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Duett auf Distanz

Kolumbien: Gut koordiniert bestätigen Regierung und Guerilla offiziell die Aufnahme von Friedensverhandlungen. Lob aus Havanna, Oslo und Caracas

Von André Scheer *

Es hat geklappt. In einer offenbar koordinierten Aktion haben sowohl die kolumbianische Regierung als auch die FARC-Guerilla am Dienstag (Ortszeit) die Aufnahme von Friedensverhandlungen offiziell bestätigt. Diese waren zwar bereits Anfang vergangener Woche durch Medieninformationen bekanntgeworden (jW berichtete), bislang hatten sich jedoch sowohl Präsident Juan Manuel Santos als auch die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens mehr oder weniger an ihr selbstauferlegtes Schweigen gehalten. Während Santos lediglich bestätigte, man habe »Sondierungsgespräche« geführt, präsentierten sich die FARC mit einem skurrilen Musikvideo, in dem junge Guerilleros ihre Freude über die Verhandlungen rappten. Ernsthaft gearbeitet

Am Dienstag mittag trat dann zunächst der Staatschef im Regierungspalast Casa de Nariño an die Öffentlichkeit. Umrahmt von Mitgliedern seines Kabinetts und hochrangigen Militärs würdigte er die Bereitschaft der Guerilleros zur Zusammenarbeit: »Wir haben ernsthaft gearbeitet, aber ich muß anerkennen, daß auch die FARC dies getan haben.« Zugleich beharrte er jedoch darauf, daß die Militäroperationen trotz der Verhandlungen weitergehen müßten und warnte sogar, daß die Gewalt zunächst sogar noch zunehmen könne.

Nur eine Stunde später traten im gut 2200 Kilometer entfernten Havanna Vertreter der FARC vor die in Kuba akkreditierten Journalisten und präsentierten eine Videobotschaft von Timoleón Jiménez (»Timochenko«, eigentlich Rodrigo Londoño Echeverri). Flankiert von Fahnen der FARC und der Klandestinen Kolumbianischen Kommunistischen Partei (PCCC), dem politischen Arm der Guerilla, rief der oberste Comandante der Aufständischen die Bevölkerung auf, durch Demonstrationen Druck auf die Regierung auszuüben, damit bei den Verhandlungen tiefgreifende soziale Veränderungen in Kolumbien als Voraussetzung für einen Friedensschluß erreicht werden könnten.

Das fast gleichzeitige Auftreten der beiden Verhandlungspartner war offenbar lange vorher vereinbart worden, und trotz massiven Drucks der Medien hatten sich beide Seiten an die Schweigepflicht gehalten. Verhindern konnten sie jedoch nicht, daß einzelne Informationen vorab durchsickerten. So verbreitete der Rundfunksender RCN in der vergangenen Woche bereits eine Fassung der zwischen der Regierung und der Guerilla ausgehandelten Agenda. Dabei handelte es sich offensichtlich um eine vorläufige Fassung, in der zum Beispiel noch das Enddatum der Vorgespräche fehlte. Eine offizielle Fassung mit den Unterschriften aller Beteiligten hat Bogotá inzwischen im Internet veröffentlicht.

Dem Frieden verpflichtet

Unmittelbar nach den beiden Statements meldeten sich die Länder zu Wort, die als Vermittler und Garanten wirken sollen. »Die kubanische Revolution ist dem Frieden in Kolumbien historisch verpflichtet«, teilte das Außenministerium in Havanna mit. Auf ausdrücklichen Wunsch der Regierung Kolumbiens und der FARC habe man seit über einem Jahr diskret das Bemühen um eine Verhandlungslösung unterstützt. Norwegens Außenminister Jonas Gahr Støre lobte den »Mut« der beiden Seiten: »Wir teilen die Hoffnung des kolumbianischen Volkes, daß eine friedliche Lösung gefunden werden kann.« Venezuelas Präsident Hugo Chávez begrüßte »die Reife und das Verantwortungsbewußtsein der politischen Akteure« und zitierte den auch in Kolumbien verehrten Nationalhelden Simón Bolívar: »Der Frieden wird mein Ruhm und meine Belohnung sein.«

