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Kolumbien: Der ganz andere Uribe

Von Toni Keppeler, Bogotá *

Die Kanzlei des Menschenrechtsanwalts Alirio Uribe gilt als Notaufnahme für die grausamsten Fälle politischer Gewalt. Seit zwanzig Jahren deckt er die Verbindungen zwischen Paramilitärs, internationalen Konzernen und hoher Politik auf.



Er wartet, bis der gepanzerte Geländewagen mit abgedunkelten Scheiben vorgefahren ist. Erst dann verlässt er das 42 Stockwerke hohe Bürogebäude, das höchste im Zentrum von Bogotá. Seine Frau kommt ihm entgegen. Sie ist fast so gross wie er. Schlank, mit schulterlangen schwarzen Haaren, im kleinen Schwarzen. Sie küssen sich. Sie passen zueinander. Uribe trägt einen tadellosen blauen Businessanzug, weisses Hemd, rosa Krawatte. Er hält seiner Frau die Tür auf, steigt nach ihr in den Fond. «Das ist ein richtiges Mafiaauto», sagt er und lacht. Der Fahrer braust davon.

Uribe heisst mit Vornamen Alirio. Den Nachnamen hat er mit dem Präsidenten Kolumbiens gemein, genau wie den gelernten Beruf: Auch Álvaro Uribe, der Präsident, hat Jura studiert. Auch er lässt sich im gepanzerten Fahrzeug chauffieren und trägt bei der Arbeit meist einen Businessanzug. Doch damit enden die Gemeinsamkeiten. Präsident Álvaro Uribe ist der Sohn eines steinreichen Grossgrundbesitzers aus Medellín, der 1983 unter ungeklärten Umständen ermordet wurde. Álvaro Uribe behauptet, sein Vater habe einen gescheiterten Entführungsversuch der Guerillabewegung Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens (Farc) nicht überlebt; US-Geheimdienste gehen davon aus, dass er sterben musste, weil er tief in den Drogenhandel verstrickt war.

Alirio Uribe dagegen kommt aus bescheidenen ländlichen Verhältnissen. Er ist in der Provinz Santander zur Welt gekommen und bei einer Tante in Bogotá aufgewachsen. Präsident Álvaro Uribe studierte in Antioquia, Harvard und Oxford, Alirio Uribe war Studentenführer in Bogotá und wurde nach Protesten verhaftet. Für Álvaro Uribe hat Recht etwas mit Macht zu tun - mit möglichst uneingeschränkter Macht. Alirio Uribe wurde Menschenrechts­anwalt, weil Recht für ihn etwas mit Gerechtigkeit zu tun hat. Einer wie Álvaro, denkt Alirio, sollte nicht Präsident von Kolumbien sein. Und man kann getrost davon ausgehen, dass Álvaro denkt, so einer wie Alirio sollte erst gar nicht in Kolumbien sein. Auch deshalb fährt Alirio Uribe im gepanzerten Wagen.

Schutz in der Verwaltung

Gepanzert ist auch sein Büro. Wer Alirio Uribe im Avianca-Hochhaus besucht, wird, bevor er überhaupt in den Aufzug darf, von einem privaten Sicherheitsdienst gefilzt. Und oben, im 25. Stock, ist die Kanzlei des Anwaltskollektivs José Alvear Restrepo mit einer Schleuse aus zwei bombensicheren Stahltüren gesichert. In den Geschossen darüber und darunter sind Büros der öffentlichen Verwaltung. «Wir dachten, dass wir hier sicherer sind», sagt Uribe. Das Anwaltskollektiv, das wie kein anderes dem Staat auf die Finger schaut, arbeitet im Schutz von Staatsbeamt­Innen. Kolumbien ist ein widersprüchliches Land. Sogar Uribes gepanzerter Wagen und der Fahrer seines Vertrauens werden vom Staat bezahlt.

Zuständig für den Schutz gefährdeter Personen war lange ein Mann, den Alirio Uribe heute seinen «derzeit gefährlichsten Fall» nennt: Jorge Noguera, einst Chef des staatlichen Geheimdienstes DAS, der dem Präsidenten direkt unterstellt ist. Anwalt Uribe hat nachgewiesen, dass Noguera mit ultrarechten Paramilitärs und der Drogenmafia zusammengearbeitet und sie vorab über Polizeiaktionen informiert hat. Und er hat herausgefunden, dass der Geheimdienst Listen mit Namen von GewerkschafterInnen an Paramilitärs weitergereicht hat. In Kolumbien ist das eine eindeutige Aufforderung zu Mord, und in aller Regel wurde dieser Aufforderung auch Folge geleistet.

