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Demonstration in Kenias Hauptstadt verboten und abgesagt - Weiterhin Unruhen

Aktuelle Berichte und Kommentare - Interview mit Andrej Hermlin-Leder

Ende Dezember fanden in dem beliebten "Urlauberparadies" Kenia Wahlen statt, in deren Ergebnis es zu heftigen politischen und gewaltsamen Auseinandersetzungen kam. Wir dokumentieren im Folgenden weitere Berichte, die Anfang 2008 erschienen und die komplizierte Lage beleuchten.



Odinga bewegt sich, Kibaki bleibt stur

Kenia kommt nach den offensichtlich gefälschten Präsidentschaftswahlen nicht zur Ruhe / Oppositionschef bietet gemeinsame Übergangsregierung an, Präsident lehnt ab

Von Martin Ling *


Einer der als demokratische Musterländer gepriesenen Staaten Afrikas befindet sich am Rande des Bürgerkriegs: Kenia. Der Westen verstärkt seine Vermittlungsbemühungen, denn Kenia ist ein wichtiger Verbündeter im sogenannten Krieg gegen den Terror. Bisher ist jedoch nicht abzusehen, dass die alte Elite um Präsident Mwai Kibaki auch nur zu einer Machtteilung bereit ist.

Wenigstens sie haben theoretisch einen Grund zur Freude: Kenias Schüler. Wegen der schweren Unruhen bleiben die Schulen nach den Ferien zum Jahreswechsel eine Woche länger geschlossen als eigentlich geplant. Dies teilte das Bildungsministerium am Mittwoch in Nairobi mit. Der Unterricht solle erst wieder am 14. Januar beginnen. Doch ist zu bezweifeln, dass bei Kenias Schülern allzu große Freude aufkommt. Zu traurig ist der Anlass:

Bereits mehr als 340 Menschen sind getötet worden, zehntausende Menschen sind auf der Flucht, viele Schulen werden als Notunterkünfte genutzt.

Scheinbar unversöhnlich stehen sich die Anhänger der politischen Rivalen um die Präsidentschaft, Amtsinhaber Mwai Kibaki und Herausforderer Raila Odinga, gegenüber. Odinga und seine Parteigänger von der Orange Demokratie Bewegung (ODM) fühlen sich um den Sieg bei den Präsidentschaftswahlen am 27. Dezember betrogen. Sie haben gute Argumente, sagt der Kenia-Experte Professor Rolf Hofmeier, der 2002 selbst als Wahlbeobachter im Lande war. Schließlich seien bei den am selben Tag abgelaufenen Parlamentswahlen 14 Kabinettsmitglieder von Kibaki in ihren Wahlkreisen abgewählt worden. Und zwar ohne dass es von ihrer Seite auch nur einen Einspruch oder Hinweise auf Unregelmäßigkeiten gegeben hätte, bemerkte der ehemalige Direktor des Instituts für Afrika-Studien in Hamburg gegenüber ND. Während die ODM fast die Hälfte aller Parlamentssitze einheimste, landete Kibakis Partei der Nationalen Einheit (PNU) weit abgeschlagen unter ferner liefen. Hofmeier wertet dies als Ausdruck eines klaren Strebens der Bevölkerung nach einem grundlegenden politischen Wandel, den Odinga im Wahlkampf versprochen habe. »Odingas Anhänger haben Recht, sauer zu sein«, lautet sein Wahlfazit.

Dennoch ist es bisher Odinga, der Kompromissbereitschaft zeigt. Schloss er anfangs kategorisch aus, den bereits für seine zweite Amtszeit vereidigten Präsidenten Kibaki anzuerkennen, so bot er das konditioniert und befristet inzwischen an. Odinga würde sich auf eine gemeinsame Übergangsregierung zur Vorbereitung von Neuwahlen einlassen, teilte Andrej Hermlin gestern dem ND mit. Der Swingmusiker mit familiären Banden nach Kenia kam gerade erst aus Nairobi zurück und hat einen guten Draht zu Odinga und seinem Umfeld. Doch Hermlin zeigte sich gegenüber ND skeptisch, dass dieser Vorschlag einen Ausweg aus der politischen Krise ebnen könne. Das Problem sei weniger Kibaki selbst als vielmehr die ihn umgebende Gruppe, die kompromisslos an ihren Pfründen festzuhalten gedenke. Auch vom internationalen Druck verspricht sich Hermlin keine Wunderwirkung. Die Leute um Kibaki zeigten afrikanisches Selbstbewusstsein -- wie man es sich als Linker oft gewünscht habe -- in genau dem Sinne, wie man es sich nicht gewünscht habe. Vom Westen lasse man sich nichts vorschreiben. »Wenn euch was nicht passt, bitte, China stellt keine Bedingungen«, beschreibt Hermlin die Linie von Kibaki und Co.

