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Tödlicher Fehler

Kolumbien: Gescheiterte Befreiungsaktion kostet vier gefangene Soldaten das Leben

Von Santiago Baez *

Nach dem Tod von vier Gefangenen der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) am vergangenen Sonnabend ist in dem süd­amerikanischen Land eine Diskussion um gewaltsame Befreiungsversuche durch die Armee entbrannt. Angaben der Regierung in Bogotá zufolge waren die Offiziere von der Guerilla erschossen worden, nachdem ihr Lager von den Regierungstruppen entdeckt und angegriffen worden war. Nur ein seit zwölf Jahren gefangener Offizier, Luis Alberto Erazo, überlebte das Gefecht und konnte entkommen. Er wurde nach Bogotá gebracht, wo er am Sonntag (Ortszeit) von seinen Angehörigen und Staatschef Juan Manuel Santos empfangen wurde.

Von den FARC lag zunächst keine Stellungnahme vor. Der Organisation nahestehende Medien zogen jedoch die offizielle Darstellung der Ereignisse in Zweifel. »Niemand weiß, was im Urwald geschehen ist, und es ist ratsam, Geduld zu haben, damit uns die Medien keine voreiligen Schlüsse einhämmern können«, hieß es etwa in einem Kommentar der alternativen Nachrichtenagentur ANNCOL. »Wir haben keinen Grund, der Version des Generalstabs eines Regimes zu vertrauen, das an der Ermordung von mehr als 3200 Kindern und Jugendlichen im Fall der makabren ›falschen Beweise‹ schuldig ist.« Gemeint ist damit der 2008 aufgedeckte Skandal um die Ermordung junger Menschen durch Soldaten, die deren Leichen dann den Medien als »im Kampf gefallene Guerilleros« präsentierten. Erst im vergangenen Juli wurde ein Offizier als bislang einziger wegen seiner Beteiligung an den Verbrechen zu 21 Jahren Haft verurteilt.

Die Familienangehörigen der von der Guerilla festgehaltenen Polizisten und Soldaten, die sich in der Vereinigung ASFAMIPAZ zusammengeschlossen haben, verurteilten den Befreiungsversuch der Regierungstruppen. »Die Regierung des Präsidenten Santos hat die Haltung der Familien nicht respektiert, auf eine gewaltsame Befreiung zu verzichten. Deren einziges Ergebnis ist die empörende Nachricht, daß vier oder fünf unserer Angehörigen bei einer unverantwortlichen Militäroperation ermordet wurden«, heißt es in einer Erklärung der Organisation, die der lateinamerikanische Fernsehsender TeleSur verbreitete. Beiden Konfliktparteien wirft ASFAMIPAZ vor, keinen Schritt nachgeben zu wollen, um derartige Tragödien zu verhindern. Seit mehr als einem Jahr habe man versucht, einen Termin bei Staatschef Juan Manuel Santos zu bekommen, um diesem gegenüber noch einmal die Ablehnung eines solchen »tödlichen Roulettes« zu unterstreichen.

Entsetzt reagierte auch die frühere liberale Senatorin Piedad Córdoba auf die Nachricht von der gescheiterten Befreiungsaktion: »Diese gewaltsamen Tötungen und der Tod von Guillermo León Sáenz alias Alfonso Cano (oberster FARC-Comandante, d. Red.) sowie die schmerzhaften und vielfach verschwiegenen Ereignisse, die die Bevölkerung und Tausende Kämpfer beider Seiten Tag für Tag erleben, bewegen uns, die dringende Notwendigkeit zu bekräftigen, Räume für eine humanitäre Lösung und den politischen Dialog zu öffnen«, heißt es in ihrer am Sonntag (Ortszeit) verbreiteten Stellungnahme. Gemeinsam mit anderen bekannten Persönlichkeiten wie der guatemaltekischen Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú oder der chilenischen Schriftstellerin Isabel Allende hatte sie sich zuvor mit der Bitte an die Guerilla gewandt, erneut durch eine einseitige Freilassung von Gefangenen den Weg zu einer Verhandlungslösung und zu einem Gefangenenaustausch zu erleichtern. Am selben Tag, an dem die Regierungstruppen das Guerillalager attackierten, erreichte sie das Antwortschreiben der Aufständischen. Darin kritisieren diese die Haltung Bogotás: »Während im Nahen Osten der zionistische Staat Israel mehr als 1000 palästinensische Gefangene im Austausch gegen einen einzigen seiner Soldaten freiläßt, hat die Regierung Kolumbiens seit 13 Jahren den ihren den Rücken zugewandt.« Trotzdem kündigten die FARC die einseitige Freilassung von sechs Gefangenen an. Das Vorgehen der Armee dürfte diesen Schritt vereitelt haben.

* Aus: junge Welt, 29. November 2011


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