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Extreme Konsequenzen

Kenia will mindestens 350.000 somalische Flüchtlinge abschieben und künftige Immigranten durch den Bau einer Grenzmauer fernhalten

Von Knut Mellenthin *

Die kenianische Regierung hat die UNO am 12. April aufgefordert, innerhalb von drei Monaten das Flüchtlingslager Dadaab im Norden des Landes aufzulösen. Anderenfalls würde man die dort lebenden Menschen mit Bussen und LKWs abtransportieren lassen und über die Grenze nach Somalia abschieben. Dadaab ist gegenwärtig das größte Flüchtlingslager der Welt, vielleicht sogar das größte, das es jemals gab. Die Bewohner kamen zu über 90 Prozent aus dem benachbarten Somalia, hauptsächlich als Folge schwerer Dürre- und Hungerkrisen. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) gibt ihre Zahl mit rund 350.000 an. Es sind aber auch weit höhere Schätzungen im Umlauf. Die kenianische Regierung geht, vielleicht aus politischen Gründen, von mehr als 600.000 Menschen im Komplex Dadaab aus.

Die Forderung nach rascher Auflösung des Lagers wird offiziell mit dem Überfall auf die Universität der nordkenianischen Stadt Garissa am 2. April begründet. Die Täter sollen der somalischen Islamistenorganisation Al-Schabaab angehört haben, die auch in Kenia aktiv ist. Die Täter erschossen über 140 nichtmuslimische Studenten. Die Regierung in Nairobi behauptet, dass Al-Schabaab Helfer und geheime Zellen in Dadaab habe. Das Lager liegt von Garissa, einer Stadt mit mehrheitlich somalischer Bevölkerung, nur etwa 100 Kilometer entfernt.

Der Massenmord in Garissa ist jedoch nicht die unmittelbare Ursache, sondern nur ein willkommener Anlass für die Drohung, Dadaab zu schließen. Die kenianische Regierung erhebt diese Forderung seit vielen Jahren und hat schon mehrmals die Auflösung des Lagers angekündigt. 2013 schloss sie ein Abkommen mit dem UNHCR und Somalia über die Förderung der Rückkehr von Flüchtlingen in ihre Heimat, jedoch nur auf freiwilliger Grundlage. Davon haben angesichts der Verhältnisse in Somalia bisher nur relativ wenig Menschen Gebrauch gemacht.

Das Haupthindernis für eine Massenrückkehr nach Somalia ist nicht die Sicherheitslage, die in vielen Teilen des Landes immer noch schlecht ist, sondern die Unmöglichkeit, mehrere hunderttausend, vielleicht über eine halbe Million Menschen in kürzester Zeit in die somalische Gesellschaft zu integrieren. Die Mehrheit der Flüchtlinge sind Bauern und Viehzüchter oder deren Nachkommen. Diese Menschen haben aufgrund von Dürrekatastrophen und die dadurch erzwungene Emigration ihre Lebensgrundlage vollständig verloren. Man kann sie auch nicht ohne weiteres irgendwo in Somalia ansiedeln, selbst wenn die ewig knauserige »internationale Gemeinschaft« die erforderlichen Finanzmittel aufbringen würde – wofür es bisher jedoch keine Anzeichen gibt.

Schon im September vorigen Jahres hatte die kenianische Regierung deshalb vorgeschlagen, in Südsomalia ein neues Flüchtlingslager zu errichten, in das die Bewohner von Dadaab verlegt werden sollen. Die Regierung von Jubaland, einem mit kenianischer Militärhilfe errichteten Pufferstaat, soll damaligen Presseberichten zufolge schon ihre Zustimmung gegeben und rund 40 Quadratkilometer Land zur Verfügung gestellt haben. Kenia seinerseits sucht seit Monaten Geldgeber, die den Bau von Schulen, Krankenhäusern und Verteilungsstationen für Lebensmittel in dem geplanten Ersatzlager finanzieren.

Die zwangsweise Verlegung der Bewohner von Dadaab nach Südsomalia wäre aus Sicht Nairobis aber keine zufriedenstellende Lösung, wenn die unübersichtliche, schwer zu kontrollierende Grenze zu Somalia offen bliebe. Die kenianische Regierung will deshalb eine 700 Kilometer lange »Mauer« bauen. Offiziell wird das mit der Absicht begründet, Terroristen fernzuhalten. Das wird das Befestigungswerk jedoch kaum leisten können. Wohl aber könnte es Flüchtlingsbewegungen aufhalten und die viehzüchtenden Nomaden Südsomalias daran hindern, ihre Herden über die Grenze zu treiben, wenn es zu wenig Nahrung und Wasser gibt. Außerdem würde die »Mauer« der kenianischen Regierung helfen, Grenzstreitigkeiten mit Somalia in ihrem Sinn zu regeln.