Professor Hofmeier ist hingegen davon überzeugt, dass gemeinsamer internationaler Druck seine Wirkung entfalten würde -- selbst ohne China. »In Kenia spielt China wirtschaftlich keine große Rolle. Das beachtliche Wirtschaftswachstum der letzten Jahre wäre ohne die Investitionen vor allem britischer und US-amerikanischer Unternehmen undenkbar gewesen«, skizziert er die wirtschaftliche Lage in dem ostafrikanischen Land. Das von diesem Boom fast nur Angehörige der Kikuyu profitiert haben, befeuere die politische Situation zusätzlich. Dennoch: Zögen die USA, Großbritannien inklusive der EU und die Afrikanische Union an einem Strang, müsste Kibaki nachgeben, ist Hofmeier sicher.

Leicht fallen dürfte das nicht. »Die USA wurden definitiv auf dem falschen Fuß erwischt.« Das zeige das Zurückrudern nach den voreiligen Glückwünschen an Kibaki eindeutig. Sowohl die USA als auch Großbritannien wünschten einen Wahlsieger Kibaki, weil sie in ihm einen Garanten für die unternehmerische Freiheit und die Kapitalinteressen sähen. Odinga sei zwar längst kein »Radikalinski« mehr wie früher, aber allein seine Ankündigung, mehr soziale Gerechtigkeit zu üben, werde als Unsicherheitsfaktor in der Wirtschaft interpretiert - sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene.

In der Kehrtwende der USA sieht Hofmeier die Einsicht Washingtons, dass man sich kein zweites Äthiopien leisten kann, ohne die Glaubwürdigkeit in Sachen Demokratieförderung in Afrika vollends zu verlieren. In Äthiopien -- mit Kenia wichtigster ostafrikanischer Verbündeter im sogenannten Krieg gegen den Terror -- gab es vor zwei Jahren ähnlich kontroverse Wahlen wie jetzt in Kenia. »Dort haben die USA, obwohl klar war, dass die Wahlen nicht korrekt waren, letzten Endes doch den Premierminister Meles Zenawi mit seinem Wahlbetrug durchkommen lassen. Ich glaube, dass manche Leute in Washington und London inzwischen eingesehen haben, dass man sich so ein Desaster in Kenia nicht noch einmal erlauben kann«, blickt Hofmeier verhalten optimistisch in die Zukunft.

Unterdessen schaltete sich der südafrikanische Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu in die internationalen Vermittlungsbemühungen ein. Tutu, der am Mittwochabend in Nairobi eintraf, wollte sich am Donnerstag mit Odinga treffen. Ein Gespräch mit Präsident Kibaki war zunächst nicht geplant. »Für uns ist er als Tourist gekommen. Wir haben ihn nicht eingeladen«, sagte ein hochrangiger Regierungsvertreter. Bereits am Mittwoch hatte ein Sprecher Kibakis erklärt, dass sich Kenia nicht im Krieg befinde und daher weder Vermittler noch Friedenstruppen benötige. Wenn sich an dieser starren Haltung nichts ändert, wird das Land so bald nicht zur Ruhe kommen.

* Aus: Neues Deutschland, 4. Januar 2008


Unter Druck gesetzt

Kenia: Wahlleiter gesteht Unregelmäßigkeiten ein. Protestmarsch am Donnerstag (3. Januar)

Kenias Wahlleiter Samuel Kivuitu räumte am Dienstag (1. Januar) abend Unregelmäßigkeiten bei den Präsidentschaftswahlen ein. Er sei von Regierungsseite unter Druck gesetzt worden, Amtsinhaber Mwai Kibaki zum Sieger zu erklären, sagte er in einem Fernsehinterview. »Vertreter von Kibakis Partei haben mich ständig angerufen und aufgefordert, sofort Ergebnisse zu liefern. Ich kann nicht sagen, ob Kibaki wirklich der Sieger ist«, so Kivuitu. Diese Bewertung wiederholte der Wahlleiter auch gegenüber der in Nairobi erscheinenden Tageszeitung The Standard, in der er zudem bemerkte, er sei »von beiden Seiten« bedrängt worden, das Ergebnis »schnell zu verkünden«. Die Wahlkommission hatte Kibaki am Sonntag abend überraschend mit 230000 Stimmen Vorsprung vor Oppositionsführer Raila Odinga zum Wahlsieger erklärt. Nach Auszählung von 90 Prozent der Voten hatte noch Odinga in Führung gelegen.