Die Verhandlungen sollen in der ersten Oktoberhälfte in Oslo offiziell eröffnet und dann in Havanna fortgesetzt werden. Endlose Gespräche will Santos jedoch verhindern. Es gehe »um Monate, nicht um Jahre«. Sollte es keine Fortschritte geben, müßte der Dialog abgebrochen werden.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 06. September 2012

Comandante Timoleón Jiménez

Aus der Videobotschaft am Dienstag in Havanna:

Unsere Delegierten haben am 27. August des laufenden Jahres in Havanna, im revolutionären Kuba von Fidel und Che, im sozialistischen Heimatland von José Martí, das sogenannte Generalabkommen zur Beendigung des Konflikts und zum Aufbau eines stabilen und dauerhaften Friedens unterzeichnet.

Damit wird wieder ein Dialogprozeß zum Erreichen des Friedens in unserem Heimatland eingeleitet; ein edles und legitimes Ziel, das die kolumbianische Aufstandsbewegung bereits seit einem halben Jahrhundert verfolgt. (...)

Uns ist vollkommen klar, daß der Schlüssel zum Frieden nicht in der Tasche des Präsidenten der Republik steckt, und auch nicht in der des Comandante der FARC-EP. Der einzige wirkliche Verwahrer eines solchen Schlüssels ist das Volk dieses Landes. Er liegt bei den Millionen Opfern dieses elitären und gewalttätigen Regimes, bei den Opfern seiner neoliberalen Ausblutungspolitik, bei denen, die von wirklicher Demokratie in einem liebenswerten, sich entwickelnden und friedlichen Heimatland träumen (…) Es geht darum, für den Frieden auf die Straße zu gehen, für den gemeinsamen Aufbau eines neuen Landes. Es geht darum, den Herren der Gewalt den Weg zu versperren; für tiefgreifende Veränderungen der herrschenden Ordnung zu kämpfen. (...)

Wir rufen das gesamte Kolumbien auf, Stellung zu beziehen, seine Beteiligung einzufordern oder sie auf den Straßen und Plätzen auszuüben, wie wir es über Jahrhunderte gelernt haben. (...)

Unsererseits treten wir ohne Groll und ohne Arroganz an den Verhandlungstisch, um der nationalen Regierung zu sagen, daß sie die unten stehenden Menschen ernst nehmen muß; daß sie deren Ziele nicht als einfältig beurteilen darf, daß sie sie nicht für unfähig halten darf, Großes zu leisten, daß sie deren Recht anerkennen muß, an den wichtigen nationalen Entscheidungen teilzunehmen.

Mit der geschlossenen Unterstützung der großen Massen haben wir nicht vor, uns von diesem Tisch zu erheben, ohne daß diese Banner Wirklichkeit geworden sind.

Wir haben geschworen zu siegen, und wir werden siegen!


Präsident Juan Manuel Santos

Aus der Rede am Dienstag in Bogotá:

Ich möchte Ihnen heute mitteilen, daß die (von mir vor einigen Tagen bestätigten) Sondierungsgespräche mit der Unterzeichnung eines Rahmenabkommens zwischen der nationalen Regierung und den FARC abgeschlossen wurden, das ein Verfahren – eine Road Map – festlegt, um zu einem Abschlußabkommen zu gelangen, das ein für allemal die Gewalt zwischen Kindern derselben Nation beendet. (...)

Nach diesen Sondierungsgesprächen bin ich überzeugt, daß wir die tatsächliche Chance haben, den inneren bewaffneten Konflikt endgültig zu beenden. Es handelt sich zweifellos um einen schwierigen, sehr schwierigen Weg, aber es ist ein Weg, den wir erkunden müssen. Jeder verantwortungsbewußte Regierende weiß, daß er eine Gelegenheit wie diese, den Konflikt zu beenden, nicht verstreichen lassen darf.

Das werden die Millionen Opfer verstehen! Wie viele Kolumbianer haben den Konflikt nicht am eigenen Leib erlitten? Wie viele Kolumbianer haben nicht einen Familienangehörigen, der Opfer der Gewalt geworden ist?

