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Parlamentsneuwahl letzte Chance für Kirgistan

Zementierung des Nord-Süd-Konflikts macht das zentralasiatische Land zunehmend unregierbar

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Kirgistans Präsident Kurmanbek Bakijew hat das Parlament aufgelöst und für den 16. Dezember Neuwahlen anberaumt. Sie sind die letzte Chance, den Kollaps der kleinen zentralasiatischen Ex- Sowjetrepublik zu verhindern, die Ende März 2005 weltweit für Schlagteilen sorgte.

Westliche Polittechnologen, die bei dem Machtwechsel vor zweieinhalb Jahren kräftig mithalfen und ihn anfänglich zu einer demokratischen Revolution hochjubelten, rudern inzwischen ebenso kräftig zurück. Denn die Eliten im halbkolonialen Süden stürzten mit Hilfe krimineller Banden lediglich die regierenden Clans des reichen Nordens. Deren Vertreter indes stellen im Parlament, das noch vor dem Umsturz gewählt wurde, die Mehrheit. Ihnen schlossen sich inzwischen auch enttäuschte Weggefährten Bakijews an.

Der Machtkampf zwischen Regierung und Opposition hatte sich in den letzten zwölf Monaten bereits mehrfach gefährlich zugespitzt und zu neuen landesweiten Unruhen geführt. Dabei ging es vor allem um Verfassungsänderungen, die die Allmacht des Präsidenten begrenzen sollten. Zugeständnisse, zu denen Bakijew sich durch den Druck seiner Gegner gezwungen sah, machte er, kaum dass die Protestler ihre Jurten wieder abgebaut hatten, rückgängig.

Die Opposition wirft ihm zudem massive Fälschung der Ergebnisse eines Referendums am Wochenende vor, bei dem der Präsident über seine Variante des Grundgesetzes abstimmen ließ und angeblich Zustimmungsraten von über 75 Prozent kassierte. Tags darauf löste er das Parlament auf. Begründung: Die Widersprüche zwischen Legislative und Exekutive seien unüberbrückbar geworden.

Ob Neuwahlen sie ausräumen können, bleibt abzuwarten. Die neue Macht hat die alten Probleme bisher nicht einmal ansatzweise in den Griff bekommen: Massenelend, Korruption und ein gestörtes Verhältnis zu den Nachbarn. Die Gründe dafür liegen vor allem in Verteilungskämpfen um die knapper werdenden Ressourcen der Region. Stoppen Kasachstan oder Usbekistan Öl- und Gaslieferungen, dreht Kirgistan den Wasserhahn zu.

Vor allem aber: Der Machtwechsel hat den uralten Nord-Süd-Konflikt, der bisher auch ein gemeinsames Nationalbewusstsein verhinderte, neu befeuert und de facto eine Machtkrise heraufbeschworen. In der Exekutive hat der Süden das Sagen, in der Legislative die Nordlichter. Schreiben die Parlamentswahlen die gegenwärtige Patt-Situation fort, droht der Zusammenbruch sämtlicher staatlicher Strukturen. In das Machtvakuum könnten leicht radikale Islamisten stoßen, die seit der »Revolution der Tulpen« auch im bisher eher laizistischen Kirgistan auf dem Vormarsch sind.

Das aber hätte Folgen für die gesamte Region. Vor allem für Usbekistan, die mit Abstand bevölkerungsreichste Republik Zentralasiens, die zudem traditionell Hochburg des Islams ist.

Ebenso für Kasachstan, das in Kirgistan bereits Investitionen von über zwei Milliarden Dollar versenkt hat. In Bischkek raunt man daher, Kasachenpräsident Nursultan Nasarbajew habe seinen kirgisischen Amtskollegen im Sommer knallhart vor die Wahl gestellt: Entweder gelinge es diesem, die Wirren aus eigener Kraft zu beenden, oder aber Kasachstan werde dabei helfen. Notfalls mit Hilfe der Shanghai-Organisation. Sie wird von Russland und China dominiert, die in der Region ebenfalls handfeste Interessen haben und die zunehmende Afghanisierung Kirgistans mit wachsender Sorge beobachten.

* Aus: Neues Deutschland, 24. Oktober 2007


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