Wegen massiver Verzögerungen bei der Veröffentlichung von Abstimmungsergebnissen war es bereits am Wochenende zu Aufständen vor allem in den Armutsvierteln der großen Städte gekommen. Diese eskalierten am Sonntag (30. Dez. 2007) abend nach Bekanntgabe der manipulierten Zahlen. Auch am Mittwoch (2. Januar) hielten die Kämpfe an. Sie forderten Menschenrechtorganisationen zufolge bis zu 300 Tote. Etwa 75000 Menschen befanden sich nach Angaben des kenianischen Roten Kreuzes im zentralkenianischen Rift Valley auf der Flucht. Ebenfalls am Mittwoch, einen Tag vor der geplanten Massendemonstration der Opposition in Nairobi, kündigte Odinga an, daß er sich über das Verbot des Protestmarschs hinwegsetzen werde.

Auf internationaler Ebene taten sich die Außenminister der USA und Großbritanniens als ehemaliger Kolonialmacht, Condoleezza Rice und David Miliband, mit einer gemeinsamen Erklärung hervor. Nachdem die US-Regierung am Sonntag bereits kurz nach Verkündung das Ergebnis anerkannt hatte, riefen Washington und London nun die Konfliktparteien »zur Versöhnung« auf. Beide Staaten wollten einen solchen Prozeß diplomatisch und politisch unterstützen, um die »nationale Einheit des Landes« zu erhalten. Unklar war am Mittwoch, ob sich die Afrikanische Union (AU) in den Konflikt einschaltet. Nach Berichten über eine bevorstehende Reise des AU-Ratsvorsitzenden John Kufuor hieß es im Büro des ghanaischen Präsidenten, die Reise sei abgesagt worden. Alexander Graf Lambsdorff, der deutsche Leiter der EU-Wahlbeobachtergruppe, forderte eine Neuauszählung der Stimmen. (AP/AFP/jW)

Aus: junge Welt, 3. Januar 2008



Zweierlei Irrtum

Die USA und die Unruhen in Kenia

Von Werner Pirker *


Samuel Kivuiti, Vorsitzender der kenianischen Wahlkommission, ist sich nicht mehr sicher, ob er das richtige Wahlergebnis verkündet hat. Er sei, gestand er, vom Apparat des amtierenden Präsidenten Mwai Kibaki genötigt worden, diesen zum Sieger zu erklären. Daraus läßt sich ersehen, daß die Definitionsmacht über die Rechtmäßigkeit des Wahlvorgangs inzwischen von der offiziell unterlegenen Opposition ausgeübt wird. Ob die Wahlkommission dem Meinungsumschwung in Washington gefolgt ist oder umgekehrt, wird sich kaum eruieren lassen. Denn mittlerweile fordert die Bush-Administration eine Überprüfung der Stimmauszählung, nachdem sie im ersten Überschwang Kibaki zum Wahlsieg bereits gratuliert hatte.

Sollte es in Kenia tatsächlich zu einem »Regimewechsel« kommen, dann dürften ihn die überseeischen Meister des »Regimewechsels« nicht auf ihrer Rechnung gehabt haben. Andernfalls wäre die Abstimmung noch vor ihrer Durchführung als allen demokratischen Standards widersprechend gewertet worden. Daraus läßt sich unschwer ermitteln, auf welchen der beiden Kandidaten die Wahl Washingtons gefallen ist. Obwohl die Proteste gegen den falschen Sieger vom Westen nicht vorgesehen waren, finden sie statt. Nicht als »friedliche Revolution« -- dazu läßt es ein sich der US-Unterstützung sicher wähnendes Regime nicht kommen --, sondern als blutiges Gemetzel, in dem sich sozialer Aufruhr und ethnische Konflikte wechselseitig hochschaukeln.

Oppositionsführer Rainda Odin­ga hat einen Wandel angekündigt, zu dem er von den USA nicht ermächtigt worden war. Das macht ihn, obwohl er linker Herkunft ist, noch zu keinem linken Politiker. Doch allein sein Versprechen, eine »soziale Marktwirtschaft« zu installieren, was angesichts der afrikanischen Wirklichkeit ohnedies eine Leerformel ist, läßt ihn in den Augen der westlichen Geldgeber bereits als »gefährlichen Populisten« erscheinen. Odinga hat der Bestechlichkeit einen entschiedenen Kampf angesagt. Doch das hatte auch sein Vorgänger getan, bevor er selbst die zur Korruptionsbekämpfung vorgesehenen Mittel in die eigene Tasche wirtschaftete. Typisch Afrika?

