Unsicherheit vor dem Referendum in Kirgistan
Nach blutigen Unruhen steht ein neues Grundgesetz zur Abstimmung
Von Irina Wolkowa, Moskau *
Mehrere zehntausend Flüchtlinge, die vor den blutigen Ausschreitungen im Süden Kirgistans ins
benachbarte Usbekistan geflohen waren, sind in den vergangenen Tagen in ihre Heimat
zurückgekehrt. Dort sollen sie am Sonntag (27. Juni) ihre Stimme bei einem Verfassungsreferendum abgeben.
Kirgistans Übergangspräsidentin Rosa Otunbajewa beendete Diskussionen über eine Verschiebung
des Volksentscheids durch ein Machtwort: Das Referendum werde wie geplant am 27 Juni
stattfinden. UNO und EU weiß sie hinter sich. Deren Sprecher in Bischkek halten sowohl die
Volksabstimmung als auch die für Oktober geplanten Parlamentswahlen für richtig. Obwohl die Lage
nach den blutigen Pogromen in Osch und Dschalalabad nach wie vor instabil ist. Zeitweise musste
deswegen sogar der Transport der Stimmzettel dorthin gestoppt werden.
Verständlich ist durchaus, dass Otunbajewa mit dem Referendum klare Zeichen setzen will: Sie und
ihre Regierung haben die Situation wieder unter Kontrolle und sind nicht bereit, vor der Gewalt zu
kapitulieren. Einen Zuwachs an Legitimation indes dürften sie und ihre Mannschaft dabei nicht
einfahren, egal wie das Referendum ausgeht.
Zwar hatte die neue Macht die für die Bestätigung des neuen Grundgesetzes erforderliche
Mindestbeteiligung an der Abstimmung schon vor Beginn der Unruhen von 50 auf 30 Prozent
gesenkt. Doch ist nicht sicher, dass dieses reduzierte Ziel erreicht wird. Nach Erkenntnissen
internationaler Organisationen waren vor Tagen noch 400 000 Menschen auf der Flucht. Allein 100
000 hielten sich demnach im benachbarten Usbekistan auf. Und ob den Bewohnern des
Krisengebietes – des kirgisischen Teils des Fergana-Tals – der Sinn nach einer Abstimmung über
künftige politische Strukturen und andere abstrakte Werte steht, bleibt fraglich. Die meisten sind mit
dem Kampf ums tägliche Überleben befasst. Im Fergana-Tal lebt etwa ein Drittel der
Gesamtbevölkerung der Fünf-Millionen-Republik.
Vor allem bei den Minderheiten, den ethnischen Usbeken und Ta-dshiken, dürfte sich die Teilnahme
in Grenzen halten. Schockiert von den jüngsten Pogromen, haben sich viele in ihren Vierteln
regelrecht verbarrikadiert und verweigern sogar Hilfsorganisationen den Zutritt. Werden die Usbeken
ihre Festungen verlassen, um einer Verfassung die Zustimmung zu geben, die ihnen nicht jene
Minderheitenrechte zubilligt, für die sie schon 1990, in der Endzeit der Sowjetunion, auf die
Barrikaden gingen?
Auch die kirgisische Mehrheit sieht der Abstimmung mit gemischten Gefühlen entgegen. Im Süden,
weil der geringste Anlass neue Gewalt gebären kann, im Norden, weil man befürchtet, der Konflikt
könnte sich ausweiten. Und hier wie dort sorgt für Unmut, dass ein Ja zur neuen Verfassung
gleichzeitig bedeutet, Rosa Otunbajewa bis Ende 2011 als Übergangspräsidentin zu bestätigen und
das Verfassungsgericht für eben diesen Zeitraum zu beurlauben. Alle drei Punkte wurden in eine
einzige Frage verpackt.
Russlands Präsident Dmitri Medwedjew äußerte sich jedenfalls besorgt über Kirgistans Zukunft. Er
habe angesichts der Schwäche der Behörden Sorge, dass das Land »auseinanderbrechen« und
»radikale Elemente« an die Macht kommen könnten, sagte er am Donnerstag (24. Juni) während seines USA-Besuchs.
Emir Kulow von der »American University of Central Asia in Bischkek« glaubt nicht, dass die
Übergangsregierung mit dem Referendum punkten wird. Zustimmung werde sie sich nur erwerben,
wenn sie das Chaos bei der Koordinierung der humanitären Hilfe in den Griff bekommt und für eine
gerechte Verteilung sorgt. Dass sie bisher sogar bei logistischen Herausforderungen versagte, lasse
befürchten, dass sie den politischen noch weniger gewachsen ist. Die gegenwärtige Ruhe im
Norden sei fragil und trügerisch und womöglich ein Luftholen vor dem Sturm.
Derweil gab ein Polizeisprecher in Dschalalabad die Verhaftung Sanschar Bakijews, eines Neffen
des gestürzten Präsidenten Kurmanbek Bakijew, bekannt. Sanschar wird verdächtigt, die blutigen
Unruhen im Süden organisiert zu haben.
* Aus: Neues Deutschland, 26. Juni 2010
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