Debatte um mögliche Intervention in Kirgistan
Hauptlast läge bei Russland / Kein Ende der ethnischen Spannungen / Bis zu 100 000 auf der Flucht
Von Irina Wolkowa, Moskau *
Während der UNO-Sicherheitsrat die Gewalt in Kirgistan verurteilte und eine Beilegung des Konflikts
zwischen den ethnischen Gruppen forderte, wurde in London Maxim Bakijew, der von der
kirgisischen Übergangsregierung weltweit zur Fahndung ausgeschriebene Sohn des im April
gestürzten Präsidenten Kurmanbek Bakijew, festgenommen.
Maxim Bakijew kontrollierte im Auftrag des Clans seines Vaters die profitabelsten Unternehmen der
Republik und »privatisierte« deren Erlöse. Ihm und einem Bruder Bakijews lastet die
Übergangsregierung auch die jüngsten Unruhen im Süden der Republik an.
Die Situation dort ist weiterhin sehr gespannt. Mit Meldungen über den Beginn von
Friedensverhandlungen der kirgisischen und der usbekischen Bevölkerungsgruppe will die
Interimsregierung offenbar vor allem sich selbst Mut machen. Bis zu 100 000 Menschen sind
inzwischen auf der Flucht. Mit deren Aufnahme überfordert, schloss Usbekistan seine Grenzen zu
Kirgistan ein weiteres Mal.
Die Organisation für kollektive Sicherheit – das Verteidigungsbündnis der UdSSRNachfolgegemeinschaft
– erarbeitete auf einer außerordentlichen Tagung am Montag Empfehlungen
für die Präsidenten der Mitgliedsstaaten. Neben Russland und Kirgistan gehören dem Bündnis auch
Armenien, Kasachstan, Tadshikistan, Usbekistan und Belarus an. Der Vertreter Russlands – Ex-
Geheimdienstchef Nikolai Patruschew – sagte, das Bündnis werde beim Konfliktmanagement »das
gesamte Arsenal verfügbarer Mittel« zur Deeskalation der Spannungen einsetzen. Damit wäre eine
militärische Intervention, um die die Interimsregierung in Bischkek ausdrücklich gebeten hat,
gedeckt.
Die schnelle Eingreiftruppe des Bündnisses, sagte der unabhängige Militärexperte Viktor Litowkin
bei Radio Liberty, sei für eine derartige Mission nur mit Einschränkungen bereit. Sie werde erst
aufgestellt, habe bisher keine gemeinsamen Übungen absolviert oder gar praktische
Kampferfahrungen sammeln können. Für den Einsatz sei ohnehin der politische Wille aller sieben
Staatschefs erforderlich.
An diesem mangelt es derzeit noch. Das Bündnis will die Übergangsregierung und die zahlenmäßig
schwache, miserabel bewaffnete und schlecht ausgebildete kirgisische Nationalgarde zunächst mit
modernen Waffen unterstützen. Das indes bringt bei bürgerkriegsähnlichen Zuständen wenig.
Experten in Russland und den zentralasiatischen Ex-Sowjetrepubliken sprachen sich daher unisono
für die schnellstmögliche Entsendung von Friedenstruppen aus, die entschlossen handeln müssten.
Der Konflikt, warnte Russlands Ex-Außenminister Igor Iwanow, sei in der Nähe zu Afghanistan
ausgebrochen, dort gäbe es Kräfte, die daraus eigenes politisches Kapital schlagen würden. Auch
Bakijew rief aus dem belarussischen Exil nach GUS-Friedenstruppen. Gleichzeitig wies er Vorwürfe
zurück, wonach seine Anhänger die Unruhen provoziert haben.
Friedenstruppen, so Militärexperte Litowkin, müssten jene GUS-Staaten stellen, die nicht direkt in
den historisch gewachsenen Konflikt der Bevölkerungsgruppen im Fergana-Tal involviert sind, wo
Kirgisen, Usbeken und Tadshiken um Land und Wasser rangeln. Da Belarus nur ein Bataillon stellt
und Armenien nur eine Kompanie, müsste Russland die Hauptlast tragen. Denn Kasachstan, das
eine Brigade einbringt, gilt ebenfalls als befangen. Kasachen und Kirgisen – vor allem die nördliche
Bevölkerung – sind sprachlich und kulturell eng miteinander verwandt. Kasachstan ist größter
Investor bei den armen Nachbarn und gibt Hunderttausenden Kirgisen Arbeit.
