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Kenia vor sechsfacher Entscheidung

Risiko neuerlichen Gewaltausbruchs nach Wahl der politischen Führung des Landes ist nicht gebannt

Von Anja Bengelstorff, Nairobi *

Fünf Jahre nach einem Blutvergießen, wie es in der Geschichte des ostafrikanischen Staates bis dahin undenkbar schien, sind die Kenianer heute wieder an die Wahlurnen gerufen.

Nach umstrittenen Präsidentschaftswahlen im Dezember 2007 starben etwa 1300 Menschen bei Gewaltausbrüchen, eine halbe Million musste aus ihren Häusern fliehen. Jetzt stehen die komplexesten Wahlen in der 50-jährigen Geschichte der stärksten regionalen Wirtschaftsmacht auf der Tagesordnung: Die Wähler stimmen zum ersten Mal über sechs Positionen ab: über den Präsidenten und das Parlament, erstmals aber auch über Gouverneure, Senatoren, Bezirksvertreter und Frauenbeauftragte. Das verlangt die 2010 nach jahrzehntelangem Ringen verabschiedete progressive Verfassung, durch die einige der Hauptursachen für die Gewalt beseitigt werden sollen. Die Allmacht des Präsidenten wurde beschnitten, die bisher zentralistische Autorität wird nach den Wahlen am 4. März zu einem erheblichen Teil auf 47 Bezirke oder Counties verteilt, die eigene Volksvertretungen mit Fiskalgewalt erhalten und von einem Gouverneur geführt werden. Eine transparente Umgestaltung der Justiz hat begonnen, der oberste Richter ist weithin für seine Integrität geachtet. Die illegale Aneignung von Grund und Boden nach der Unabhängigkeitserklärung des Landes, ein äußerst sensibles Thema in Kenia, wartet jedoch noch auf eine Revision.

Sieben Bewerber und eine Bewerberin um das Präsidentenamt stehen zur Wahl. Einer davon ist der Sohn des legendären ersten kenianischen Präsidenten Jomo Kenyatta, Uhuru Kenyatta. Der ist jedoch im Zusammenhang mit der Gewalt von 2007/2008 vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag angeklagt, sein Prozess soll Anfang April beginnen. Kenyatta gilt als einer der beiden Favoriten, obwohl in Umfragen stets mindestens die Hälfte der Bevölkerung die Anklage vor dem Strafgerichtshof befürwortet. Der 51-Jährige betont, er wolle mit dem Haager Tribunal zusammenarbeiten, doch sollte er gewinnen, könnten Kenia diplomatische und wirtschaftliche Konsequenzen drohen. Als Präsident könnte Kenyatta sogar Kenias Unterschrift unter das Rom-Statut zur Bildung des Gerichtshofes zurückziehen, um internationaler Strafverfolgung zu entgehen.

Der zweite Favorit ist der 68-jährige Premierminister Raila Odinga, den viele für den wahren Gewinner der Wahl von 2007 halten. Der zum Gewinner erklärte Präsident Mwai Kibaki habe den Sieg gestohlen, klagten damals die Odinga-Anhänger. Was folgte, waren blutige Kämpfe zwischen dem Kikuyu- und dem Luo-Volk.

Kibaki, inzwischen 81-jährig, tritt diesmal nicht mehr an. Sollte im ersten Wahlgang kein Kandidat eine absolute Mehrheit erhalten, fände eine Stichwahl am 10. April oder bei Wahlanfechtung am 1. Mai statt. Bei einer Gesamtbevölkerung von knapp 40 Millionen haben sich 14,2 Millionen Kenianer - kaum zwei Drittel der Wahlberechtigen - für diese Abstimmung registriert.

Das Risiko eines neuerlichen Gewaltausbruchs ist trotz zahlreicher Friedensinitiativen vorhanden, wenn auch nicht mit Ausmaßen wie 2007 zu rechnen ist: Noch immer mobilisieren Politiker ihre Anhänger entlang ethnischer Grenzen. In Kenia gibt es mehr als 40 Volksgruppen, deren Anführer in der Politik eine maßgebliche Rolle spielen. Aus Furcht vor Ausschreitungen haben sich Tausende in Viertel zurückgezogen, die von der eigenen Ethnie kontrolliert werden. Vor der Abstimmung registrierte die kenianische Menschenrechtskommission Einschüchterungsversuche und den Kauf von Personalausweisen, um Wähler von der Stimmabgabe abzuhalten.

