Start mit Hindernissen
Soziale Bewegungen sind ausgeschlossen, machen aber Druck
Von David Graaf, Bogotá *
Mit zwei Tagen Verspätung nehmen die kolumbianische Regierung und die linksgerichtete FARC-Guerilla heute die Friedensverhandlungen auf. Bei den Friedensgesprächen in Oslo geht es um ein gegenseitiges Abtasten. Ans Eingemachte wird es bei der Fortsetzung in Havanna im November gehen. Über das grundsätzliche Unterfangen, den bewaffneten Konflikt nach 48 Jahren auf dem Verhandlungswege beizulegen, besteht auf beiden Seiten Einigkeit.
Der Weg für die FARC-Delegation nach Oslo ist frei. Interpol hat bestätigt, dass auf Veranlassung der Regierung in Bogotá die internationalen Haftbefehle für die FARC-Unterhändler aufgehoben worden sind, die die Anreise verzögert hatten.
Am Donnerstag soll bekannt gegeben werden, wann sich die beiden Delegationen zum ersten Mal am Verhandlungstisch gegenüber sitzen werden. Regierungsvertreter gehen davon aus, dass bis dahin noch mindestens zwei bis drei Wochen vergehen werden. Die für diesen Mittwoch geplante Pressekonferenz beider Seiten wurde verschoben. Laut Angaben kolumbianischer Medien war neben logistischen und klimatischen Schwierigkeiten ein Grund für die Verzögerung, dass die holländische Guerilla-Kämpferin Tanja Nijmeyer im letzten Moment von der FARC ins Team der Verhandlungsführer berufen wurde. Nijmeyer bekam 2007 hohe mediale Aufmerksamkeit, als bei einem Bombenangriff auf ein Guerilla-Camp ihre persönlichen Tagebücher gefunden worden waren.
Das Treffen der Verhandlungsparteien in Oslo ist eher von protokollarischer Bedeutung. Oslo wurde gewählt, da die norwegische Regierung unterstützend an den Sondierungsgesprächen beteiligt gewesen war, die seit Anfang des Jahres auf Kuba stattgefunden hatten. Um die vereinbarten Themen wie ländliche Entwicklung und politische Teilhabe der Guerilla wird es erst ab November in Havanna gehen.
Seit der Bekanntgabe der Verhandlungen und der Ernennung der jeweiligen Delegationen im September hat sich die Regierung zum Thema Friedensverhandlungen weitgehend in Schweigen gehüllt. Die Tatsache, dass die Gespräche mit einer festgelegten Agenda und unter Ausschluss der Öffentlichkeit im Ausland stattfinden, deutet darauf hin, dass Bogotá Einmischung durch Dritte zu vermeiden versucht.
Dennoch sind weiterhin viele entscheidende Details unklar. So ist beispielsweise die Frage der Beteiligung der Zivilgesellschaft oder der Vertreter der einzelnen ländlichen Regionen ungeklärt, deren Bevölkerung stärker von den Auseinandersetzungen zwischen Militärs und Guerilla sowie wirtschaftlichen Großprojekten betroffen ist. Während Teile der sozialen Organisationen wie die Marcha Patriótica vor allem auf die Mobilisierung auf der Straße setzen, soll offiziell ein aus einer Initiative des Kongresses hervorgehender Nationaler Friedensrat unter Beteiligung verschiedener Gruppen die Schnittstelle zwischen Verhandlungstisch und Gesellschaft bilden. Der Verhandlungsführer der Guerilla, Andrés Paris, wiederholte zudem die Forderung nach einem Waffenstillstand. Die Regierung hat dies mehrfach zurückgewiesen, weshalb die Kampfhandlungen nach wie vor andauern.
Unterdessen haben verschiedene soziale Bewegungen mit einer landesweiten »Woche der Empörung« gegen die negativen Folgen des vorherrschenden Wirtschaftsmodells protestiert. Im ganzen Land nahmen Ende vergangener Woche mehr als 300 000 Personen an Großdemonstrationen und Straßenblockaden teil. Neben der Hauptstadt Bogotá kam es besonders in den südlichen Departamentos Putumayo, Caqueta und Huila zu Protesten. Die Teilnehmer machten darauf aufmerksam, dass es keinen Frieden ohne soziale Gerechtigkeit geben könne, und erinnerten daran, dass Kolumbien zwar Wirtschaftswachstum aufweist, aber nach wie vor eines der Länder mit extremer Einkommensungleichheit ist. Im Brennpunkt der Kritik stand vor allem die Wirtschaftspolitik der Regierung, deren Schwergewicht auf der Ausbeutung von Rohstoffen liegt. Nach Berichten alternativer Nachrichtenseiten wurden die Protestierenden mehrfach von Polizei und Militärs an der Mobilisierung gehindert und die Organisatoren als ziviler Arm der Guerilla bezeichnet.