Der Geheimdienstchef und der Präsident waren lange enge Freunde. Als Nogueras Machenschaften ruchbar wurden, schickte ihn Álvaro Uribe in den diplomatischen Dienst nach Mailand. Zum Prozess aber musste er ihn zurückbeordern - und liess ihn fallen. Noguera sitzt heute in Haft. Genau wie gut sechzig Parlamentarierinnen und Provinzgouverneure. Auch ihnen wurden Verbindungen zu Paramilitärs und zur Drogenmafia nachgewiesen (vgl. Kasten «Para-Gate»). Sie alle waren einmal politische Freunde des Präsidenten. Mit allen will er nichts mehr zu tun haben.

Ein zweiter Fujimori?

«Der Präsident schafft sich mehr und mehr Feinde im eigenen Lager», sagt Anwalt Uribe. «Er könnte eines Tages enden wie Alberto Fujimori.» Der ehemalige peruanische Präsident hatte wie sein kolumbianischer Kollege die Verfassung manipuliert, um mehr als nur eine Amtszeit regieren zu können. Er war - wie Uribe heute - trotz seines autoritären Regierungsstils lange bei der Bevölkerung beliebt. Doch er verstrickte sich in ein Netz aus Korruption und Todesschwadronen und wurde schliesslich von seinem eigenen Geheimdienstchef verraten. Heute sitzt Fujimori in Haft.

Auch Alirio Uribe stand auf der Abschussliste einer vom Geheimdienst gefütterten Todesschwadron. 2001 wurde ein Mordkomplott gegen ihn aufgedeckt: Man fand Fotos von ihm, Karten, auf denen seine Fahrtwege eingezeichnet waren, Pläne seiner Wohnung. Drei Jahre lang wurde er danach Tag und Nacht von internationalen Friedensbrigadisten begleitet - menschliche Schutzschilde, die ihm das Überleben ermöglichten. Ohne sie wäre Uribe nur das Exil geblieben. Damals hat er so gut wie jede Nacht in einem anderen Haus geschlafen. Heute lebt er in einer besseren Wohngegend, in einem Mehrfamilienhaus, das mit Mauer, Stacheldraht und Videokameras gesichert ist. «Drohungen gibt es noch immer», sagt er. Vor allem telefonische. «Sie wollen uns zeigen: Wir haben euch unter Kontrolle.»

Als Uribe vor bald zwanzig Jahren zum Anwaltskollektiv José Alvear Restrepo kam, wusste er, dass dies kein ruhiger Job werden würde. Die Hälfte der JuristInnen, die in der 1978 gegründeten Kanzlei gearbeitet haben, musste irgendwann ins Exil. Uribe hat die ersten Jahre seines Berufslebens seine MandantInnen vor einem Spiegel verteidigt. Es war die Zeit, in der es sogenannte Gerichte ohne Gesicht gab. RichterInnen, Staatsanwälte und Zeuginnen traten anonym hinter einer spanischen Wand auf. Ihre Stimmen wurden verzerrt. «Das hörte sich an wie in einem Mickymausfilm.» Angeblich diente es dem Schutz von Gericht und ZeugInnen. Uribe aber wusste oft nicht, gegen wen er einen Angeklagten verteidigte.

Am Anfang, erinnert sich Uribe, drehten sich seine Prozesse meist um willkürliche Verhaftungen. «Dann kamen die Verschwundenen, dann die Ermordeten, und heute sind es hauptsächlich die Vertriebenen.» Letztere vertritt er vor allem in den Anhörungen demobilisierter Paramilitärs, die oft nicht mehr waren als Werkzeuge. «Wir haben Fälle von Vertreibungen durch Paramilitärs untersucht und festgestellt, dass die Interessen grosser Unternehmen dahinterstecken.» Wo vor ein paar Jahren arme BäuerInnen vertrieben wurden, wird heute nach Öl gebohrt, Gold oder Kohle gefördert, stehen grosse Plantagen mit Ölpalmen oder Zuckerrohr. Der Krieg in Kolumbien hat eine wirtschaftliche Logik: «Die Paramilitärs verteidigen die Interessen lokaler Potentaten und internationaler Konzerne.»

Etwa die Interessen des US-amerikanischen Fruchtkonzerns Chiquita. Die KonzernchefInnen haben inzwischen eingestanden, dass die Firma Paramilitärs finanziert hat, die Gewerkschafter­Innen ermordeten. «Wir bemühen uns darum, dass der Geschäftsführer von Chiquita nach Kolumbien ausgeliefert und hier vor Gericht gestellt wird.» Ob es je so weit kommt, ist äusserst fraglich.

