Kolumbiens "Falsche Positive"
Regierung kann Skandal der außergerichtlichen Hinrichtungen nicht länger vertuschen
Von Gerhard Dilger, Porto Alegre *
Derzeit vergeht in Kolumbien kaum ein Tag, an dem nicht Uniformierte wegen ihrer mutmaßlichen
Beteiligung an außergerichtlichen Hinrichtungen festgenommen werden. Am Mittwoch und
Donnerstag (6. und 7. Mai) traf es neun Soldaten verschiedener Dienstgrade.
Die verhafteten Militärangehörigen stehen im Verdacht, insgesamt neun junge Männer in drei
Provinzen ermordet und anschließend als Guerilleros ausgegeben zu haben. »Falsche Positive«
heißt das in der Fachsprache der Militärs, gemeint sind falsche Erfolge im Kampf gegen bewaffnete
Gruppen.
Damit hat sich die Zahl der in den letzten zwei Jahren wegen solcher außergerichtlichen
Hinrichtungen verhafteten Uniformierten auf 434 erhöht. Der jüngste Bericht des UNMenschenrechtsbüros
in Bogotá stellt klar, dass es sich dabei nicht um vereinzelte Aktionen
handelte, »sondern um eine sehr verbreitete Praxis, die von einer bedeutenden Anzahl von
Militäreinheiten im ganzen Land ausgeübt wurde«. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft werden
derzeit über 1000 Fälle untersucht, bei denen insgesamt 1666 Menschen hingerichtet wurden.
Im Oktober waren 27 Soldaten, darunter drei Generäle, wegen der »falschen Positiven« entlassen
worden. Oberbefehlshaber Mario Montoya musste im November zurücktreten. Allein zwischen
Januar 2007 und Juni 2008 wurden nach Untersuchungen von Menschenrechtsgruppen 535
Menschen außergerichtlich hingerichtet.
Am Montag (4. Mai) hatte Verteidigungsminister Juan Manuel Santos erstmals einen derartigen Mord durch
Soldaten eingeräumt, der nach dem Skandal im Oktober stattfand. In der Provinz Córdoba wurde
Weihnachten ein 18-jähriger Schüler ermordet und anschließend als Mitglied einer Drogengang
ausgegeben. Dem kolumbianischen Menschenrechtsnetzwerk »Koordination Kolumbien-Europa-
USA« zufolge geht die Armee neuerdings wieder verstärkt zur Praxis des »Verschwindenlassens«
mit sorgfältiger Verwischung der Spuren über. Zu den außergerichtlichen Hinrichtungen in diesem
Jahr, die die Menschenrechtler bekannt gemacht haben, schweigt die Regierung noch. Minister
Santos wirft den Kritikern hingegen vor, den »guten Ruf« der
Streitkräfte durch »viele falsche Anschuldigungen zu beschmutzen«.
Präsident Álvaro Uribe stößt ins gleiche Horn. Natürlich müssten Menschenrechtsverletzungen
untersucht und bestraft werden, sagte Uribe am Mittwoch. Allerdings werde versucht, durch falsche
Anschuldigungen »die Aktionen der Sicherheitskräfte gegen die Terroristen« zu lähmen, behauptete
der Staatschef und forderte, beschuldigte Soldaten und Polizisten sollten staatlichen Beistand für
ihre Verteidigung erhalten.
Der Regierung kommen die Berichte alles andere als gelegen. Derzeit verhandelt sie in Brüssel
zusammen mit Ecuador und Peru über ein Freihandelsabkommen mit der EU. Appelle von
Gewerkschaftern und Solidaritätsgruppen, dabei Verbesserungen der Menschenrechtslage in
Kolumbien zur Voraussetzung zu machen, verhallen jedoch weitgehend ungehört.
Washington prüft nach Angaben der US-Botschaft, ob die Milliarden für das angebliche
Antidrogenprogramm »Plan Colombia« richtig verwendet würden. Nach Israel und Ägypten ist
Kolumbien der drittgrößte Empfänger US-amerikanischer Militärhilfe. Bislang hat der US-Kongress
mit Verweis auf die prekäre Menschenrechtslage die Ratifizierung eines Freihandelsabkommens mit
Kolumbien verweigert.
* Aus: Neues Deutschland, 9. Mai 2009
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