Kolumbien: Keine Kinder für den Krieg
Von Werner Hörtner, Barrancabermeja *
Barrancabermeja ist das Zentrum der kolumbianischen Erdölindustrie. Es
ist auch der Sitz der OFP, einer der aktivsten Frauenorganisationen des
Landes - und erklärtes Ziel der Paramilitärs.
Es war am Morgen des 4. Novembers, als zwei maskierte und bewaffnete
Männer in die Wohnung von Yolanda Becerra in Barrancabermeja eindrangen
- obwohl beim Eingang des Wohnblocks ein Wachposten stationiert war. Sie
misshandelten Becerra, drückten ihr die Waffe so fest in die Stirn, dass
sich noch lange danach der Abdruck der Mündung abzeichnete. Und sie
drohten: «Wenn du nicht binnen 48 Stunden von hier verschwindest, wird
es dir und deiner Familie schlecht ergehen!»
«Yolanda dachte, das sei ihre letzte Stunde. Die Männer hätten sie ohne
weiteres töten können», sagt Jackeline Rojas von der kolumbianischen
Organización Femenina Popular (OFP). Sie haben es nicht getan, weil die
politischen Kosten für die Täter im Fall einer Ermordung von Becerra zu
hoch gewesen wären - davon ist Rojas überzeugt. Stattdessen hätten sie
«Becerra nur bedroht». Rojas weiss, wovon sie spricht. Am gleichen Tag
war auch bei ihr zu Hause ein Kommando der Paramilitärs eingedrungen.
Sie beschränkten sich allerdings darauf, das Spezialschloss der
Wohnungstür mit einem Kleber unbrauchbar zu machen, da Rojas und ihre
Familie zu dem Zeitpunkt abwesend waren. Eine Drohung mit der klaren
Aussage: Wir können euch jederzeit an jedem Ort erwischen, selbst in
euren gesicherten Wohnungen.
Es handelt sich dabei nicht um leere Drohungen. Yolanda Becerra und
Jackeline Rojas wurden angegriffen, weil sie dem Führungsgremium der OFP
angehören. Drei Mitarbeiterinnen der Organisation wurden in den letzten
Jahren von den Paramilitärs ermordet, über 140 wurden angegriffen,
bedroht oder entführt. Die Organización Femenina Popular ist eine der
grössten und auch international bekannten Frauenorganisation Kolumbiens.
Sie wurde 1972 gegründet und war Teil der Sozialpastorale der Diözese
Barrancabermeja. Ihr Ziel war es, die Frauen in ihrem Kampf gegen
Unterdrückung und familiäre Gewalt zu organisieren. 1988 löste sie
sich von der Diözese und wurde eine eigenständige Organisation, doch
erst Mitte der neunziger Jahre wurde sie auch über die Grenzen von
Barrancabermeja hinaus aktiv. Zurzeit hat die OFP rund 3000 aktive
Mitglieder (vgl. unten «Solidarität als Erfolgsmodell»).
«Militärisches Ziel»
Die Stadt Barrancabermeja hat rund 350 000 EinwohnerInnen und liegt am
Mittellauf des Rio Magdalena, dem grössten Fluss des Landes. Seit
Jahrzehnten ist Barrancabermeja das Zentrum der kolumbianischen
Erdölindustrie. Bis in die neunziger Jahre stand die Stadt unter der
Kontrolle der Guerillabewegungen Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens
(Farc) und des Nationalen Befreiungsheers (ELN). Erst 1998 erkämpften
paramilitärische Einheiten mit tatkräftiger Unterstützung von Polizei
und Militär die Vorherrschaft in der Region.