Die neue Wahlkommission hat sich beim Verfassungsreferendum 2010 zwar bewährt, doch halten Beobachter sie bei dieser komplexen und logistisch enorm aufwendigen Wahl für überfordert. Die größte Gefahr besteht darin, dass Zweifel an der Transparenz der Arbeit der Wahlkommission aufkommen könnten: Bei dem zu erwartenden knappen Ergebnis der Präsidentschaftswahl könnte das zur Eskalation führen.

* Aus: neues deutschland, Montag, 4. März 2013


Jeder kann Wahlbeobachter werden

Datensammlung per MS und Internet **

Eine interaktive Software hilft bei der Vorbeugung möglicher Gewalt bei den Wahlen – in Kenia und weltweit. Die Gewalt nach den Wahlen vor fünf Jahren traf Kenia unvorbereitet. Mehr als 1000 kamen damals ums Leben. Diesmal hoffen die Kenianer auf einen friedlichen Verlauf des Urnengangs. Mit einer neuen Internetplattform wollen junge kenianische Softwareentwickler ihren Beitrag dazu leisten: Jeder Wähler hat dort die Möglichkeit, Unstimmigkeiten zu melden.

Die Plattform »Uchaguzi« (Kisuaheli für »Wahlen«) will Daten sammeln, verifizieren und entsprechende Interventionen ermöglichen. Ziel ist, die Wahlbeobachtung zu erweitern und die Bürger als wichtige Informationsquelle einzubeziehen. Per SMS, Twitter, Facebook, EMail oder direkt über die Website der Plattform (www.uchaguzi.co.ke) kann jeder seine Beobachtungen melden: das Fehlen von Vertretern der staatlichen Wahlkommission in den Wahlbüros, die Verweigerung von Hilfe für Analphabeten beim Ausfüllen des Wahlzettels, versuchte Wählerbestechung, Hassreden oder aufkommende Gewalt. So könne jeder Bürger zum Wahlbeobachter werden, sagt Wambua Kawive vom Konsortium für politische Bildung zu Verfassung und Reform (CRECO). »Gleichzeitig werden offizielle Wahlbeobachter in der Lage sein, die Informationen zu überprüfen.« CRECO selbst wird je vier Beobachter in jeden der 290 Wahlkreise entsenden. Die lokale Verwaltung hat sich laut Kawive bereit erklärt, bei der Verifizierung der Plattforminhalte zu helfen. Nur bestätigte Berichte würden auf die Plattform hochgeladen und an Sicherheitskräfte und Behörden weitergegeben.

Laut Uchaguzi-Koordinator Daudi Were war die Plattform bereits in Tansania, Uganda und Sambia im Einsatz. »In Uganda und Tansania hatten wir ungefähr 5000 Berichte nach der Überprüfung. In Kenia erwarten wir eine wesentlich höhere Zahl.« Mehr als drei Viertel aller Kenianer besitzen ein Mobiltelefon. Ende 2007 waren es noch weniger als die Hälfte. Heute hat fast jeder Dritte außerdem Zugang zum Internet. Bei dem Kurznachrichtendienst Twitter ist Kenia das zweitaktivste Land Afrikas. Das traditionell landwirtschaftlich geprägte Land erlebt einen Boom der Informationstechnologie, der ganz Afrika erfasst hat.

Uchaguzi ist nur eines der Projekte des nichtkommerziellen IT-Unternehmens Ushahidi (»Zeugenaussage«), das aus dem Trauma der vergangenen Wahlen hervorging. Eine Handvoll Blogger erdachte zunächst einen Weg, Berichte über Gewaltausbrüche und Friedensinitiativen zu kartieren, die ihnen über Handys und Internet übermittelt wurden. Inzwischen wurde das Konzept weltweit zu einem Erfolg: Die von Ushahidi entwickelte Open-Source-Software wurde schon in mehr als 150 Ländern in Konflikt- und Katastrophengebieten eingesetzt, etwa beider Überflutung in Jakarta, im Syrienkonflikt und im Kampf gegen Gewalt gegen Frauen in Kambodscha. Ein weiteres Projekt mit dem Titel »Umati« (»Versammlung«), an dessen Entwicklung Ushahidi beteiligt war, verfolgt Hassreden auf Internetseiten, in Blogs und sozialen Medien vor den Wahlen.

Vor allem Ansprachen, in denen Volksgruppen gegeneinander aufgehetzt wurden, gelten als eine der Ursachen für die Eskalation der Gewalt im Dezember 2007. In der neuen kenianischen Verfassung von 2010 sind Hassreden daher geächtet.

Anja Bengelstorff

** Aus: neues deutschland, Montag, 4. März 2013


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