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Erstrundensieger Atambajew

Kirgistan: Unterlegene protestieren

Von Irina Wolkowa, Moskau *

63 Prozent aller Stimmen fuhr Almasbek Atambajew, bisher Regierungschef Kirgistans, bei den Präsidentenwahlen am Sonntag ein – den ersten nach dem Umsturz im April 2010 und den schweren ethnischen Unruhen im Süden zwei Monate später.

Beobachter sprachen vor der Abstimmung vom Härtetest für die neue Verfassung Kirgistans, die 2010 per Referendum in Kraft gesetzt wurde. Sie machte aus der Republik eine parlamentarische Demokratie, wie es sie sonst nirgends im der traditionell autoritär regierten Zentralasien gibt.

Ob Kirgistan den Test bestand, ist umstritten: Die 15 Unterlegenen – von ursprünglich 19 Bewerbern hatten drei ihre Kandidatur im letzten Moment zurückgezogen – wollen das Ergebnis anfechten. Der mit 15 Prozent zweitplatzierte frühere Parlamentspräsident Adachan Madumarow forderte, die Wahl für ungültig zu erklären. Der Drittplatzierte, Kamtschibek Taschijew (14 Prozent), sah andernfalls »unvermeidlich« Unruhen nahen. Den Vorwurf, Tausende seien nicht in die Listen eingetragen gewesen und hätten nicht wählen können, musste auch die Wahlkommission zumindest in Teilen bestätigen. Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) stellten »bedeutende Unregelmäßigkeiten « fest. Vor allem ethnische Usbeken, die bei den Unruhen im Sommer 2010 die meisten Opfer zu beklagen hatten, wurden angeblich an der Ausübung ihres Stimmrechts gehindert.

Der durch die neue Verfassung notdürftig übertünchte Konflikt zwischen dem Norden und dem unterentwickelten Süden, wo Usbeken fast die Hälfte der Bevölkerung stellen, droht dadurch erneut zu entbrennen. Denn Wahlsieger Atambajew dem Gegner unterstellen, er könnte erneut die Machtfülle seiner Vorgänger an sich reißen, ist der Mann des Nordens. Dessen Eliten stellten bis 2005, als der fünf Jahre später selbst gestürzte Kurmanbek Bakijew seinen Vorgänger Askar Akajew entmachtete, stets die Regierung.

Vor allem Moskau verfolgt das Geschehen aufmerksam, hat aber, wie die Unruhen im Sommer 2010 zeigten, nur begrenzte Möglichkeiten, aktiv ins Konfliktmanagement einzugreifen. Zwar unterhält Russland eine Truppenbasis in Kirgistan. Doch sie liegt im Norden, die einzige Straße nach Süden führt über den Pass des Tienschan- Gebirges und ist selbst im Sommer eine Herausforderung für Fahrzeuglenker. Über eine zweite Basis bei Osch im Süden verhandelte man bisher vergeblich.

* Aus: neues deutschland, 1. November 2011


»Echte Aufbruchstimmung ist nicht zu spüren«

Kirgisien hat einen neuen Präsidenten. Das Land ist von Armut, Korruption und ethnischen Konflikten geprägt. Ein Gespräch mit Andrej Hunko **


Andrej Hunko (Die Linke) ist Mitglied im EU-Ausschuß des Deutschen Bundestages und war als Wahlbeobachter in der ehemaligen Sowjetrepublik Kirgisien.


Almasbek Atambajew ist am Sonntag mit 62,9 Prozent der Stimmen zum Präsidenten Kirgisiens gewählt worden. Anderthalb Jahre nach dem Sturz von Kurmanbek Bakijew löst er die Übergangspräsidentin Rosa Otunbajewa ab. Wie würden Sie die Rolle Atambajews in den letzten Jahren beschreiben?

Im Unterschied zu den übrigen Kandidaten ist er sicher auf Ausgleich bedacht. Er bezeichnet sich selbst als Sozialdemokrat. Kirgisien ist sehr von ethnischen Konflikten zwischen Kirgisen und Usbeken geprägt; und ­Atambajews Versprechen im Wahlkampf war, das Land durch Versöhnung und Ausgleich voranzubringen. Ob den Worten dann auch Taten folgen, muß man genau beobachten. Die anderen aussichtsreichen Kandidaten haben allerdings von vornherein ethnonationalistische Töne angeschlagen. Insofern beruhigt mich das Wahlergebnis.

