Land hinter Stacheldraht
Ein Jahr nach den blutigen Unruhen im Süden ist die Situation nur scheinbar beruhigt
Von Maya Kristin Schönfelder *
»Alle raus!«, blafft der Minibusfahrer, als unser Gefährt das Ende der Autoschlange erreicht. 17 Passagiere auf dem Weg vom kasachischen Almaty nach Bischkek, der Hauptstadt Kirgistans, schnappen sich Rollkoffer, Einkaufstaschen, Winterreifen, Stehlampen und Rucksäcke und machen sich samt Gepäck zu Fuß auf den Weg über den Fluss Tschu, der die Grenze zwischen Kasachstan und Kirgistan markiert.
Der Gepäckmarsch ist mühselig und frustrierend vor allem für Pendler und Menschen auf Verwandtenbesuch. Denn die Grenzen in Zentralasien sind künstlich gezogen. Zu Zeiten der Sowjetunion spielten sie keine Rolle, auch in den Jahren danach war die Grenze zwischen Kasachstan und Kirgistan eine Formalität. Wer ins Nachbarland reisen wollte, musste an manchem Grenzübergang nicht einmal seinen Pass vorzeigen – bis zum Frühling 2010. Seit den Unruhen in Kirgistan, die im April 2010 in Bischkek ihren Anfang nahmen, ist der Flusslauf auf kasachischer Seite mit Stacheldraht gesichert. Um die Grenze mit dem Auto überqueren zu können, braucht man spezielle Dokumente. Für Fußgänger bedeutet der Grenzübertritt Schlangestehen, Stempel, Gepäckkontrolle und manchmal auch Verhör.
Angst vor dem Virus des Umsturzes
»Unsere kasachischen Brüder haben Angst vor dem Virus«, sagt Taxifahrer Akim Mansurow, der mehrmals in der Woche zwischen Bischkek und Almaty pendelt. Dem Virus des Umsturzes: Vor nichts fürchtet sich Nursultan Nasarbajew, der Präsident Kasachstans, mehr. Der »Führer der Nation«, wie er seit einem Jahr offiziell per Gesetz zu titulieren ist, ließ die Grenzen zu Kirgistan im April 2010 schließen, tausende kirgisische Gastarbeiter wurden über Nacht aus Kasachstan in ihre Heimat abgeschoben.
Damals gingen die Menschen in Bischkek gegen ihren korrupten Präsidenten Kurmanbek Bakijew auf die Straße. Bakijew wehrte sich gegen die drohende Entmachtung mit angeheuerten Scharfschützen, die er auf Dächern rund um seinen Amtssitz postierte. Mehr als 90 Menschen starben. Bakijew floh. Doch im Juni 2010 versuchten Anhänger des gestürzten Präsidenten, durch einen inszenierten Aufstand im mehrheitlich von Usbeken bewohnten Süden des Landes die Macht wiederzuerlangen. Bei den folgenden schweren ethnischen Auseinandersetzungen zwischen Kirgisen und Usbeken starben mehr als 2000 Menschen, bis zu 100 000 Usbeken flohen ins benachbarte Usbekistan.
»Während wir uns die Köpfe eingeschlagen haben, rollten die Kasachen über Nacht die Stacheldrahtrollen aus«, erzählt Akim Mansurow bitter. Auch wenn die Grenze inzwischen wieder passierbar ist, gestaltet sich sein Berufsalltag deutlich schwieriger als früher. Viele Investoren haben das Land nach den blutigen Unruhen blitzartig verlassen. Derzeit chauffiert der 37-Jährige vor allem Chinesen vom Flughafen in Almaty nach Bischkek. Eigentlich könnte man die Tour dank der gut ausgebauten Strecke auf kasachischer Seite in zweieinhalb Stunden schaffen. Doch wegen der Grenzformalitäten dauert eine Fahrt jetzt zwischen drei und sieben Stunden, je nach Uhrzeit und politischer Großwetterlage.
Touristen reisen kaum noch nach Kirgistan, das bis zum Frühjahr 2010 als »die Schweiz Zentralasiens« vor allem bei Individualreisenden sehr beliebt war. Im Sommer sorgten zudem Badegäste aus Kasachstan am See Issyk-Kul für Arbeit und Einkommen. Die Nachbarn liebten es, mit ihrem neuen Ölreichtum zu protzen, erinnert sich Akim. »›Du willst 100 Som?‹, fragten sie, ›Hier hast du 500, füttere deine Kinder!‹ Das hat die Preise natürlich in utopische Höhen getrieben.« Jetzt reisen die betuchten Gäste lieber in die Türkei, wo sie sich sicherer fühlen. »Nach allem, was passiert ist, trauen die Kasachen den Kirgisen alles zu. Und ich muss sagen: Sie haben Recht«, konstatiert der Taxifahrer.
Nachbarn sitzen auf gepackten Koffern
Akim selbst gehört der Minderheit der Uiguren an, seine Frau Muchabbat Abdullajewa ist Usbekin. »Wir hatten Todesangst in diesen Tagen«, erinnert sich Muchabbat an das Frühjahr 2010. Die Familie lebt mit ihren fünf Kindern in Nowo-Pokrowka, einem Dorf rund 20 Kilometer außerhalb von Bischkek. Ihr Haus liegt an der Straße, die zum Issyk-Kul führt. Von dort marschierten seinerzeit Aufständische zu Fuß in die Hauptstadt. »Direkt vor unserem Tor wurde geschossen. Wir haben uns mit den Kindern in der Sommerküche versteckt und gehofft, sie finden nicht heraus, dass ich Usbekin bin«, erzählt die 33-Jährige.
