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Hilfe für Kirgistan lief an

UNO-Flüchtlingskommissar nennt die Unruhen "Tragödie"

Nach der Ausweitung der Unruhen im Süden Kirgistans ist die internationale Hilfe für Zehntausende Flüchtlinge in der Region Zentralasiens angelaufen.

Im ostusbekischen Andishan landete am Mittwoch (16. Juni) ein Flugzeug mit 800 Zelten des Flüchtlingshilfswerks UNHCR. UNO-Flüchtlingskommissar Antonio Guterres sprach von einer »Tragödie« und rief die internationale Gemeinschaft zum Handeln auf. »Die benachbarten Länder und die Völkergemeinschaft insgesamt sollten alles in ihren Kräften stehende tun, um die kirgisische Übergangsregierung dabei zu unterstützen, Frieden und Stabilität wiederherzustellen«, forderte der UNO-Flüchtlingskommissar.

Im Laufe des Tages sollten in Andishan zwei weitere Hilfsflüge des UNHCR eintreffen. In der kirgisischen Hauptstadt Bischkek landete ein russisches Flugzeug mit Zelten und Decken. Im Zuge der Gewalt zwischen Kirgisen und Angehörigen der usbekischstämmigen Minderheit waren in den vergangenen Tagen aus Kirgistan mehr als 75 000 Menschen in das benachbarte Usbekistan geflüchtet. Weitere 200 000 Menschen sind laut UNHCR innerhalb Kirgistans auf der Flucht.

Die Europäische Kommission stellte für die Flüchtlinge fünf Millionen Euro Soforthilfe bereit. Das Geld werde vor allem für medizinische Versorgung, Lebensmittel, Wasser und Unterkünfte verwendet, hieß es in Brüssel. Zudem sollten sich EU-Experten vor Ort ein Bild von der humanitären Lage machen.

Die USA kündigten an, den für Süd- und Zentralasien zuständigen Abteilungsleiter im Außenministerium, Robert Blake, in die Region zu schicken, um den Hilfsbedarf zu klären. Er werde in die usbekische Hauptstadt Taschkent reisen und von dort an die kirgisische Grenze, teilte Außenamtssprecher Philip Crowley mit. Am Freitag werde Blake in Bischkek mit Vertretern der Übergangsregierung sprechen. Washington stellte nach eigenen Angaben bislang medizinisches Gerät und Kleidung im Wert von fast einer Million Dollar bereit.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International rief alle Nachbarländer Kirgistans auf, ihre Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen. Angesichts des Massenansturms hatte Usbekistan am Montag seine Grenze geschlossen, nur noch Kranke und Verletzte wurden durchgelassen.

Viele Flüchtlinge auf der kirgisischen Seite der Grenze haben nach eigenen Angaben weder einen überdachten Schlafplatz noch etwas zu essen. Eine aus dem südkirgisischen Osch geflohene 30-Jährige sagte: »Wir können nicht nach Hause zurückkehren. Osch wurde in einen Friedhof verwandelt.« Einige Flüchtlinge berichteten von Vergewaltigungen und Folter.

Nach nächtlichen Feuergefechten in Osch begannen die Behörden mit den Aufräumarbeiten, ausgebrannte Wracks von Autos wurden weggeräumt. Vor den Lebensmittelläden bildeten sich Schlangen. Auch im südkirgisischen Dschalalabad herrschte gespannte Ruhe. Dort hatten Brandstifter Hotels, die usbekische Universität und andere Gebäude schwer beschädigt, wie ein Korrespondent der Nachrichtenagentur AFP berichtete. Bei der Gewalt in den vergangenen Tagen waren nach offiziellen Angaben mindestens 187 Menschen ums Leben gekommen. Zu ihrem Gedenken begann am Mittwoch eine dreitägige Staatstrauer.

Wegen der zunehmend gespannten Lage jetzt auch im Norden Kirgistans hat Russland Frauen und Kinder seiner dort stationierten Soldaten ausgeflogen. Etwa 150 Familien russischer Armeeangehöriger verließen in einem Militärtransportflugzeug die Basis Kant.

* Aus: Neues Deutschland, 17. Juni 2010


Weitere aktuelle Meldungen

US-Diplomaten prüfen Situation mit Flüchtlingen aus Südkirgisien vor Ort

TASCHKENT, 17. Juni (RIA Novosti). Zwei Abteilungsleiter des US-Außenministeriums, Michael Posner und Robert Blake, werden am Freitag (18. Juni) die zentralasiatische Republik Usbekistan wegen der blutigen Krawalle in Südkirgistan besuchen.

