Wir arbeiten zum Beispiel auch im Departamento Meta und dort gibt es nach wie vor große paramilitärische Verbände, die Kinder anwerben.

Nach offizieller Lesart wurden die Paramilitärs entwaffnet und demobilisiert - steckt da Strategie dahinter?

Alle Welt weiß, dass die Paramilitärs auch weiterhin in allen Landesteilen operieren und obendrein haben wir bis jetzt 33 Abgeordnete, die wegen Kollaboration mit den Paramilitärs verhaftet wurden. Gegen eine ganze Reihe weiterer Abgeordneter wird noch ermittelt.

Wie beurteilen Sie die Perspektiven der kolumbianischen Jugend?

Die Situation ist schwierig, denn es fehlt an Alternativen und enttäuschte Jugendliche, die nicht wissen, wohin sie sollen, gibt es zuhauf. Ich bin in meinen 34 Jahren in Kolumbien noch nie so pessimistisch gewesen wie heute, denn der Austausch von Gefangenen, auf den man kürzlich noch hoffte, hat genauso wenig stattgefunden wie die Aufnahme von Verhandlungen. Wir leben in Kolumbien in einem permanenten Widerspruch, doch die Hoffnung, die stirbt zuletzt.

* Aus: Neues Deutschland, 22. Juli 2008


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