SOS aus Babalaschka
In Osch, der kirgisischen Stadt der Liebe, führt der Hass das Regiment
Von Irina Wolkowa, Osch *
Verbissen bearbeitet Kimsanchan Sadykowa ihre Teeschalen. Immer wieder
reibt sie mit dem Lappen über die fettige schwarze Rußschicht. Bis sich
darunter die weiße Glasur zeigt.
Nur die Teeschalen, die sie in den Trümmern ihres niedergebrannten
Hauses fand, und der Tschapan, den sie seit fünfzehn Tagen auf dem Leib
trägt, sind ihr geblieben nach den Unruhen in Osch, im Süden Kirgistans,
wo Mitte Juni Kirgisen und Usbeken aufeinander losgingen. Ganze
Stadtviertel liegen in Trümmern. Vor allem die der Usbeken: Amir Timur,
Furkat und Nawoi im Osten der Stadt, benannt nach dem usbekischen
Nationaldichter Alischer Nawoi und vor dem Gemetzel eine Idylle. Mit
Häusern, umgeben von kunstvoll gefliesten Höfen, wo Weinspaliere und
Aprikosenbäume Schatten vor der weißen Sonne spendeten. Wo die Besitzer
jeden Halm Unkraut ausrissen, wo Rosen und violettes orientalisches
Basilikum abends nach dem Gießen einen betäubenden Duft verströmten.
»Wir haben unser ganzes Leben gebaut, alles Geld in dieses Haus
gesteckt«, sagt Kimsanchan. »Und jetzt stehen wir vor dem Nichts!« Mit
nassen Augen zeigt die Endvierzigerin auf Mauerreste, Schuttberge und
verkohlte Bäume. »Was soll werden mit uns? Bald ist Winter.« Im
Fergana-Tal ist der so extrem kalt wie der Sommer heiß. Es ist noch
nicht einmal elf, und das Thermometer zeigt weit über 30 Gad. Im
Schatten.
»Bitte nicht schießen!«
Mahallas nennen die Bewohner ihre Kieze, in denen jeder irgendwie mit
jedem verschwägert ist. Die Mahalla von Kimsanchan zählte über
anderthalbtausend Einwohner, die meisten lebten in Großfamilien:
Großeltern, Eltern und Kinder unter einem Dach. Lebten. Denn von den 162
Häusern sind 58 völlig zerstört, ihre Bewohner nächtigen, so wie
Kimsanchan, ihr Mann und die sieben erwachsenen Kinder des Paares, in
den Ruinen oder in Autowracks. 120 Familien sind auf der Flucht. Und
allein in seiner Straße, sagt Durdubay Borobajew, 64 und gewählter
Ältester, habe es über 20 Tote gegeben. Für keinen davon, sagt er,
hätten die Beamten einen Totenschein ausgestellt. Ohne Totenschein aber
fallen sie durch die Raster der offiziellen Statistik. Die jongliert
derzeit mit etwas über 200 Opfern. Borobajew glaubt wie
Übergangspräsidentin Rosa Otunbajewa, dass es über 2000 sind.
Es seien »ethnische Säuberungen« gewesen, sagt er. Plünderer und
Marodeure hätten Einwohnerlisten gehabt, sich in Mehrfamilienhäusern
gezielt die Wohnungen von Usbeken vorgeknöpft und dann deren Mahallas.
»Wir waren schon am 11. Juni, dem ersten Tag der Unruhen, halb
wahnsinnig vor Angst und haben uns nicht mehr auf die Straße und auf den
Basar getraut. Doch es passierte nichts, und auch die Nacht war ruhig.«
Hoffnungen, der Kelch würde an ihnen vorübergehen, hatten sich jedoch
schon am Mittag des nächsten Tages erledigt. Als sich die Männer des
Viertels zum Freitagsgebet in die Moschee aufmachen wollten, rückten die
Marodeure an. Mit Unterstützung von Scharfschützen, die oben auf dem
Salomonsberg, wo man die Stadt wie auf dem Handteller vor sich liegen
hat, in Stellung gegangen waren.