Das Elend auf diesem Kontinent wird gemeinhin mit »korrupten afrikanischen Eliten« erklärt. Doch die, die sich Macht und Einfluß zur Ausplünderung des rohstoffreichen Erdteils und zur Sicherung ihrer Absatzmärkte erkaufen, bleiben meist unerwähnt. Daß Wahlen mit Versprechungen gewonnen werden, deren Einhaltung nie vorgesehen war, haben afrikanische Politiker nicht erfunden, sondern von ihren Vorbildern in den reichen Ländern abgeschaut.

In Kenia hat die Wahlkommission ihren Irrtum eingestanden. Bei den US-Präsidentenwahlen 2000 hat das Verfassungsgericht an der Wahlkommission vorbei die Nachzählung gestoppt und das erschwindelte Ergebnis bestätigt. Und da regte sich -- typisch USA -- nicht die Spur demokratischen Widerstandes. Im Gegensatz zu den zum »Konsens« nicht befähigten Afrikanern.

* Aus: junge Welt, 3. Januar 2008 (Kommentar)


Protestmarsch in Kenia verschoben

Polizei geht mit Tränengas gegen Demonstranten vor. Über 340 Tote bei Unruhen **

Die Regierung in Kenia hat am Donnerstag (3. Januar) mit einem massiven Polizeiaufgebot eine Großdemonstration der Anhänger von Oppositionsführer Raila Odinga verhindert. Dessen Partei Orange Democratic Movement (ODM) verschob daraufhin die geplante Protestkundgebung gegen die verkündete Wiederwahl von Präsident Mwai Kibaki auf kommenden Dienstag. Zuvor waren die Sicherheitskräfte in Nairobi mit Tränengas und Wasserwerfern gegen Tausende Odinga-Anhänger vorgegangen, die sich auf den Weg zur Kundgebung im Uhuru-Park im Stadtzentrum gemacht hatten. Die Regierung hatte den Protestmarsch verboten.

Ein ranghoher Vertreter der ODM, William Ruto, rief die Demonstranten über Lautsprecher auf, sich am Dienstag wieder im Uhuru-Park zu versammeln. »Wir werden solange dort sein, bis der Wille des Volkes gesiegt hat«, sagte Ruto, der als rechte Hand von Odinga gilt. Polizisten und paramilitärische Einheiten hatten den Uhuru-Park seit dem Morgen abgeriegelt. Auch die Zugangsstraßen zum größten Armenviertel Nairobis und Odingas Wahlkreis Kirbera wurden blockiert. Jugendliche Demonstranten setzten daraufhin Barrikaden in Brand und versuchten, die Absperrungen zu umgehen. Nach Oppositionsangaben sollten bis zu einer Million Menschen an der Veranstaltung teilnehmen, bei der sich Odinga zum »Präsidenten des Volkes« ausrufen wollte. Odinga sieht sich selbst als Sieger der Präsidentschaftswahl vom 27. Dezember und beschuldigt Amtsinhaber Kibaki der Wahlfälschung.

Bei den Unruhen nach dem Urnengang wurden in dem ostafrikanischen Land nach Polizeiangaben inszwischen mehr als 340 Menschen getötet. Als Vermittler bot sich unterdessen der südafrikanische Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu an. Er flog nach Nairobi und traf Odinga. Dieser sei für »die Möglichkeit einer Schlichtung bereit«, sagte Tutu anschließend und erklärte, er hoffe auch auf ein Gespräch mit Kibaki.(AFP/AP/jW)

** Aus: junge Welt, 4. Januar 2007


"Bevölkerung Kenias fühlt sich um einen Traum betrogen"

Die Wahlfälschungen des bisherigen Präsidenten Kibaki sollen die Ausbeuterkaste an der Macht halten. Ein Gespräch mit Andrej Hermlin-Leder **

In Kenia herrschen seit der Wahl vom 27. Dezember bürgerkriegsähnliche Zustände. Sie sind mit einer Kenianerin verheiratet und haben seit Jahren ein enges Verhältnis zu diesem Land. In wenigen Tagen wollen Sie wieder dorthin reisen -- ist das nicht zu riskant?