Nowo-Pokrowka war früher mehrheitlich von Deutschen bewohnt. Die meisten von ihnen sind längst nach Deutschland ausgewandert. Jetzt leben hier vor allem Russen, Usbeken und Uiguren. Noch. »Alle unsere russischen Nachbarn haben sich nach dem Aufstand russische Pässe besorgt. Sie sitzen auf gepackten Koffern. Wenn noch einmal so etwas passiert, sind sie morgen weg. Nur wir haben keine andere Heimat als diese«, klagt Muchabbat Abdullajewa. Dass der usbekische Präsident Islam Karimow auf dem Höhepunkt des Flüchtlingsstroms seinen Landsleuten die Tür vor der Nase zuschlug, zeige, woran man als Usbeke in Kirgistan sei. »Wir haben keine Rechte und sind Bürger zweiter Klasse, auch wenn wir hier geboren wurden.«
Muchabbat stammt aus einem Dorf in der Nähe von Bischkek, ihr Mann Akim hat sie nach alter Tradition geraubt, als sie gerade 15 Jahre alt war. Weil sie deshalb keinen Schulabschluss hat, findet sie keine Arbeit. Die Familie ist ganz auf Akims Verdienst angewiesen.
Unterstützung vom Staat erhält sie nicht, obwohl Abdullajewa als kinderreiche Mutter Anspruch darauf hätte. Wenn sie bei den zuständigen Stellen deshalb vorspreche, werde sie nur ausgelacht. »Sie sagen: Was, eine Usbekin? Ihr habt doch alle Geld wie Heu.« Der Umstand, dass Akim Uigure ist, mache die Sache nicht besser. »Uiguren hassen sie noch mehr als Usbeken.«
Uiguren machen ein ganzes Prozent der Bevölkerung Kirgistans aus, 14 Prozent gehören offiziell der usbekischen Minderheit an. Beide Volksgruppen haben in Zentralasien den Ruf, gute Geschäftemacher zu sein. »In wirtschaftlich schweren Zeiten wie diesen sind wir eine ideale Zielscheibe für den Volkszorn«, sagt Akim Mansurow.
»Rochat« wartet sehnlich auf Gäste
Die usbekischen Besitzer des Ferienklubs »Rochat« hatten nach dem Ausbruch der Unruhen die 650-Betten-Anlage am Nordufer des Issyk-Kuls Hals über Kopf an ein koreanisches Konsortium verkauft. In dessen Auftrag versucht die Kirgisin Gulnara Sulaimanowa, in dieser Saison Normalität herzustellen. Beheiztes Schwimmbad, private Sauna, VIP-Zimmer mit Whirlpool, gepflegte Rosenrabatten: Es gibt vieles, was einen Urlaub im »Rochat« verlockend erscheinen lässt. Dennoch gibt es kaum Buchungen bislang. Nur die kasachische Leichtathletik-Jugendauswahl zieht unbeeindruckt ihre Trainingsrunden durch den menschenleeren Park. »Unsere Preise sind wettbewerbsfähig«, umschreibt Gulnara Sulaimanowa den Umstand, dass sich die jungen Sportler trotz der allgemeinen Vorbehalte ihrer Landsleute hinter den Stacheldraht trauen.
Die Hotelmanagerin spricht sich Mut zu, auch wenn das Telefon schweigt. »Wir waren kürzlich bei einer Messe in Almaty und haben eine ganze Reihe Vorverträge mit Reiseveranstaltern abgeschlossen. Jetzt müssen die Leute sich nur noch trauen.« Die 43-Jährige stammt aus dem nahen Städtchen Tscholpon-Ata, wo ihre Eltern bis heute leben. Sie selbst wohnt außerhalb der Saison mit Mann und zwei Töchtern in Bischkek, »um deren Ausbildung willen«, sagt sie.
Dass es am Issyk-Kul kaum andere Einnahmequellen als den Tourismus gibt, verraten die Schilder am Straßenrand, die Privatunterkünfte ab fünf Dollar anbieten. Die frisch renovierten Zimmer im »Rochat« sind ab 25 Dollar zu haben, Vollpension inklusive. »Natürlich sind wir flexibel, wenn Sie länger bleiben«, schiebt Gulnara Sulaimanowa hinterher.
Am Tor versammelt sich zum Schichtende das Servicepersonal, um mit dem Bus nach Hause zu fahren: Küchenfrauen, Zimmermädchen, Gärtner, Handwerker, Rettungsschwimmer, Bademeisterin. Drei Dutzend Menschen bietet das »Rochat« allein in der Frühschicht Lohn und Brot. Gulnara Sulaimanowa zählt auf, welchen Nationalitäten ihre Angestellten angehören, auch der usbekische Großvater und die jüdische Urgroßmutter werden dabei erwähnt. »Schreiben Sie, dass alles ruhig ist bei uns«, bittet sie. »Und dass wir Kirgisen vom Issyk-Kul unseren Nachbarn nichts zuleide tun.« Da klingelt das Telefon an der Rezeption, Gulnara Sulaimanowa setzt ein Lächeln auf und nimmt den Hörer ab.
* Aus: Neues Deutschland, 2. August 2011
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