Bei den Überfällen, sagt Borobajew, hätten neben Kirgisen aus Osch auch
Männer aus den nördlichen Regionen mitgemischt. Allein aus der
Hauptstadt Bischkek seien etwa tausend Mann Verstärkung angerückt. »Sie
haben alles mitgenommen, was nicht niet- und nagelfest war«, klagt
Borobajew. »Allein aus meinem Lebensmittelgeschäft 260 Säcke Mehl und
ein paar Fässer Pflanzenöl. Dann haben sie unsere Autos angesteckt und
unsere Häuser. Und aus dem, was nach dem Brand übrig war, haben sie mit
Äxten Kleinholz gemacht.«
Auch Borobajews Hof ist zur Hälfte von Ruinen umgeben, sein
Granatapfelbaum sieht aus, als sei der Blitz in ihn gefahren. Eine
Hälfte ist verkohlt, die Zweige der anderen sind mit grell orangen
Blüten übersät. Sein fünfjähriger Enkel spielt mit einer Konservendose
Fußball. Als er das ausgefahrene Objektiv meiner Kamera auf sich
gerichtet sieht, rennt er schreiend davon: »Nicht schießen, bitte!«
Sorgenvoll betrachtet Borobajew die überreifen Aprikosen am Baum: Export
nach Russland kann er in diesem Jahr vergessen. Durch die Unruhen ist
der Handel im Süden Kirgistans zum Erliegen gekommen. Auf die Frage nach
Entschädigungen für Geschäftsausfälle und den Verlust von Wohneigentum
lacht er bitter auf. Viele scheiterten schon bei der Antragstellung:
»Ausweis, Eintrag ins Grundbuch und andere Papier sind verbrannt. Die
Leute haben sowie massive Angst vor jedem Behördengang. Sogar in
Brotgeschäfte trauen sich unsere Frauen nach wie vor nur in Gruppen und
von bewaffneten Männern begleitet.«
Zwar hatte die Übergangsregierung gleich zu Beginn der Unruhen Einheiten
aus dem Norden in die Stadt verlegt, um die Übergriffe zu stoppen. Doch
die bestanden aus ethnischen Kirgisen, zu denen die Usbeken kein
Vertrauen hatten. Die meisten, sagt Borobajew, seien inzwischen ohnehin
wieder abgezogen worden. Weil sie in Bischkek bei der Abstimmung über
die neue Verfassung am vergangenen Sonntag gebraucht wurden.
Borobajew und die Seinen haben weder den Entwurf gelesen noch hat ihnen
jemand erklärt, wozu Grundgesetz und Verfassungsgericht gut sind. Und ob
Übergangspräsidentin Otunbajewa bis Ende 2011 weitermachen darf, ist ihm
völlig egal: »Wir haben andere Sorgen.«
Es gibt mehrere Deutungen dafür, wie Osch vor über 3000 Jahren zu seinem
Namen kam. Eine davon geht auf »Ashk« zurück, das Wort für Liebe.
Gegenwärtig aber führt der blanke Hass hier das Regiment. Nach wie vor
bewachen schwer bewaffnete Freiwilligenmilizen beider Ethnien die
Viertel ihrer Volksgruppe und durchsuchen die Autos der jeweils anderen
nach Waffen. Stolz zeigen Straßenposten in Tarnkleidung ihre Beute:
neben Schießprügeln aller Kaliber auch Nagelpeitschen und mit Rasier-
oder Messerklingen bestückte Schlagstöcke. Dazu liefern Kirgisen wie
Usbeken jede Menge Erlebtes und Erdichtetes als Beweis dafür, dass die
anderen angefangen und die schlimmeren Gräueltaten begangen
hätten.