Neben der Auflösung von Dadaab und dem Bau der »Mauer« gibt es für die kenianische Regierung ein drittes Problem: die somalische Minderheit im Land, die ohne Hinzurechnung des Lagers an die zwei Millionen Menschen zählt. Sie besteht zum einen aus Familien, die seit Jahrhunderten in Kenia ansässig sind. Hinzu kommen Hunderttausende frühere Flüchtlinge, die sich mit Hilfe der somalischen Bevölkerung in der Hauptstadt Nairobi und in der Hafenstadt Mombasa niedergelassen haben. Sie sind nach jedem Al-Schabaab zugeschriebenen Anschlag das Ziel von pogromartigen Gewalttaten. Internationale Hilfsorganisationen berichten immer wieder über Vergewaltigungen, willkürliche Massenverhaftungen und Plünderungen durch die Polizei. Die kenianische Regierung versuchte schon mehrmals, die im Land lebenden früheren Flüchtlinge aus Somalia zwangsweise in Dadaab zu internieren.

Die angedrohte Auflösung des Lagers in drei Monaten fand außerhalb Kenias eine erstaunlich geringe Resonanz. Weder befasste sich der UN-Sicherheitsrat sofort mit der drohenden humanitären Katastrophe noch gab es Reaktionen westlicher Regierungen. Neben internationalen Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen nahm nur das UNHCR gegen die geplante Massenvertreibung Stellung. In einer auf den 14. April datierten Erklärung heißt es, dass das UNHCR »sich der gegenwärtigen Sicherheitslage in der Region sowie der Ernsthaftigkeit der Bedrohung Kenias bewusst« sei. Zugleich warnte das Flüchtlingshilfswerk aber, »dass eine Rückkehr in viele Teile Somalias, vor allem ins südliche Zentrum des Landes, im Moment nicht möglich« sei und »extreme humanitäre und praktische Konsequenzen nach sich ziehen würde«.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 22. April 2015


Wahrheitspresse live aus Dadaab **

Die Ankündigung Kenias, das größte Flüchtlingslager der Welt in Dadaab zu schließen, stieß bei manchen deutschen Medien auf offenes Verständnis. Sie machten sich z.B. schon in der Überschrift unkritisch die Darstellung der Regierung in Nairobi zu eigen. So hieß es in der »Tagesschau« der ARD: »Kenia reagiert auf Terroranschlag.« Die Zeit schrieb in ihren Einleitungssätzen: »Um sich vor Terroristen zu schützen, will Kenia die Grenze nach Somalia mit einer Mauer sichern. Auch die vielen Flüchtlinge aus dem Nachbarland sollen Kenia verlassen.« In Wirklichkeit verfolgt die kenianische Regierung dieses Ziel schon seit vielen Jahren, und nicht erst seit der Terroraktion in Garissa vor drei Wochen.

Den erstaunlichsten Beitrag lieferte Thomas Scheen am 13. April in der FAZ ab. Dadaab sei »so etwas wie eine somalische Exklave in Kenia«, hieß es da. »Nicht die kenianischen Sicherheitskräfte geben in Dadaab den Ton an, sondern die somalischen Clans und die radikalen Islamisten von Al-Schabaab. (…) Den kenianischen Sicherheitskräften ist die Kontrolle über Dadaab längst entglitten …« »Regelmäßig« würden dort in den medizinischen Einrichtungen der internationalen Hilfsorganisationen verletzte Schabaab-Kämpfer behandelt. »Dadaab ist längst zu einem Durchlauferhitzer für somalische Islamisten auf kenianischem Boden geworden.«

Die Hilfsorganisationen sind nach Ansicht Scheens auch maßgeblich dafür verantwortlich, dass die somalischen Flüchtlinge keine Bereitschaft zur Rückkehr zeigten, obwohl dort die Hungersnot »längst vorbei« sei. Die ausländischen Helfer machten nämlich, glaubt Scheen, durch ihre »Rundumversorgung« das Leben im Lager richtig attraktiv. Sie wollten keine »Rückführung« der Flüchtlinge, »denn schließlich leben sie von ihnen«.