Die Wahlkommission hat vereinzelte Unregelmäßigkeiten bei der Wahl eingeräumt, die aber das Endergebnis nicht beeinflußt hätten. Deckt sich das mit Ihren Eindrücken als Wahlbeobachter?

Ja. Das ist nicht nur mein persönlicher Eindruck, sondern auch der der anderen Parlamentarier, die als Beobachter für den Europarat und das Europaparlament sowie für die OSZE angereist waren. In Osh, wo es letztes Jahr antiusbekische Ausschreitungen mit fast 500 Toten gab, wollte ich sehen, ob die Wahlen einigermaßen friedlich ablaufen; und das war überraschenderweise der Fall. Kleinere Probleme gab es insbesondere bei den Wählerlisten, auf denen Wahlberechtigte fehlten. Allerdings nicht in einer Größenordnung, die etwas geändert hätte.

Atambajew wird von manchen Medien als »gemäßigt«, von anderen als »prorussisch« beschrieben. Was halten Sie von diesen Zuschreibungen?

Ich schätze Atambajew als jemanden ein, der eine multilaterale Politik verfolgt. Vielleicht paßt das einigen nicht, die ihn in eine prorussische Ecke stellen wollen. Das Interessante ist ja, daß Kirgisien weltweit das einzige Land ist, das sowohl einen russischen als auch einen US-Militärstützpunkt hat.

NATO-Kreise haben sich besorgt über die Zukunft des US-Stützpunkts geäußert. Was wird nun daraus?

Der Vertrag läuft meines Wissens 2014 aus. Atambajew hat gerade in einem BBC-Interview angekündigt, ihn danach schließen zu wollen, um nicht in einen möglichen Krieg mit dem Iran gezogen zu werden. Es gab auch immer wieder Proteste gegen den US-Stützpunkt. Im Wahlkampf wurde das aber von anderen Problemen überlagert.

Die Wahlbeteiligung war mit rund 60 Prozent nicht schlecht, aber auch nicht überragend.

Es gibt natürlich eine gewisse Ernüchterung. Vor anderthalb Jahren wurde der autoritäre Präsident Bakijew gestürzt; danach gab es einen Reformprozeß, der im Sommer letzten Jahres auch zu einem Referendum führte – zur Einführung einer parlamentarischen Demokratie in einer Region, die überwiegend von sehr autoritären Strukturen geprägt ist. Aber Probleme wie Armut und Korruption erledigen sich nicht automatisch durch parlamentarische Demokratie; und Kirgisien ist bitterarm. Eine wesentliche Einnahmequelle sind Überweisungen von Kirgisen, die im Ausland arbeiten, vor allem in Rußland; und die Korruption ist ein Riesenproblem. Nicht umsonst steht das Land auf dem Korruptionsindex von Transparency International weit oben. Eine echte Aufbruchstimmung ist nicht zu spüren. Es war lange fraglich, ob die Usbeken im Süden überhaupt wählen gehen.

Warum?

Weil sie sagen, es ändert sich nichts. Ich habe mir auch die Stadtteile in Osh angesehen, wo damals die Häuser niedergebrannt wurden. In Sachen Wiederaufbau und Entschädigung hat sich da wenig getan. Ich habe mit sehr desillusionierten jungen Usbeken gesprochen. Tenor: Wenn wir schon wählen gehen, dann Atambajew. Viele sehen aber ihre Perspektive im Ausland, weil sie weitere Pogrome befürchten. Ein ernsthafter Versöhnungsprozeß setzt voraus, daß der Staatsapparat reformiert und von denjenigen gesäubert wird, die Waffen an den Mob ausgegeben haben. Und das ist von einer internationalen Untersuchungskommission sehr glaubwürdig belegt worden. Deren finnischer Leiter wurde allerdings für kurze Zeit zur Persona non grata erklärt – obwohl die kirgisische Übergangsregierung den Bericht selbst in Auftrag gegeben hatte. Das Einreiseverbot wurde zwar wieder aufgehoben, aber daran merkt man, wie schwierig es ist, die Dinge auszusprechen.

Interview: Claudia Wangerin

* Aus: junge Welt, 1. November 2011


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