Jeder hat seine Version
Einig sind sich beide nur über den direkten Anlass des Gemetzels: Ein
Streit um Gewinne am Spieltisch. Darüber, was vorher war und was danach
kam, hat jede Gruppe ihre eigene Version. »Wir haben eine militärische
Intervention der Republik Usbekistan verhindert«, glaubt Danijar, ein
Mann Anfang 40, der in einem Hotel - einem kirgisischen, das die Orgie
der Gewalt unbeschadet überstand - als Wächter arbeitet. »Die wollten
mit Panzern und Kampfhubschraubern angreifen und den Süden Kirgistans
besetzen. Unsere Usbeken hier sollten nur losschlagen, sich 24 Stunden
halten und Taschkent einen plausiblen Vorwand zum Einmarsch liefern.«
Pläne für die Invasion seien im Keller des Kasinos gefunden worden, wo
der Streit begann. Auch dechiffrierte Funksprüche mit Anweisungen
usbekischer Geheimdienste für die Führung der Volksgruppe in Kirgistan.
Das habe er, Danijar, selbst im staatlichen Fernsehen gesehen.
»Quatsch«, sagt Borobajew, der Älteste der zerstörten Usbeken-Mahalla.
»Wir wollen keine Abspaltung, sondern Autonomie. Wir stellen hier im
Süden 70 Prozent und in ganz Kirgistan ein Drittel der Bevölkerung.
Unser Anteil wird bei Volkszählungen aber immer heruntergerechnet.«
Offiziell ist von 14,3 Prozent Usbeken die Rede, Usbekisch daher bis
heute keine Staatssprache. Noch mehr wurmt Borobajew, dass nach dem Ende
der Sowjetunion 1991 Kirgisen aus dem Norden in die bis dahin von
Usbeken dominierten Städte des Südens umgesiedelt wurden. Auch die
Wahlkreise seien anders geschnitten und Usbeken aus Verwaltung, Justiz
und Polizei entfernt worden: »Vor den Unruhen gab es hier in Osch nur
noch 50 usbekische Polizisten. Denen hat man Waffen und Uniform
abgenommen und sie mehrere Tage lang in Kellern eingesperrt.«
»Lüge!«, sagt Sicherheitsmann Danijar, der selbst erst vor ein paar
Jahren aus dem Norden hierher kam: »Autonomie wollen die? Die haben sie
doch. In Usbekistan leben drei Millionen Kirgisen, weiter als bis zum
Schuldirektor hat es keiner von ihnen dort gebracht. Bei uns dagegen
waren vor den Unruhen der Gouverneur und der Bürgermeister Usbeken. Fast
alle Schulen sind usbekische, auch die Krankenhäuser. Sie haben die
Märkte kontrolliert und auch sonst das große Rad gedreht.«
Zweites Afghanistan?
Allerlei »Experten« erklären die Gewalt zwischen Kirgisen und Usbeken
immer wieder mit Stalin, der die Grenzen der zentralasiatischen
Sowjetrepubliken mitten durch das Siedlungsgebiet der Völker gezogen
habe - als ließen sich die Ethnien Zentralasiens »sauber« voneinander
trennen. Auch Verteilungskämpfe um Wasser und Land, die schon 1990 in
Osch zu blutigen Ausschreitungen führten, werden als Konfliktmotiv
herangezogen. Das sind allenfalls Halbwahrheiten, bestätigt Bakyt
Beschimow, der lange im kirgisischen Parlament saß und jetzt im Exil
lebt. Schuld seien vor allem die gewaltigen sozialen Probleme.
Tatsächlich sind viele Gastarbeiter in Russland Kirgisen, und von denen
stammt die Mehrheit aus dem Süden. Ihre Kinder wachsen bei den
Großeltern auf. Oder völlig auf sich allein gestellt. Die offizielle
Statistik weist über 16 000 Waisen aus, bei nicht einmal fünf Millionen
Einwohnern.
Der Überlebenskampf auf der Straße, meint Beschimow, erziehe sie zu
Grausamkeiten. Dazu kommt, dass die heranwachsende Generation kaum noch
Russisch spricht und, weil andere Fremdsprachen ebenfalls kaum gelehrt
werden, keinen Zugang mehr zu Wissen hat. Die Gewaltbereitschaft habe
daher einen ähnlich hohen Grad erreicht wie in Afghanistan, das Anfang
der 90er mit ähnlichen Problemen konfrontiert war, sagt Beschimow.
