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Der gute Ort Benposta

José Luis Campo gründete die kolumbianische Kinderrepublik unweit von Bogotá

Von Knut Henkel, Bogotá *

Partizipativ, eigenständig und fürsorglich geht es in der Kinderrepublik Benposta zu. Hier sollen die Kinder und Jugendlichen lernen, auf eigenen Beinen zu stehen. Aus gutem Grund, denn fast alle der jungen Bewohner des Dorfes oberhalb von Kolumbiens Hauptstadt Bogotá kennen eine ganze andere Realität: die des Krieges und der Befehle – sie waren zwangsrekrutiert oder drohten es zu werden. Ein Besuch in einem Dorf, wo die Kinder den Ton angeben.

Juliet lässt den Blick über das Häusermeer der Sabana von Bogotá schweifen und reibt sich fröstelnd die dunkelbraunen Arme. »Bogotá ist zu kalt für mich«, erklärt die 18-Jährige und schüttelt missbilligend die langen schwarzen Haare. Seit einem Jahr lebt sie auf dem kleinen Anwesen über der kolumbianischen Hauptstadt und versucht ein neues Leben zu beginnen. Nachdenklich blickt die junge Frau über die von Bergen eingefasste Hochebene, dann zupft sie Angelica Gómez am T-Shirt und reißt sie aus ihren Gedanken. Die Hausarbeit wartet.

Es ist Sonnabendmorgen, da steht in der Kinderrepublik Benposta so einiges auf dem Programm. »Neben dem obligatorischen Hausputz gibt es Gruppen für die Gartenarbeit, für die Backstube, die Reinigung oder den Küchendienst«, erklärt Angelica. Sie gehört genauso wie Juliet zu den Älteren und ist die Alcaldesa, Bürgermeisterin, des aus einem guten Dutzend Häusern bestehenden Kinderdorfes. Jedem Haus haben die Bewohner, im Schnitt sind es zwölf Kinder und Jugendliche, einen Namen verpasst. Martin Luther King gibt es, Che Guevara und Nelson Mandela. »Freiheitskämpfer stehen hoch im Kurs bei den Kindern«, sagt José Luis Campo lachend im Vorbeigehen. Der 62-jährige kleine, quirlige Mann ist auf dem Weg zum Schulgebäude, das neben dem auffälligen Theaterbau liegt, Angelica Gómez und Juliet lenken den Schritt hingegen in die andere Richtung – auf ein bunt bemaltes rechteckiges Haus, das in einer Ecke des weitläufigen Grundstückes steht. »Das ist unser Parlament. Hier treffen wir Kinder uns jeden Freitag, um über alle Probleme und wichtigen Dinge in der Kinderrepublik zu sprechen«, erklärt die junge Frau lächelnd.

Vorbereitung auf ein ziviles Leben

Entscheidungen treffen, Konflikte im Dialog austragen, Probleme benennen und selbst das Wort ergreifen, all das sollen die Kinder und Jugendlichen in der Kinderrepublik Benposta neu lernen.

Bei Juliet hat es geholfen. Die junge Frau stammt aus Urabá, der nahe der Karibik gelegenen Bananenanbauregion des Landes. »In San Pedro Urabá bin ich mit einer paramilitärischen Einheit der AUC unterwegs gewesen«, erklärt sie und senkt den Kopf. Wegen des Streits mit der Mutter, die sie geschlagen hat, ist sie zu den Paramilitärs gegangen. »Ich kannte ein paar von ihnen, die haben Werbung gemacht und da bin ich gegangen«, erklärt sie lapidar.

Ein Jahr war sie bei den Paramilitärs; empfing Befehle, gewöhnte es sich ab, eigene Entscheidungen zu treffen. Das wäre vielleicht auch noch heute so. Eine Infektion riss sie aus dem militärischen Trott. Mit offenen Entzündungen an den Beinen wurde sie ins Krankenhaus eingeliefert. Dort fand sie Hilfe und kirchliche Hilfsorganisationen haben sie schließlich an die Kinderrepublik Bogotá verwiesen. Die ist landesweit über die katholische Kirche und zahlreiche Menschenrechtsorganisationen vernetzt und nimmt Kinder und Jugendliche auf, die von den Paramilitärs oder den beiden kolumbianischen Guerillaorganisationen FARC und ELN rekrutiert wurden.

Zwei Jahre ist Juliet nun schon in der Kinderrepublik und hat neuen Boden unter die Füße bekommen. »Am Anfang war es schwierig – schwierig, sich an die Regeln zu gewöhnen, an den festen Tagesablauf. Und daran, alle Konflikte friedlich zu lösen. Bei den AUC wurde schnell die Faust genommen«, erinnert sie sich. Das ist vorbei, denn als eine der Älteren trägt sie Verantwortung. »Ich stehe unserem Haus vor, helfe den Jüngeren und bin eine Ansprechpartnerin für sie.« Das ist viel Verantwortung, sorgt aber auch für ein völlig neues Selbstwertgefühl.

