Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Kolumbien: Keine Kinder für den Krieg

Von Werner Hörtner, Barrancabermeja *

Barrancabermeja ist das Zentrum der kolumbianischen Erdölindustrie. Es ist auch der Sitz der OFP, einer der aktivsten Frauenorganisationen des Landes - und erklärtes Ziel der Paramilitärs.



Es war am Morgen des 4. Novembers, als zwei maskierte und bewaffnete Männer in die Wohnung von Yolanda Becerra in Barrancabermeja eindrangen - obwohl beim Eingang des Wohnblocks ein Wachposten stationiert war. Sie misshandelten Becerra, drückten ihr die Waffe so fest in die Stirn, dass sich noch lange danach der Abdruck der Mündung abzeichnete. Und sie drohten: «Wenn du nicht binnen 48 Stunden von hier verschwindest, wird es dir und deiner Familie schlecht ergehen!»

«Yolanda dachte, das sei ihre letzte Stunde. Die Männer hätten sie ohne weiteres töten können», sagt Jackeline Rojas von der kolumbianischen Organización Femenina Popular (OFP). Sie haben es nicht getan, weil die politischen Kosten für die Täter im Fall einer Ermordung von Becerra zu hoch gewesen wären - davon ist Rojas überzeugt. Stattdessen hätten sie «Becerra nur bedroht». Rojas weiss, wovon sie spricht. Am gleichen Tag war auch bei ihr zu Hause ein Kommando der Paramilitärs eingedrungen. Sie beschränkten sich allerdings darauf, das Spezialschloss der Wohnungstür mit einem Kleber unbrauchbar zu machen, da Rojas und ihre Familie zu dem Zeitpunkt abwesend waren. Eine Drohung mit der klaren Aussage: Wir können euch jederzeit an jedem Ort erwischen, selbst in euren gesicherten Wohnungen.

Es handelt sich dabei nicht um leere Drohungen. Yolanda Becerra und Jackeline Rojas wurden angegriffen, weil sie dem Führungsgremium der OFP angehören. Drei Mitarbeiterinnen der Organisation wurden in den letzten Jahren von den Paramilitärs ­ermordet, über 140 wurden angegriffen, bedroht oder entführt. Die Organización ­Femenina Popular ist eine der grössten und auch international bekannten Frauenorganisation Kolumbiens. Sie wurde 1972 gegründet und war Teil der Sozial­pastorale der Diözese ­Barrancabermeja. Ihr Ziel war es, die Frauen in ihrem Kampf gegen Unterdrückung und ­familiäre ­Gewalt zu organisieren. 1988 löste sie sich von der Diözese und wurde eine eigenständige Organisation, doch erst Mitte der neunziger Jahre wurde sie auch über die Grenzen von Barrancabermeja hinaus aktiv. Zurzeit hat die OFP rund 3000 aktive Mitglieder (vgl. unten «Solidarität als Erfolgsmodell»).

«Militärisches Ziel»

Die Stadt Barrancabermeja hat rund 350 000 EinwohnerInnen und liegt am Mittellauf des Rio Magdalena, dem grössten Fluss des Landes. Seit Jahrzehnten ist Barrancabermeja das Zentrum der kolumbianischen Erdölindustrie. Bis in die neunziger Jahre stand die Stadt unter der Kontrolle der Guerillabewegungen Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens (Farc) und des Nationalen Befreiungsheers (ELN). Erst 1998 erkämpften paramilitärische Einheiten mit tatkräftiger Unterstützung von Polizei und Militär die Vorherrschaft in der Region.