Wie die US-Botschaft in Usbekistan weiter mitteilte, soll Blake, der die Abteilung für Angelegenheiten Süd- und Zentralasiens leitet, Flüchtlingslager und Krankenhäuser in Andischan besuchen. Sein Amtskollege Posner, Chef des Departements für Demokratie und Menschenrechte, plant Verhandlungen in der usbekischen Hauptstadt Taschkent.

Schwere Zusammenstöße zwischen Kirgisen und Usbeken in Südkirgistan begannen in der Nacht zum 11. Juni. Nach den jüngsten Angaben des kirgisischen Gesundheitsministeriums sind 191 Menschen dabei getötet worden. Kirgisische Bürger usbekischer Herkunft verließen massenweise das Land.

Laut dem usbekischen Zivilschutz haben fast 83 000 Flüchtlinge die kirgisisch-usbekische Grenze passiert. Die UNICEF schätzt die Zahl der geflüchteten kirgisischen Bürger auf 100 000, wobei es sich zu 90 Prozent um Kinder, Frauen und ältere Leute handeln soll.

Hunderte Flüchtlingslager sind in den usbekischen Gebieten Andischan, Namangan und Fergana aufgeschlagen.


Russland hilft kirgisischen Geheimdiensten bei Ermittlungen zu Unruhen

MOSKAU, 17. Juni (RIA Novosti). Russland will unter der Ägide des postsowjetischen Sicherheitsbündnisses CSTO (Organisation des Vertrags für kollektive Sicherheit, OVKS) Experten nach Kirgistan schicken, um dessen Geheimdienste bei der Ermittlung der jüngsten Unruhen zu unterstützen.

Das erfuhr RIA Novosti aus russischen Sicherheitskreisen. Die Experten stünden vor der Aufgabe, gemeinsam mit Geheimdiensten anderer CSTO-Staaten die Unruhenstifter auszumachen. Die Leitung der Gruppe übernähme CSTO-Generalsekretär Nikolai Bordjuscha.

Im südkirgisischen Osch, der ehemaligen Hochburg des im April gestürzten Präsidenten Kurmanbek Bakijew, waren in der Nacht zum 11. Juni blutige Auseinandersetzungen zwischen Kirgisen und Usbeken ausgebrochen, die in den Folgetagen auf das benachbarte Gebiet Dschalalabad übergriffen.

Nach den jüngsten offiziellen Angaben kamen dabei 191 Menschen ums Leben. Mehr als 2000 weitere erlitten Verletzungen. Osch, das vor den Krawallen mit mehr als 200.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt Kirgistans war, brannte bei den Unruhen zu 70 Prozent aus. Nach Schätzungen der UNO mussten mindestens 400.000 Menschen ihre Häuser in der Krisenregion verlassen.


GUS-Länder planen noch keinen Einsatz ihrer Militärkräfte in Kirgistan

MOSKAU, 17. Juni (RIA Novosti). Die Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (CSTO/OVKS) schickt noch keine Militärkräfte zur Regelung der angespannten Situation in Kirgistan.

„Die CSTO plant in dieser Etappe noch keine Entsendung ihrer Kräfte nach Kirgistan. Dabei wird den Rechtsschutzorganen und Geheimdiensten der Republik Kirgistan allseitige Hilfe bei der Entspannung der Krisensituation und bei der Normalisierung der Lage erwiesen“, sagte ein Sprecher des CSTO-Sekretariates RIA Novosti am Donnerstag (17. Juni).

Ihm zufolge wird derzeit die Entsendung von Sicherheitsexperten erwogen, „die fähig sind, Operationen zur Verhinderung von Massenunruhen, zur Ermittlung von Aufrührern sowie zur Lokalisierung von Banden, die eine Verschärfung der Situation in Kirgistan provozieren zu planen und vorzubereiten“.

„Es geht aber nicht um die Entsendung einer Friedenstruppe nach Kirgistan“, ergänzte der Gesprächpartner der Agentur.

Am 11. Juni kam es zu einer erneuten Verschärfung der Situation in Kirgistan, das bereits im April von Massenunruhen erschüttert worden war. Damals hatte die Opposition Präsident Kurmanbek Bakijew gestürzt und die Staatsmacht übernommen.