Die »Woche der Empörung« sollte den für vergangene Woche geplanten Auftakt der Friedensgespräche zwischen der Regierung und der FARC-Guerilla begleiten. Zwar zogen die Veranstalter ein positives Fazit, doch erreichte der Protest nicht die erhoffte Größe. Dem Aufruf zu einem »nationalen Streik« am vergangenen Freitag folgten weder die großen Gewerkschaften, noch nahmen die 5000 in Bogotá versammelten Teilnehmer des Kongresses der indigenen Völker an den Demonstrationen teil.
* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 17. Oktober 2012
Wandel in Kolumbien braucht Legitimation der Bevölkerung
Die ehemalige kolumbianische Senatorin und Friedensaktivistin Piedad Córdoba über die Verhandlungen zwischen Regierung und FARC **
Piedad Córdoba war in Kolumbien
als Rechtsanwältin und Politikerin
tätig. Im Jahr 2010 war sie Senatorin
der Liberalen Partei Kolumbiens, bis
sie unter umstrittenen Umständen
des Amtes enthoben wurde. Unlängst
war die Friedensaktivistin für das
Bündnis Marcha Patriótica in Europa,
um über den laufenden Friedensprozess
zu informieren. Mit ihr sprach in
Berlin für »nd« Harald Neuber.
Frau Córdoba, in der norwegischen
Hauptstadt Oslo sollen die
Friedensgespräche zwischen der
Regierung von Präsident Juan
Manuel Santos und der Guerillaorganisation
FARC anlaufen. Welche
Perspektive sehen Sie für diese
Verhandlungen?
Alleine der Umstand, dass sich
beide Seiten auf solche Gespräche
geeinigt haben, ist meiner Meinung
nach ein Fortschritt. Diese
Treffen zwischen der Regierung
und den Aufständischen haben in
Kolumbien große Erwartungen
geweckt, dass Krieg und Gewalt
endlich Einhalt geboten wird.
Das klingt ziemlich hoffnungsvoll.
Ja, aber das eine ist die Hoffnung.
Auf der anderen Seite gibt es wirklich
besorgniserregende Entwicklungen.
Damit meine ich vor allem
die Tatsache, dass der Krieg und
die militärischen Auseinandersetzungen
weitergehen, während in
Oslo über Frieden gesprochen
werden soll. Deswegen ist es nun
wichtig, auf einem beiderseitigen
Waffenstillstand zu bestehen, der
die Grundlage für ein Klima des
Friedens und der Demokratie in
Kolumbien bieten würde.
Unter der Regierung des damaligen
Präsidenten Andrés Pastrana
gab es zwischen 1998 und 2002
schon einmal Friedensgespräche
mit der FARC. Wie hat sich die Lage
seither verändert?
Vor allem hat sich seit damals der
Krieg verschärft und die Guerilla
hat schwere Verluste hinnehmen
müssen. Für den Paramilitarismus
gilt das nicht. Die paramilitärischen
Gruppen bestehen wie eh
und je weiter und können organisiert
und bewaffnet gegen Kleinbauern
vorgehen. In den vergangenen
Jahren hat es eine stärkere
Polarisierung gegeben, mehr
Spannungen, eine intelligentere
Kriegführung, vor allem aber mehr
Armut. Ich meine damit nicht nur
die schwierige soziale Situation,
sondern vor allem auch den ethischen
Niedergang. Die Menschen
in Kolumbien haben die Fähigkeit
verloren, über Massaker zu erschrecken,
über massenhafte Hinrichtungen
von Zivilisten, Massengräber
und geheime Krematorien.
Mich beunruhigt auch die Armut,
denn in Südamerika ist Kolumbien
das drittärmste Land. Viele Dinge in meinem Land belegen,
das wir auf einem falschen
Weg sind: die Bildung wurde privatisiert,
ebenso das Gesundheitswesen,
es gibt nicht genug
Wohnraum, die Arbeitsbedingungen
sind äußerst prekär und die
Gewalt hat zugenommen.
Die USA-Regierung hat den internen
Konflikt in Kolumbien in
den vergangenen Jahren mit
Milliardenmitteln am Laufen gehalten.
Welchen Einfluss hat
Washington auf die aktuelle Lage?