Aufgrund der Eskalation des bewaffneten Kampfes in der Region Barrancabermeja hat auch die OFP ihr Aktionsprofil angepasst. 1996 entstand die «Verbindung der Frauen gegen den Krieg und für den Frieden» mit dem Leitspruch «Wir gebären keine Kinder für den Krieg». Durch ihr Engagement für die Menschenrechtsarbeit gerieten sie bald ins Visier der paramilitärischen Einheiten. Anfang 2001 wurde die OFP von den Paramilitärs offiziell zum «militärischen Ziel» erklärt. Nach einer Grosskundgebung der Organisation gegen den Krieg im Sommer des gleichen Jahres drohten die «Paras», wie sie in Kolumbien genannt werden, alle Mitglieder der OFP umzubringen.

Der Nachbar oder Freund

Offiziell gibt es die Paramilitärs nicht mehr. Die erste Amtsperiode von Álvaro Uribe Vélez, seit August 2002 Präsident des Landes, war geprägt vom sogenannten Demobilisierungsprozess der Paramilitärs, der Mitte 2006 abgeschlossen wurde. Über 30 000 angebliche Paras erklärten ihre Abkehr vom bewaffneten illegalen Kampf. Seither kommen immer mehr Details der engen Zusammenarbeit der Paramilitärs mit Polizei, Militär und PolitikerInnen auch aus dem Umfeld des Präsidenten an die Öffentlichkeit (siehe WOZ Nr. 23/07).

Doch von dieser immer wieder gelobten Demobilisierung ist im Gebiet des mittleren Magdalena selbst nichts zu spüren. Für die Menschen hat sich hier nichts geändert. Die Paramilitärs sind weiterhin präsent, geändert haben sich nur die Namen der Einheiten. Und weiterhin ist jeder Versuch, in Kolumbien das bestehende System zu verändern, lebensgefährlich.

Yolanda Becerra ist seit zwanzig Jahren Direktorin der OFP und war als eine der «Tausend Frauen für den Friedensnobelpreis 2005» nominiert. Für Becerra ist es klar, weshalb die OFP zum Ziel der Paramilitärs wurde: «Wir sind eine Basisbewegung und treten mit unsrer Arbeit für eine Veränderung der Gesellschaftsstrukturen ein. Das ist ohne soziale Mobilisierung nicht möglich», sagt sie. Und auch Jackeline Rojas weiss, dass die Paramilitärs mit allem aufräumen wollen, was in Opposition zum Staat steht. Die OFP gehört dazu. Schliesslich wollen «wir Frauen von der OFP nicht nur unser eigenes Leben retten, sondern auch das der Paramilitärs», sagt Rojas. Denn jeder Kämpfer kann auch der Sohn einer Nachbarin oder ein Freund aus der Kindheit sein.

Eine Million FreundInnen

Seit Jahren leben und arbeiten die Aktivistinnen der OFP in einem Klima der ständigen Bedrohung. Jackeline Rojas hat die Gewalt aus nächster Nähe erlebt: Vor zehn Jahren wurde ihr Vater von der Farc ermordet, weil er von seinem Chef bei der damals noch staatlichen Erdölgesellschaft Ecopetrol verpflichtet wurde, als Chauffeur für das Militär zu arbeiten. Ihr Bruder wurde vor wenigen Jahren von den Paramilitärs umgebracht, weil er in der Gewerkschaft aktiv war. Auch auf ihren Mann, ebenfalls Gewerkschafter, wurde ein Attentat verübt.

«Es ist nicht leicht, mit dieser ständigen Angst umzugehen», sagt Yolanda Becerra, «aber wir finden Ventile. Wir sprechen über die Angst, um sie zu entmystifizieren. Doch gibt es Momente, in denen man glaubt, nicht weiterzukönnen.» Trotz der Drohungen hat Becerra beschlossen, weiter in Barrancabermeja zu bleiben und ihre Arbeit fortzusetzen. Obwohl die Stadt auch weiter von den Paras kontrolliert wird. Seit dem Überfall im November wird Becerra von Freiwilligen der Schweizer Sektion der Internationalen Friedensbrigaden rund um die Uhr begleitet.