Kirgistan, fürchtet er, könnte ein zweites Afghanistan werden.
Bis zu 400 000 Menschen waren nach der Gewaltorgie auf der Flucht. Vor
allem Usbeken. Etwa 80 sind in einer zum Flüchtlingslager umgebauten
Schule im Stadtviertel On Adyr gestrandet, dämmern auf Matratzen und
Decken, die Gläubige einer Moschee für sie gespendet haben, vor sich
hin. Auch Sadatchan Nematowa, vor der eine Kanne mit grünem Tee und ein
fast leeres Fläschchen mit Herztropfen steht. Die 80-Jährige,
siebenfache Mutter und Großmutter von 17 Enkeln und 14 Urenkeln, trägt
immer noch, was sie anhatte, als die Unruhen begannen: ein Gewand aus
reiner Seide in Braunschattierungen mit Goldstickerei.
»Wir haben nichts mitnehmen können«, sagt Tochter Rakija, 58 Jahre alt.
»Nicht mal die Herztropfen. Dabei hat Mutters Zustand sich
verschlechtert. Sie war die reichste Frau in unserer Straße, hat allen
immer mit vollen Händen gegeben und geht jetzt daran kaputt, dass wir
selbst auf Almosen angewiesen sind.« Das sei bitterer als das karge
Essen und der Wassermangel. »Anfangs gab es zwei Stunden täglich Wasser.
In den letzten drei Tagen keinen Tropfen mehr.«
»Lass uns nach Hause gehen«, sagt die Greisin. »Bald Mutter, bald«,
beruhigt Rakija sie auf Usbekisch. Leise auf Russisch erzählt die
Tochter, sie seien gleich zu Beginn der Unruhen weg aus ihrer Mahalla in
Furkat, einem der am schlimmsten betroffenen Viertel. Das Ausmaß der
Zerstörungen kennen sie bisher nur aus Telefonaten mit Verwandten. »Für
uns«, sagt Rakija, »gibt es kein Zurück. Aber Mutter kann ich das nicht
sagen. Sie würde es nicht ertragen. Allah, was soll aus uns werden?«
Überforderte Helfer
Allah ist mit dem Problem ähnlich überfordert wie internationale
Hilfsorganisationen. Die Behörden haben es immer noch nicht geschafft,
deren Tätigkeit zu koordinieren. Deutlich Flagge zeigen bisher nur das
Internationale Rote Kreuz und vor allem Ärzte ohne Grenzen. Sie waren
schon da, als die Häuser noch brannten, und haben inzwischen eine
Poliklinik zum Notfallstützpunkt umgebaut. Mit Operationssaal und
Sicherheitsraum, den Anja Wolz, die medizinische Koordinatorin, stolz
zeigt. Zeitweilig waren sie auch direkt an der Grenze zu Usbekistan
tätig. Im Grenzdorf Suratasch kampierten zu Beginn der Unruhen fast 100
000 Flüchtlinge. Erst am zweiten Abend öffneten usbekische Grenzer einen
Korridor.
Die meisten Flüchtlinge sind inzwischen zurück, haben Aufnahme bei
Verwandten oder Bekannten gefunden. Allein Sanobar, die - wie fast alle
- ihren Nachnamen nicht gedruckt sehen will, füttert neben den 15
Mitgliedern ihrer eigenen Familie derzeit 20 Flüchtlinge durch. »Solange
unsere Vorräte reichen«, sagt die 64-Jährige. »Danach werden wir eben
gemeinsam hungern.«
Denn Hilfsorganisationen haben sich nach Babalaschka, keine zehn
Kilometer von Osch entfernt, bisher nicht verirrt. Es fehlt an Mehl,
Medikamenten, Decken. An allem. In ihrer Not haben die Einwohner mit
weißer Farbe alle hundert Meter SOS auf die Asphaltstraße gepinselt.
Bisher ohne Erfolg.
* Aus: Neues Deutschland, 3. Juli 2010
Zurück zur Kirgistan-Seite
Zurück zur Homepage