Die USA haben ohne Zweifel einen
enormen Einfluss und versuchen
ihn auch mit allen Mitteln aufrecht
zu erhalten. Der Grund dafür ist
einfach: Kolumbien hat eine strategisch
bedeutende Lage. Das Land
hat eine lange Küste am Pazifik
und grenzt an mehrere Staaten
Südamerikas – Venezuela, Brasilien,
Ecuador und Peru –, über die
Washington zunehmend die Kontrolle
verliert. Indem in Kolumbien
der Konflikt unter dem Vorwand
des Krieges gegen den Drogenhandel
oder den Terrorismus am
Laufen gehalten wird, kann die
Region jederzeit destabilisiert
werden.
Die Region oder Venezuela?
Venezuela, aber auch Ecuador.
Oder nehmen Sie Bolivien. Dort hat
über lange Zeit hinweg nicht der
Präsident regiert, sondern die USamerikanische
Botschaft. Angesichts
des zunehmenden Kontrollverlustes
sind ungeahnte Militärmittel
in die Region geflossen. Die
Leidtragenden waren die Menschen
in den Zielländern, vor allem
in Kolumbien.
Und was erwarten Sie von der
Europäischen Union?
Von der EU erwarten wir nur wenige
konkrete Schritte. Wir haben
dort schon so oft auf die schwere
Lage in Kolumbien hingewiesen,
die Entscheidungsträger informiert
und sie um ihr Handeln gebeten.
Trotzdem halte ich es für
wichtig, die Aufmerksamkeit auf
Kolumbien zu lenken und auch in
der EU für einen beiderseitigen
Waffenstillstand zu plädieren.
Deswegen reisen Sie derzeit als
Vertreterin des Bündnisses Marcha
Patriótica durch Europa?
Wir wollen hier in erster Linie von
diesem Bündnis und seinen Zielen
berichten. Es geht uns aber auch
um eine Art Paralleldiplomatie mit
sozialen Bewegungen, Regierungsvertretern
und Parlamentariern. Denn auch diese Kontakte
stellen für uns einen wichtigen
Schutz dar. Wir wollen deutlich
machen, dass es in Kolumbien eine
neue politische Kraft gibt, eine
neue Bewegung, von deren Warte
aus wir hier in Europa über den
Friedensprozess berichten.
Bei diesen Gesprächen sitzen
allerdings nur die bewaffneten
Akteure am Verhandlungstisch:
die Regierung von Präsident Santos
auf der einen Seite, die FARCGuerilla
auf der anderen Seite.
Was bedeutet es für Verlauf und
möglichen Ausgang des Prozesses,
wenn andere relevante gesellschaftliche
Gruppen ausgegrenzt
werden?
Die Aufständischen haben ganz
spezifische Themen und Interessen
bei diesen Verhandlungen mit
der Regierung. Die sozialen Reformen
können von der Guerilla
vorgeschlagen werden und vielleicht
stimmen wir in einigen dieser
Punkte sogar mit ihr überein.
Aber ohne eine breite Beteiligung
gesellschaftlicher Gruppen können
echte und dauerhafte Veränderungen
nicht durchgesetzt werden.
Jeder Wandel braucht die Legitimation
der Bevölkerung.
** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 17. Oktober 2012
Chronik: 48 Jahre Bürgerkrieg
1964: Nach einem blutigen
Einsatz des Militärs gegen rebellierende
Bauern in der Ortschaft
Marquetalia im Departamento
Tolima werden die
Revolutionären Streitkräfte
Kolumbiens (FARC) gegründet.
1984: Der konservative Präsident
Belisario Betancur (1982-
1986) leitet den ersten Friedensprozess
mit der FARC ein.
Beide Seiten handeln eine
Waffenruhe aus. Die neu gegründete
Patriotische Union
(UP) als Partei der linken Kräfte
wird von rechten Paramilitärs
bekämpft. Die Friedensgespräche
werden 1986 abgebrochen.
1991: Unter der Regierung des
Liberalen César Gaviria (1990-
1994) beginnt ein zweiter
Friedensprozess. Er scheitert.
1999: In einem demilitarisierten
Dschungelgebiet von der
Größe der Schweiz leitet der
konservative Präsident Andrés
Pastrana (1998-2002) einen
dritten Friedensprozess ein.
Als die FARC ein Flugzeug kapert,
bricht Pastrana die Verhandlungen
im Februar 2002
ab.
2008: Der oberste FARC-Anführer
seit 1964, »Tirofijo«,
stirbt mit 77 Jahren an den
Folgen eines Herzinfarkts.
2012: Im April lässt die FARC
die letzten zehn von ihr verschleppten
Militärs und Polizisten
frei.
2012: Im August kündigt Präsident
Santos den Beginn eines
neuen Friedensprozesses an.
Vorausgegangen waren sechs
Monate lange Geheimgespräche
auf Kuba. nd
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