Die ethnischen Auseinandersetzungen zwischen Kirgisen und Usbeken waren in der südkirgisischen Stadt Osch ausgebrochen und haben dann auf das benachbarte Gebiet Dschalal-Abad übergegriffen.

In vielen Landkreisen Südkirgistans gilt der Ausnahmezustand.

Die Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit vereint Armenien, Weißrussland, Kasachstan, Kirgisien, Russland, Tadschikistan und Usbekistan.

Alle Meldungen aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, http://de.rian.ru


USA bieten Bischkek militärische Hilfe an

Situation in Kirgistan soll sich leicht entspannt haben / Neue Unruhen werden befürchtet

Von Irina Wolkowa, Moskau **

Die USA seien bereit, der kirgisischen Übergangsregierung neben humanitärer auch militärische Hilfe zu leisten, sagte ein hochrangiger Diplomat dem Fernsehsender CNN.

Voraussetzung für militärische US-Hilfe sei, dass Russland sich ebenfalls an der Operation beteilige. Auch wolle Vizeaußenminister Robert Blake sich im Fergana-Tal an der kirgisisch-usbekischen Grenze selbst ein Bild von der Lage machen und am Wochenende mit der kirgisischen Übergangsregierung in Bischkek zusammentreffen.

Moskau äußerte sich zu dem Angebot zunächst mit keiner Silbe. Außenminister Sergej Lawrow sagte lediglich, das Verteidigungsbündnis der UdSSR-Nachfolgegemeinschaft GUS – die Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS) – werde die Übergangsregierung in Bischkek nicht nur mit Waffen unterstützen, sondern auch durch die Geheimdienste, die vor allem die Anstifter der Unruhen ermitteln sollen. Auch habe sich die Situation im Krisengebiet leicht entspannt. Übergangspräsidentin Rosa Otunbajewa sieht daher derzeit auch keinen Bedarf an ausländischen Friedenstruppen, um die sie am vergangenen Wochenende zuerst Russland, dann die OVKS ersucht hatte.

Die Betonung liegt nach Meinung von Beobachtern auf »derzeit«. Journalisten berichten, die Lage in Osch und Dschalalabad sei weiter gespannt, es werde nach wie vor geschossen. Auch hätten die Soldaten der Nationalgarde – ethnische Kirgisen aus dem Norden – Angst, die von Barrikaden umgebenen Viertel der usbekischen Minderheit zu stürmen, weil sie Racheaktionen befürchten. Nach Darstellung der Übergangsregierung kamen bei den Unruhen bisher rund 200 Menschen ums Leben, denen Kirgistan seit Donnerstag in einer dreitägigen Staatstrauer gedenkt. Usbekistan und Hilfsorganisationen agieren mit weitaus höheren Opferzahlen und nehmen auch bis zu 100 000 Flüchtlinge an.

Wegen der Barrikaden um die Usbeken-Viertel würden Hilfsgüter nur einen geringen Teil der Bedürftigen erreichen, sagte eine Augenzeugin bei Radio »Echo Moskwy«. Ihren Worten zufolge treibt die Menschen die Furcht um, der gegenwärtigen relativen Ruhe könnte ein neuer Sturm folgen, der auch die Regionen im Norden erfasst. Die Stimmung in Bischkek sei »aggressiv«, sagen die Hauptstädter. Autos ohne Nummernschilder führen bei dort lebenden Usbeken vor, die Insassen drängten ihnen gegen Bares bewaffneten Schutz auf. Polizisten, sagte Präsidentin Otunbajewa in einem Interview für den russischen Fernsehsender NTW, hätten Befehl, bei Gefahren für das Leben friedlicher Bürger und für das eigene Leben von der Schusswaffe Gebrauch zu machen.

Den unmittelbaren Anlass für weitere Unruhen könnte die neue Verfassung liefern, über die nach derzeitigem Fahrplan am übernächsten Sonntag abgestimmt werden soll. Denn wer dem Entwurf zustimmt, bestätigt automatisch die umstrittene Otunbajewa bis Ende 2011 als Staatschefin und bejaht die Abschaffung des Verfassungsgerichts. Weil alle drei Punkte in eine Frage verpackt wurden.

Das lässt befürchten, dass auch die neue Macht zu demokratischen Reformen weder fähig noch bereit ist und der Republik nur eine weitere Umverteilung von Eigentum droht. Sie könnte die letzte sein, bevor der Zorn der Massen alle staatlichen Strukturen begräbt.

** Aus: Neues Deutschland, 18. Juni 2010


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