Die letzte Hungersnot in Somalia, während der nach UNO-Angaben mehr als 250.000 Menschen starben, endete im April 2012. Vor einem Jahr warnte die Weltorganisation, dass sich schon die nächste Dürrekatastrophe abzeichnet. (km)

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 22. April 2015



Alles ganz normal

Somalia gehört zu den korruptesten Ländern der Welt. Keine einzige Institution ist demokratisch legitimiert

Von Knut Mellenthin ***


Die Zustände in Somalia sind seit August 2012 auf Geheiß der USA und der EU ganz plötzlich ziemlich normal geworden. Aus den Bezeichnungen des Parlaments, der Regierung und des Präsidenten wurde von einem Tag auf den anderen das Wort »Übergangs-« gestrichen. Glaubt man regierungsoffiziellen deutschen Darstellungen, gibt es in dem nordostafrikanischen Land seit über zweieinhalb Jahren so etwas wie demokratisch legitimierte Institutionen. In Wirklichkeit hat es zumindest seit Beginn des Bürgerkriegs 1991 nicht eine einzige allgemeine Wahl gegeben. Die Parlamentswahl, die mehrmals verschoben und schließlich ganz fest für spätestens 2012 versprochen worden war, fand nicht statt. Statt dessen nominierte eine Versammlung von mehreren hundert »Ältesten«, die auf undurchschaubare Weise zusammengestellt worden war, ein kleineres Gremium, das dann die Abgeordneten des Parlaments aussuchte. Die wiederum bestimmten den Präsidenten und bestätigten die Regierung.

Im September 2016 soll zum ersten Mal seit Jahrzehnten richtig gewählt werden. Außerdem soll eine Volksabstimmung über die Verfassung stattfinden, die 2012 zunächst nur provisorisch in Kraft gesetzt wurde. Die für diese Vorgänge erforderlichen Einrichtungen, wie etwa eine nationale Wahlkommission, existieren bisher jedoch noch nicht. Große Teile des Landes stehen nicht unter Kontrolle der Regierung, so dass nicht abzusehen ist, wie dort überhaupt gewählt werden könnte. Die somalischen Streitkräfte sind nach wie vor sehr schwach. Die militärische Herrschaft wird hauptsächlich durch die afrikanische Interventionstruppe AMISOM ausgeübt. Ihr gehören gegenwärtig rund 22.000 Soldaten aus Uganda, Burundi, Kenia, Äthiopien, Dschibuti und Sierra Leone an, die jeweils in nationalen Verbänden organisiert sind. Die Truppen aus den Nachbarländern Kenia und Äthiopien unterstehen dem AMISOM-Kommando mehr formal als real. Beide Staaten haben sich Einflusszonen auf somalischem Territorium geschaffen, wo sie mit lokalen Milizen, die von ihnen ausgebildet, bewaffnet und bezahlt werden, eng zusammenarbeiten.

Die militärische Präsenz so vieler Staaten, die mehr oder weniger eigene politische und wirtschaftliche Interessen verfolgen, bei gleichzeitigem Fehlen einer zentralen Staatsmacht und schlagkräftiger einheimischer Streitkräfte, trägt zur Deformierung der inneren Verhältnisse Somalias bei. Erschwerend kommt der hohe Grad finanzieller Abhängigkeit von Saudi-Arabien, den Vereinigten Emiraten und anderen Golfstaaten hinzu. Zahlreiche Infrastrukturobjekte, wie Häfen und Flughäfen, sind in ausländischem Besitz. Somalia gilt, zusammen mit Afghanistan, als korruptestes Land der Welt.

Die bewaffnete islamistische Organisation Al-Schabaab, die bis dahin große Teile der Hauptstadt beherrscht hatte, zog ihre Kampfverbände im Juli 2011 ab. Inzwischen hat sie auch alle anderen von ihr kontrollierten Städte geräumt und sich auf ländliche Stützpunktgebiete zurückgezogen. Sie ist aber immer noch zu spektakulären Aktionen in Mogadischu imstande. Zum Beispiel griffen Schabaab-Kommandos im Februar und März zwei Luxushotels an, in denen Regierungsbeamte und Abgeordnete leben. Am 14. April stürmten Bewaffnete das Erziehungsministerium und verschanzten sich dort stundenlang, bevor AMISOM-Soldaten das Gebäude zurückeroberten. Am Dienstag wurden bei einem Anschlag auf ein Restaurant in Mogadischu mehrere Menschen getötet.

*** Aus: junge Welt, Mittwoch, 22. April 2015


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