Das Risiko ist kalkulierbar. Ich bin vier-, fünfmal im Jahr in Kenia. Wir haben dort ein kleines Haus am Mount Kenia, dem zweithöchsten Berg Afrikas. Vor wenigen Tagen waren wir noch dort --nicht nur, um unser Haus und die Familie meiner Frau zu sehen, sondern auch um Wahlveranstaltungen des Opposi­tionsführers Raila Odinga zu besuchen, den ich persönlich gut kenne. Noch am 22. Dezember haben wir in Mombassa an einer großen Kundgebung teilgenommen -- die Stimmung war euphorisch, begeistert, voller Erwartung und Hoffnung. Das alles hat der bisherige Präsident Mwai Kibaki durch seine Wahlfälschungen mit Füßen getreten. Das war ein Putsch.

Welche sozialen Kräfte stehen hinter den Kontrahenten?

Auch die bürgerlichen Zeitungen oder Sender wie das ZDF oder die BBC kommen nicht umhin, Kibaki und seiner Clique die Schuld an den Unruhen zuzuweisen. Die Putschisten stehen für eine kleine Schicht von Personen, die das Land seit 40 Jahren beherrscht. Diese Gruppe repräsentiert keinen Stamm, keine Ethnie -- es sind schlichtweg Leute, die sehr viel Geld beiseite gebracht haben und die Wirtschaft in ihrer Hand haben. Ihnen gehört ein großer Teil des Volksvermögens, während das Volk selbst praktisch besitzlos ist. Odinga wollte das ändern -- was die Machtelite aber um keinen Preis zulassen wollte, weil dann die kriminellen Machenschaften der vergangenen Jahre und Jahrzehnte ans Tageslicht gekommen wären.

Also war die hohe Zustimmung für Odinga so etwas wie ein sozialer Protest?

Selbstverständlich. Die Kenianer haben jahrelang erlebt, daß alle Versprechen der Regierung gebrochen wurden; das Volk hatte schon fast jede Hoffnung verloren. Aber seit fünf Jahren gibt es eine bemerkenswerte Entwicklung: Immer mehr Leute verlangen die Einlösung ihrer sozialen und politischen Rechte, ihnen wird bewußt, daß sich Protest und Widerstand lohnen können. Der Flaschengeist Demokratie wurde herausgelassen, und jetzt kann man ihn schlecht wieder in die Flasche zurückstopfen. Zahllose Menschen scharten sich hinter Odinga und der Sammlungsbewegung ODM (Orange Democratic Movement), weil sie soziale Verbesserungen erwarteten. Ich habe das hautnah miterlebt, als ich im Oktober bei einer Kundgebung mit über einer Million Menschen war. Diese Begeisterung, dieser unglaubliche Drang nach Verbesserung des Lebens! Und deswegen gibt es jetzt auch landesweit Proteste, weil sich die Menschen um diesen Traum betrogen fühlen.

Wie würden Sie die politische Position von Odinga skizzieren: Sozialdemokratisch? Sozialistisch?

Gerade in Afrika kann man schlecht in den aus Europa gewohnten Kategorien urteilen. Odinga bezeichnet sich selbst als Sozialdemokrat. Er hat in der DDR --in Leipzig und Magdeburg -- studiert; sein Vater, der zu den Staatsgründern gehörte, war politisch sehr links. Ich würde ihn natürlich nicht mit Politikern wie etwa Hugo Chávez vergleichen. Er ist eher ein Sozialdemokrat wie Willy Brandt oder Herbert Wehner -- nicht wie Helmut Schmidt oder Gerhard Schröder.

Steht Kenia vor einer revolutionären Situation?

Die kenianische Gesellschaft ist tief gespalten. Es gibt dort eine kleine Gruppe sehr reicher Leute, die über modernste technische Möglichkeiten verfügen und relativ gebildet sind. Auf der anderen Seite stehen etwa 80 Prozent aller Kenianer -- einfache Tagelöhner und Bauern. Zu dieser Gruppe zähle ich auch die vielen Nomaden, die relativ ungebildet und politisch unorganisiert sind.

Die Widersprüche zwischen dieser großen Masse an Verarmten und der kleinen Besitzerkaste haben sich in den letzten Jahren zugespitzt. Kibakis Putsch hat die Lage sicher noch verschlimmert. Ich würde das aber eher als Vorstufe zu einer revolutionären Situation bezeichnen. Es ist schwer zu sagen, ob es der Opposition und den Armen gelingen wird, sich zu organisieren, um der Regierung Paroli bieten zu können.

Interview: Peter Wolter

** Andrej Hermlin-Leder, Sohn des Dichters Stephan Hermlin, ist Jazzmusiker. Er lebt in Berlin und verbringt einen großen Teil des Jahres in Kenia

Aus: junge Welt, 4. Januar 2007



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