Doch Uribe braucht solche grossen Fälle. Sie finden internationales Medienecho, und das trägt mit zum Schutz des Anwaltkollektivs bei: Je prominenter Alirio Uribe ist, desto höher ist die Hemmung, ihn zu ermorden. Seine üblichen Fälle jedoch sind in Kolumbien so alltäglich, dass sie es nur selten in die lokalen Zeitungen schaffen. Da ist die neunzehnjährige Frau, die von einem Paramilitär entführt und vier Jahre lang als Sexsklavin gehalten wurde. Uribe bemüht sich darum, dass ihre Verwandten nicht als Zeug­Innen auftreten müssen, sondern ihre Aussagen als Vernehmungsprotokoll in den Prozess eingeführt werden. Sonst könnte es sein, dass sie beim Verlassen des Gerichtsgebäudes von Komplizen des Angeklagten erschossen werden.

Da sind die Frauen mit den verweinten Augen, die jetzt, nachdem über 30 000 Paramilitärs demobilisiert worden sind, wissen wollen, wer ihre Männer und Söhne ermordet hat und wo die Leichen sind. Uribe vertritt sie bei den Anhörungen der Demobilisierten. Und noch immer gibt es willkürliche Verhaftungen: So von einer Gewerkschafterin draussen in der Provinz. Sie hat Versammlungen einberufen, um gegen die Privatisierung des Gesundheitswesens zu protestieren. Die Polizei kam ins Spital und hat sie einfach mitgenommen. Man wirft ihr «Rebellion» vor.

Gewerkschaften stören nur

Steckt eine Strategie dahinter? Ja, sagt der Anwalt. Alle müssen irgendwann zum Arzt. «Wer das Gesundheitswesen kontrolliert, hat die Kontrolle über Flüchtlingsbewegungen, ja über die ganze Bevölkerung.» Gewerkschaften stören da nur. Genauso wie Gewerkschaften in Fabriken und Plantagen stören. Oder Indígena-Organisationen, die gegen die Aktivitäten von Ölfirmen in ihren angestammten Gebieten protestieren. «Präsident Uribe will die sozialen Bewegungen zerschlagen.» Die Strategie sei immer dieselbe: «Man unterstellt einfach Verbindungen zur Guerilla.» Wer nicht für den Präsidenten ist, ist Narco-Guerillero.

Die Opfer dieser Politik stehen vor dem Anwaltskollektiv Schlange. Alirio Uribe kommt deshalb oft erst um zehn Uhr oder noch später ins Büro. Den Morgen verbringt er zu Hause beim Aktenstudium. Ist er erst einmal in der Kanzlei, fehlt dazu die Ruhe. Eine Besprechung folgt auf die andere. Uribe treibt seine GesprächspartnerInnen an, drängt auf konkrete Ergebnisse, tippt nebenbei schon das Protokoll in seinen Laptop und telefoniert in der kurzen Pause zwischen zwei Terminen von zwei Festnetzanschlüssen und einem Mobiltelefon aus gleichzeitig.

Entspannung spürt man erst, wenn er im Aufzug die 25 Stockwerke her­unterfährt und weiss, dass unten seine Frau wartet. Sie und die drei gemeinsamen Kinder haben sich daran gewöhnt, dass der Mann und Vater gefährdet ist und sie mit ihm. «Sie stehen zu mir, hundertprozentig», sagt Alirio Uribe. Warum nur tut er sich und seiner Familie das an? Die Frage, sagt er, komme zu spät. «Wenn ich damit aufhöre, muss ich das Land verlassen, oder ich bin tot. Ich habe zu viele mächtige Feinde.»

«Para-Gate»

Wahlstimmenkauf, Verbindungen zu paramilitärischen Einheiten und Anstiftung zu Mord sind nur einige der Anschuldigungen. Angeklagt sind ehemalige hochrangige Mitglieder der kolumbianischen Regierung von Präsident Álvaro Uribe und rund ein Drittel der Parlamentsabgeordneten. Der in Kolumbien Para-Gate genannte Skandal eskalierte im Frühling 2008. Damals waren unter anderem Mario Uribe Escobar, Cousin des Präsidenten und ehemaliger Parlamentspräsident, Ex-Geheimdienstchef Jorge Noguera sowie Álvaro Araújo, Senator und Bruder der danach zurückgetretenen Aussenministerin Maria Araújo, verhaftet worden. Araújo hatte kurz zuvor noch erklärt: «Wenn nach mir gesucht wird, müssen sie auch nach meiner Schwester und Präsident Uribe suchen.»

* Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 9. April 2009


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