Auch hat Moskau offenbar Bedenken, ohne UN-Mandat aktiv zu werden. Hiesige Völkerrechtler wie
Mark Entin, der an der Moskauer Diplomatenakademie MGIMO lehrt, halten es dagegen für
verzichtbar. Es sei nur bei äußerer Aggression zwingend erforderlich.
* Aus: Neues Deutschland, 16. Juni 2010
Weitere aktuelle Meldungen
Gewalt in Südkirgistan: Verletztenzahl nimmt zu
MOSKAU, 16. Juni (RIA Novosti). Infolge der gewalttätigen Auseinandersetzungen im Süden Kirgistans nimmt die Zahl der Betroffenen ständig zu.
Wie die kirgisische Nachrichtenagentur 24.kg am Mittwoch unter Berufung auf das Gesundheitsministerium der Republik weiter meldet, haben insgesamt 1956 Menschen um ärztliche Hilfe gebeten. 923 von ihnen wurden zur stationären Behandlung eingewiesen. Weitere 962 Patienten werden ambulant therapiert.
Die Zahl der offiziell erfassten Toten liegt unverändert bei 187.
Während der blutigen Krawalle in der Stadt Osch sind 140 Menschen getötet worden. In der nördlich von Osch gelegenen Stadt Dschalal-Abad wurden 47 Tote registriert.
Laut der Nachrichtenagentur sind 39 Tote direkt in Leichenhallen gebracht worden.
Im Verwaltungszentrum Osch war es in der Nacht zum vergangenen Freitag zu ethnischen Krawallen zwischen Kirgisen und Bürgern usbekischer Abstammung gekommen. In zwei Kreisen des Gebietes Osch - Kara-Suu und Arawan - gilt ganztägige Ausgangssperre.
Kasachstan dementiert Medienberichte über Schließung der Grenze zu Kirgistan
ASTANA, 16. Juni (RIA Novosti). Kasachstan hat Medienberichte über die Schließung der Grenze zum Nachbarland Kirgistan dementiert.
Das teilte die Pressestelle des kasachischen Grenzschutzes am Mittwoch in der Hauptstadt Astana mit. Kasachstan habe die Grenze zu Kirgistan nie dicht gemacht. "Allerdings wird wird die Bewachung der Grenze wegen instabiler Lage im Nachbarland deutlich verstärkt", hieß es.
Nato-Rat erörtert Situation in Kirgistan
BRÜSSEL, 16. Juni (RIA Novosti). Der Nato-Rat hat am Mittwoch die Situation in Kirgistan erörtert, teilte eine diplomatische Quelle im Nato-Hauptquartier der RIA Novosti mit.
Vertreter der 28 Mitgliedsländer der Nordatlantischen Allianz berieten heute laut der Quelle über das reibungslose Funktionieren des kirgisischen Luftwaffenstützpunktes Manas (bei Bischkek), der als Nachschubbasis für die Nato-Truppen in Afghanistan dient.
In der Nacht zum 11. Juni hatten in der zweitgrößten kirgisischen Stadt Osch schwere Zusammenstöße zwischen Kirgisen und Usbeken begonnen, wie es sie seit zwanzig Jahren nicht mehr gegeben hat. Kurz darauf erfassten die Unruhen auch das Nachbargebiet Dschalal-Abad. Bei den Unruhen sind insgesamt 187 Menschen getötet worden.
Rowdys verbrannten Autos, zerstörten Läden und Märkte und marodierten in Wohnvierteln.
Die Interimsregierung, die in Südkirgistan so gut wie keine Truppen hat, wandte sich an Russland mit dem Antrag, Friedenssoldaten nach Kirgistan zu schicken. Die Organisation des Vertrags für Kollektive Sicherheit beschloss, der mittelasiatischen Republik mit Militärtechnik und Spezialmitteln zu helfen.
Der UN-Sicherheitsrat hat am Montag die Gewaltanwendung im Süden der zentralasiatischen Republik Kirgistan verurteilt und das Land aufgerufen, das Blutvergießen zu beenden und die ungehinderte Zustellung internationaler Hilfsgüter für die friedliche Bevölkerung zu ermöglichen.
Alle Meldungen aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti; http://de.rian.ru
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