Wir stehen aus zwei fundamentalen Gründen vor einen neuen Chance: Erstens, weil sich Kolumbien verändert hat und weil sich die Welt verändert hat. (…) Wir können heute von Frieden sprechen, weil Kolumbien wächst und sich der Welt öffnet. Unsere Wirtschaft ist eine der blühendsten Lateinamerikas, ähnlich der Argentiniens und nur übertroffen von der Brasiliens und Mexikos. Sie ist eine Ökonomie, die wie wenige andere auf der Welt inmitten starker internationaler Turbulenzen Arbeitsplätze schafft. Wir können heute von Frieden sprechen, weil Millionen Kolumbianer der Armut entkommen und weil wir in diese Richtung weiter voranschreiten.

Wir können heute von Frieden sprechen, weil der Einsatz von Gewalt zur Erlangung politischer Ziele eine Sache der Vergangenheit ist. Kein Land der Region toleriert ihn, und in mehreren gibt es Regierende, die den bewaffneten Kampf aufgegeben und sich für den Weg der Demokratie entschieden haben. Nicht nur Kolumbien, der gesamte Kontinent will in Frieden leben und unterstützt uns in diesem Ziel.«




Geschichte der FARC **

Als Auslöser des jahrzehntelangen Bürgerkriegs in Kolumbien gilt die Ermordung des linksliberalen Präsidentschaftskandidaten Jorge Eliecer Gaitán am 9. April 1948. Seither ist das südamerikanische Land nicht zur Ruhe gekommen.

In den 50er Jahren entstanden in den ländlichen Regionen Selbstverteidigungsgruppen der Bauern gegen den Terror der Großgrundbesitzer und der Regierung. 1962 versuchte die Armee, diese von Manuel Marulanda Vélez geführte Widerstandsbewegung in der Region Marquetalia mit einer Großoffensive, an der 5000 Soldaten teilnahmen, zu zerschlagen. Der Angriff scheiterte, die Rebellen konnten sich zurückziehen. Dieses Datum gilt den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) heute als ihr Gründungstag. Unterstützt wurden die damals zunächst nur 42 Rebellen durch die Kommunistische Partei, die die Offensive der Armee anprangerte und den Widerstand unterstützte.

Am 20. Juli 1964 verabschiedete die Vollversammlung der jungen Guerilla ihr Agrarprogramm, bis heute eine der entscheidenden ideologischen Grundlagen der Bewegung. 1966 konstituierten sich die Aufständischen dann offiziell als FARC.

Kurz darauf mußte die Organisation schwere Schläge einstecken und verlor rund 70 Prozent ihrer Kämpfer. Erst 1974 konnte sie diese Krise überwinden. Als Ausdruck der gewachsenen Stärke ergänzten die FARC 1982 ihren Namen um das Kürzel EP: Ejército del Pueblo – Armee des Volkes.

Zwei Jahre später unterzeichneten die Aufständischen und die Regierung des damaligen Präsidenten Belisario Betancur einen Waffenstillstand. Auf Initiative der FARC gründete sich die Patriotische Union (UP). Doch die legale Partei wurde Zielscheibe eines Vernichtungskrieges durch Paramilitärs und Sicherheitskräfte. Mehr als 2000 ihrer Mitglieder wurden ermordet.

Am 9. Dezember 1990 ließ Staatschef César Gaviria Trujillo die Armee das »Grüne Haus«, den Sitz des Sekretariats der FARC-EP, bombardieren. Die Guerilla konnte den Angriff zurückschlagen. Im Februar 1991 eröffneten die FARC eine Gegenoffensive und zwangen das Regime wieder zu Verhandlungen. Doch die Gespräche in Venezuela und Mexiko scheiterten. Ebenso die Verhandlungen, die unter dem damaligen Präsidenten Andrés Pastrana zwischen 1998 und 2002 in einem 42000 Quadratkilometer großen »entmilitarisierten Gebiet« um San Vicente del Caguán geführt wurden.

In den vergangenen Jahren mußten die FARC schwere Schläge einstecken. Mehrere ihrer führenden Comandantes wurden von den Regierungstruppen ermordet. Schätzungen zufolge gehören den FARC heute rund 9000 Kämpfer an. (scha)

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 06. September 2012


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