Bei den Kommunalwahlen letzten Herbst haben zwar linke oder unabhängige Parteien die Bürgermeisterämter der drei grössten Städte Bogotá, Cali und Medellín gewonnen, doch in den ländlichen Regionen vor allem im Norden ist der Einfluss der Paramilitärs in der Politik immer noch sehr stark. Nach der Zuspitzung der Lage im letzten Herbst ist die OFP nun damit beschäftigt, neue Methoden und Strategien zu entwerfen, um das Leben der Aktivistinnen und den Fortgang der Arbeit zu sichern.

Einen wichtigen Stellenwert nehmen dabei die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen im Inland und die Unterstützung aus dem Ausland ein. Deshalb hat die OFP vergangenes Jahr eine internationale Kampagne lanciert mit dem Ziel, weltweit «eine Million Freundinnen und Freunde» zu gewinnen. Die Kampagne soll es der OFP ermöglichen, durch die symbolische oder materielle Unterstützung aus dem Ausland ihre Arbeit im Bereich «soziale Organisation, Anprangerung von Unrecht und Verteidigung der Menschenrechte der Frauen» fortzusetzen.

Solidarität als Erfolgsmodell

Die rund 3000 Mitglieder der Organización Femenina Popular (OFP) betreuen in ganz Kolumbien rund 173 000 Menschen. Sechzig Prozent davon sind direkt Betroffene des nun seit sechzig Jahren andauernden Bürgerkriegs - unter ihnen viele Vertriebe, durch bewaffnete Gruppen bedrohte Personen, Angehörige von ermordeten AktivistInnen sowie Opfer familiärer Gewalt. Der Hauptsitz und die meis­ten Anlaufstellen der OFP befinden sich in Barrancabermeja, doch inzwischen verfügt die Organisation landesweit über verschiedene Netze aus Frauenhäusern, Gesundheits- und Verpflegungsstationen sowie Rechtsberatungsstellen und ein eigenes Informationszentrum.

Die Arbeit der OFP umfasst zudem ein breites soziales, politisches und wirtschaftliches Spektrum. Die Mitglieder engagieren sich in
  • Ausbildungsprogrammen und Kooperativen,
  • gewerkschaftlicher Arbeit,
  • Beratungsleistungen und Informationsveranstaltungen vor Ort,
  • Gesundheitsförderung durch Workshops und Unterlagen,
  • kulturellen Aktivitäten auch für Kinder und Jugendliche,
  • der Förderung von lokalen Entwicklungsprojekten,
  • der Menschenrechtsarbeit, beispielsweise der Unterstützung für vertriebene Familien und der Rechtshilfe für Opfer von Menschenrechtsverletzungen,
  • Kampagnen gegen Gewalt und Krieg.
Diese Arbeit und ihre systemkritische Haltung bringen die OFP seit Jahren in Konflikt mit der rechtsautoritären Regierung von Präsident Álvaro Uribe Vélez. Laut einem Bericht der US-Sektion von Amnesty International kursiert in Barrancabermeja seit 2005 eine Todesliste der Paramilitärs. Auf der Liste stehen Namen von MenschenrechtsaktivistInnen, Gewerkschaftern und Journalistinnen sowie Menschen und Organisationen, die die Paras ablehnen, darunter auch die OFP. Die kolumbianische Regierung verspricht seit Jahren, gegen die Paramilitärs vorzugehen. Doch die Attacken, Drohungen und Einschüchterungsversuche gegen die OFP halten an.

Internet: www.ofp.org.co
www.frauensolidaritaet.org




* Werner Hörtner ist Journalist bei "Südwind" und "Lateinamerika anders". Im Dezember 2007 erschien im Rotpunktverlag sein Buch "Kolumbien verstehen. Geschichte und Gegenwart eines zerrissenen Landes" in einer aktualisierten Neuauflage.

Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 20. März 2008



Zurück zur Kolumbien-Seite

Zur Seite "Kindersoldaten, Kinderrechte"

Zurück zur Homepage