Das ist eines der zentralen Ziele des Konzepts der Kinderrepublik. »Wir wollen Kinder und Jugendliche zurückzuholen in ein ziviles Leben«, erklärt José Luis Campo. Der kleine Mann hat die Kinderrepublik in Kolumbien aufgebaut und lebt auch selbst auf dem Areal über der Hauptstadt – seit 34 Jahren. Wahrscheinlich kennt der Philosoph und Theologe aus Salamanca das lateinamerikanische Land deutlich besser als sein Heimatland.

In Spanien entstand die erste Kinderrepublik. Dort gründete der Pfarrer Jesús Cesar Silva Méndez 1957 »Benposta – Nación de Muchachos«, zu deutsch: »Guter Ort – Nation der Kinder«. Er wollte von Ausbeutung und gesellschaftlicher Ausgrenzung betroffenen oder bedrohten Minderjährigen eine Alternative bieten. »Bei uns können die Kinder selbstbestimmt leben, sie gründen quasi ihre eigene Regierung und lernen, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, erhalten bei Bedarf aber natürlich auch psychologische Hilfe und so fort«, schildert José Luis Campo das Modell. Der Optimismus verbreitende Mann ist für viele Kinder und Jugendliche so etwas wie ein Ersatzvater. »Er ist ein Segen, denn er ist immer da, wenn ich Hilfe brauche«, erklärt Angelica Gómez. Die Bürgermeisterin der Kinderrepublik lebt seit drei Jahren mit ihren beiden Schwestern Sandra, 16 Jahre, und Joana, 15 Jahre, im Kinderdorf.

Gemüseanbau statt Guerillakampf

Der Grund dafür ist die Vergangenheit ihres Vaters, eines ehemaligen Comandante der FARC-Guerilla. Der hat der Guerilla den Rücken gekehrt, die Regierung und das Militär mit Informationen versorgt und deshalb sind seine Kinder in Cali, der Heimatstadt Angelicas, nicht mehr sicher. Eine ungewöhnliche Biografie in der Kinderrepublik, wo die meisten der Kinder und Halbwüchsigen leben, weil sie von Rekrutierung bedroht waren, bei Guerilla oder Paras gekämpft haben, desertierten oder von Polizei oder Militär geschnappt wurden.

So wie Iván Sánchez. Der 15-Jährige hat drei Jahre bei der Frente 27 der FARC gekämpft – bis er von der Armee geschnappt wurde und über Umwege zu Benposta kam. Seit zwei Monaten lebt er nun in dem Kinderdorf über Bogotá, baut Gemüse im Garten an, spielt Fußball mit den anderen und geht wieder in die Schule. Schwer fallen ihm die Umstellung, das Lernen und einsam ist der Halbwüchsige, dessen Familie auf dem Land im Verwaltungsbezirk Meta lebt, rund vier Fahrstunden südlich von Bogotá.

Den Kontakt zur Familie hat das Benposta-Team wieder hergestellt und alle zwei Wochen ruft Iván zu Hause an, aber am Besuchstag, dem Sonntag, ist er fast immer allein. Das gilt auch für Ericson Javier Villareal. Der 18-Jährige stammt wie die meisten der 150 Kinder und Halbwüchsigen im Kinderdorf vom Land, genauer aus La Guavara, einem Dorf im Verwaltungsdistrikt Norte de Santander. Einfache Bauern sind seine Eltern und aus Mangel an Perspektiven hat er wie viele andere in seinem Alter als Erntehelfer gearbeitet und Kokablätter gepflückt. »Das ist für viele Halbwüchsige auf dem Land ein erster Kontakt mit den bewaffneten Akteuren«, erklärt José Luis Campo. Dem ersten Kontakt folgt oft die Rekrutierung und bei Ericson und sechs weiteren Jugendlichen wurde das im letzten Moment verhindert. »Wir haben sie rausgeholt, nachdem die örtliche Kirchengemeinde uns informiert hatte«, erklärt José Luis Campo hastig, denn sein Telefon klingelt. Ein neuer Notruf?

Bildung für die Kinder wird großgeschrieben

Ein paar Monate wird Ericson in der Kinderrepublik bleiben, bevor er im Dezember zu seiner Mutter und der Schwester geht. Dann wird genug Gras über die Sache gewachsen sein. Das ist eine Erfahrung aus der täglichen Arbeit in Benposta. Oft reichen ein paar Monate, um die Halbwüchsigen aus dem Blickfeld der Guerilla oder der Paramilitärs zu bringen und deshalb versucht das Benposta-Team, die Minderjährigen bei Familienangehörigen in einer größeren Stadt unterzubringen – einer Tante in Bogotá oder Medellín etwa – und stellt dafür auch Geld zur Verfügung.

Bei Juliet ging das nicht. Zurück zur Mutter wollte sie nicht, also blieb nur Bogotá. Hier hat sie den Entschluss gefasst, Krankenschwester zu werden, wenn sie die Schule beendet hat. Ein Jahr hat die 18-Jährige noch vor sich und bei dem neuen Zukunftsprojekt wird José Luis Campo sie natürlich unterstützten. Das hat er versprochen.

* Aus: Neues Deutschland, 20. Mai 2011


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