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Kirgistan will seine Verfassung ändern

Übergangsregierung strebt Wandel von der Präsidial- zur Parlamentsrepublik an

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Das Tempo ist rekordverdächtig: Knapp drei Wochen nach dem Sturz von Präsident Kurmanbek Bakijew legte die Übergangsregierung in Kirgistan den Rohentwurf für eine neue Verfassung vor. Sie soll Mitte Mai, nach dem Feinschliff durch eine Verfassungskommission, öffentlich diskutiert und am 27. Juni per Referendum bestätigt werden.

Angesichts leidvoller Erfahrungen sollen die Kompetenzen des Präsidenten mehr oder minder auf Repräsentation beschränkt werden. Sowohl der Anfang April gestürzte Kurmanbek Bakijew als auch dessen fünf Jahre zuvor durch die »Tulpenrevolution« entmachtete Vorgänger Askar Akajew hatten die zentralasiatische Republik nämlich nach Gutsherrenart regiert. Künftig soll die eigentliche Macht beim Parlament liegen, das auch die Regierung wählt und den Präsidenten ernennt. Alle Parlamentsmandate sollen an politische Parteien vergeben werden, angesichts deren Vielzahl soll die Sperrklausel bei den für Anfang Oktober geplanten Wahlen von derzeit fünf auf drei oder gar zwei Prozent gesenkt werden.

Die Autoren des Entwurfs wollen damit sicherstellen, dass alle politisch bedeutsamen Gruppen im Parlament vertreten sind. Dies ist in Anbetracht des traditionellen Konflikts zwischen dem Norden und dem Süden der Republik für den Fortbestand der staatlichen Einheit Kirgistans unabdingbar.

Die Übergangsregierung in Bischkek verabschiedete darüber hinaus ein Maßnahmepaket, mit dem Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit wiederhergestellt werden sollen. Ob ihre ehrgeizigen Pläne von Erfolg gekrönt werden, bleibt abzuwarten. Denn bei der praktischen Umsetzung halten Chancen und Risiken sich nahezu die Waage. Mit einem Dutzend Parteien lassen sich stabile Mehrheiten schlecht organisieren, zumal wenn sie sich in erster Linie als politischer Arm der regional organisierten Clans verstehen. An diesen Zwängen kommt auch die Chefin der Übergangsregierung Rosa Otunbajewa nicht vorbei. Denn sie ist die Frontfrau von Sol – dem zweitgrößten Bündnis von Clans, das auf Umverteilung der Besitzstände drängt. Bisher wurden die profitabelsten Unternehmen von Ichkilik kontrolliert – einer anderen, konkurrierenden Allianz der südlichen Eliten, zu der auch die Familie Bakijews gehört. Zuvor herrschten die nördlichen Clans des Bündnisses Ong, die zu Ende der Sowjetära ihren Vertreter Askar Akajew an die Macht hievten.

Auch um die Macht der Clans zu brechen, legte sich der anfangs durchaus liberale Akajew einen zunehmend autoritären Regierungsstil zu, musste das Vorhaben aber als gescheitert abblasen. Otunbajewa steht vor ähnlichen Herausforderungen. Zu den angekündigten innenpolitischen Lockerungen kann sich die Übergangsregierung angesichts fortdauernder Unruhen in Teilen des Südens nur schwer durchringen. Die Presse wird daher nach wie vor zensiert, auf Journalisten wird oft sogar Druck ausgeübt, Bakijew und dessen Regime in Bausch und Bogen zu verdammen. Nicht einmal in Russland, wo der Westen die Drahtzieher des Bakijew-Sturzes vermutet, herrscht über dessen Gelingen eitel Freude. Zwar werteten Usbekistan und Tadshikistan das Ausbleiben russischer Hilfe für Bakijew als gelbe Karte an die eigene Adresse und reagierten bereits mit neuen Loyalitätsbekundungen. Anderseits eskaliert der Konflikt zwischen Moskau und Minsk, wo Bakijew Zuflucht fand. Staatschef Alexander Lukaschenko verweigert nicht nur dessen von der kirgisischen Übergangsregierung geforderte Auslieferung, er drohte vorsorglich auch – sollte Moskau dazu wirtschaftlichen Druck ausüben – mit Sanktionen gegen die russische Truppenbasis in Belarus.

* Aus: Neues Deutschland, 28. April 2010


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