Aufgrund der Eskalation des bewaffneten Kampfes in der Region
Barrancabermeja hat auch die OFP ihr Aktionsprofil angepasst. 1996
entstand die «Verbindung der Frauen gegen den Krieg und für den Frieden»
mit dem Leitspruch «Wir gebären keine Kinder für den Krieg». Durch ihr
Engagement für die Menschenrechtsarbeit gerieten sie bald ins Visier der
paramilitärischen Einheiten. Anfang 2001 wurde die OFP von den
Paramilitärs offiziell zum «militärischen Ziel» erklärt. Nach einer
Grosskundgebung der Organisation gegen den Krieg im Sommer des gleichen
Jahres drohten die «Paras», wie sie in Kolumbien genannt werden, alle
Mitglieder der OFP umzubringen.
Der Nachbar oder Freund
Offiziell gibt es die Paramilitärs nicht mehr. Die erste Amtsperiode von
Álvaro Uribe Vélez, seit August 2002 Präsident des Landes, war geprägt
vom sogenannten Demobilisierungsprozess der Paramilitärs, der Mitte 2006
abgeschlossen wurde. Über 30 000 angebliche Paras erklärten ihre Abkehr
vom bewaffneten illegalen Kampf. Seither kommen immer mehr Details der
engen Zusammenarbeit der Paramilitärs mit Polizei, Militär und
PolitikerInnen auch aus dem Umfeld des Präsidenten an die Öffentlichkeit
(siehe WOZ Nr. 23/07).
Doch von dieser immer wieder gelobten Demobilisierung ist im Gebiet des
mittleren Magdalena selbst nichts zu spüren. Für die Menschen hat sich
hier nichts geändert. Die Paramilitärs sind weiterhin präsent, geändert
haben sich nur die Namen der Einheiten. Und weiterhin ist jeder Versuch,
in Kolumbien das bestehende System zu verändern, lebensgefährlich.
Yolanda Becerra ist seit zwanzig Jahren Direktorin der OFP und war als
eine der «Tausend Frauen für den Friedensnobelpreis 2005» nominiert. Für
Becerra ist es klar, weshalb die OFP zum Ziel der Paramilitärs wurde:
«Wir sind eine Basisbewegung und treten mit unsrer Arbeit für eine
Veränderung der Gesellschaftsstrukturen ein. Das ist ohne soziale
Mobilisierung nicht möglich», sagt sie. Und auch Jackeline Rojas weiss,
dass die Paramilitärs mit allem aufräumen wollen, was in Opposition zum
Staat steht. Die OFP gehört dazu. Schliesslich wollen «wir Frauen von
der OFP nicht nur unser eigenes Leben retten, sondern auch das der
Paramilitärs», sagt Rojas. Denn jeder Kämpfer kann auch der Sohn einer
Nachbarin oder ein Freund aus der Kindheit sein.
Eine Million FreundInnen
Seit Jahren leben und arbeiten die Aktivistinnen der OFP in einem Klima
der ständigen Bedrohung. Jackeline Rojas hat die Gewalt aus nächster
Nähe erlebt: Vor zehn Jahren wurde ihr Vater von der Farc ermordet, weil
er von seinem Chef bei der damals noch staatlichen Erdölgesellschaft
Ecopetrol verpflichtet wurde, als Chauffeur für das Militär zu arbeiten.
Ihr Bruder wurde vor wenigen Jahren von den Paramilitärs umgebracht,
weil er in der Gewerkschaft aktiv war. Auch auf ihren Mann, ebenfalls
Gewerkschafter, wurde ein Attentat verübt.
«Es ist nicht leicht, mit dieser ständigen Angst umzugehen», sagt
Yolanda Becerra, «aber wir finden Ventile. Wir sprechen über die Angst,
um sie zu entmystifizieren. Doch gibt es Momente, in denen man glaubt,
nicht weiterzukönnen.» Trotz der Drohungen hat Becerra beschlossen,
weiter in Barrancabermeja zu bleiben und ihre Arbeit fortzusetzen.
Obwohl die Stadt auch weiter von den Paras kontrolliert wird. Seit dem
Überfall im November wird Becerra von Freiwilligen der Schweizer Sektion
der Internationalen Friedensbrigaden rund um die Uhr begleitet.
Bei den Kommunalwahlen letzten Herbst haben zwar linke oder unabhängige
Parteien die Bürgermeisterämter der drei grössten Städte Bogotá, Cali
und Medellín gewonnen, doch in den ländlichen Regionen vor allem im
Norden ist der Einfluss der Paramilitärs in der Politik immer noch sehr
stark. Nach der Zuspitzung der Lage im letzten Herbst ist die OFP nun
damit beschäftigt, neue Methoden und Strategien zu entwerfen, um das
Leben der Aktivistinnen und den Fortgang der Arbeit zu sichern.
Einen wichtigen Stellenwert nehmen dabei die Zusammenarbeit mit anderen
Organisationen im Inland und die Unterstützung aus dem Ausland ein.
Deshalb hat die OFP vergangenes Jahr eine internationale Kampagne
lanciert mit dem Ziel, weltweit «eine Million Freundinnen und Freunde»
zu gewinnen. Die Kampagne soll es der OFP ermöglichen, durch die
symbolische oder materielle Unterstützung aus dem Ausland ihre Arbeit im
Bereich «soziale Organisation, Anprangerung von Unrecht und Verteidigung
der Menschenrechte der Frauen» fortzusetzen.
Solidarität als Erfolgsmodell
Die rund 3000 Mitglieder der Organización Femenina Popular (OFP)
betreuen in ganz Kolumbien rund 173 000 Menschen. Sechzig Prozent davon
sind direkt Betroffene des nun seit sechzig Jahren andauernden
Bürgerkriegs - unter ihnen viele Vertriebe, durch bewaffnete Gruppen
bedrohte Personen, Angehörige von ermordeten AktivistInnen sowie Opfer
familiärer Gewalt. Der Hauptsitz und die meisten Anlaufstellen der OFP
befinden sich in Barrancabermeja, doch inzwischen verfügt die
Organisation landesweit über verschiedene Netze aus Frauenhäusern,
Gesundheits- und Verpflegungsstationen sowie Rechtsberatungsstellen und
ein eigenes Informationszentrum.
Die Arbeit der OFP umfasst zudem ein breites soziales, politisches und
wirtschaftliches Spektrum. Die Mitglieder engagieren sich in
-
Ausbildungsprogrammen und Kooperativen,
- gewerkschaftlicher Arbeit,
- Beratungsleistungen und Informationsveranstaltungen vor Ort,
- Gesundheitsförderung durch Workshops und Unterlagen,
- kulturellen Aktivitäten auch für Kinder und Jugendliche,
- der Förderung von lokalen Entwicklungsprojekten,
- der Menschenrechtsarbeit, beispielsweise der Unterstützung für
vertriebene Familien und der Rechtshilfe für Opfer von
Menschenrechtsverletzungen,
- Kampagnen gegen Gewalt und Krieg.
Diese Arbeit und ihre systemkritische Haltung bringen die OFP seit
Jahren in Konflikt mit der rechtsautoritären Regierung von Präsident
Álvaro Uribe Vélez. Laut einem Bericht der US-Sektion von Amnesty
International kursiert in Barrancabermeja seit 2005 eine Todesliste der
Paramilitärs. Auf der Liste stehen Namen von
MenschenrechtsaktivistInnen, Gewerkschaftern und Journalistinnen sowie
Menschen und Organisationen, die die Paras ablehnen, darunter auch die
OFP. Die kolumbianische Regierung verspricht seit Jahren, gegen die
Paramilitärs vorzugehen. Doch die Attacken, Drohungen und
Einschüchterungsversuche gegen die OFP halten an.
Internet: www.ofp.org.co
www.frauensolidaritaet.org
* Werner Hörtner ist Journalist bei "Südwind" und "Lateinamerika
anders". Im Dezember 2007 erschien im Rotpunktverlag sein Buch
"Kolumbien verstehen. Geschichte und Gegenwart eines zerrissenen Landes"
in einer aktualisierten Neuauflage.
Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 20. März 2008
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