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"Kenia ist die Startrampe für Eingriffe in Nachbarstaaten"

Das Land ist ein Außenposten des Imperialismus geworden. 70 Prozent der Menschen sind bettelarm. Ein Gespräch mit Gacheke Gachihi *


Der Kenianer Gacheke Gachihi ist Anwalt für Sozialrecht und Mitglied der linken Aktivistengruppe »Unga Revolution« sowie der sozialen Basisbewegung »Bunge la Mwananchi« (Volksparlament).

Eine Woche lang hat Kenia wegen des Blutbads in der Westgate Shopping Mall in Nairobi Schlagzeilen gemacht. Wie stellt sich dieser Anschlag, für den die somalische Al-Schabaab-Miliz verantwortlich gemacht wird, aus Ihrer Sicht dar?

Der Imperialismus hat immer die militärische Lösung gewählt, um Somalia nach Stammesstrukturen zu spalten – das hat zu Extremismus in seiner religiösen Variante geführt. Die Somalis brauchen aber eine politische Lösung ihrer Probleme.

Kenia wiederum wird vom Imperalismus als Außenposten benutzt, als Startrampe für Interventionen in dieser Region – es geht letztlich um Bodenschätze. Erst vor kurzem haben britische Multis eine Reihe von Verträgen zur Ölförderung in Somalia unterzeichnet. Der Westgate-Anschlag ist eine Reaktion auf diese imperialen Wirtschafts- und Machtinteressen, für die Kenias Hauptstadt Nairobi auch in finanzieller Hinsicht als Stützpunkt dient.

Wie groß ist die Gefahr ethnischer oder religiöser Auseinandersetzungen in Kenia, speziell nach dem Mord an dem radikal-islamischen Scheich Ibrahim Omar und drei seiner Begleiter am 3. Oktober?

Es gibt starke Anzeichen dafür, daß Kenia Methoden anwendet, die in Israel und den USA üblich sind: »außergerichtliche Tötungen«. Das sorgt für Wut in der Bevölkerung und läßt den Krieg gegen den Terror als einen Krieg gegen die Jugend der moslemischen Minderheit erscheinen. Die lebt insbesondere in der Küstenregion in schrecklicher Armut, während die politische Elite die Ländereien besitzt und die Tourismusindustrie unter sich hat.

Den Weg, den unsere Regierung im Umgang mit Terrorverdächtigen gewählt hat, ist extrem gefährlich. Er stellt geradezu eine Einladung an die Schabaab-Miliz zu weiteren Attentaten dar.

Sie rufen am heutigen Dienstag zu landesweiten Protesten gegen die hohen Lebenshaltungskosten auf. Wie ist die Lage der einfachen Leute in Kenia?

70 Prozent der Menschen können ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen. Sie leben in Armut, aufgezwungen von der herrschenden Elite. Die hat in Kenia die neoliberale Ordnung durchgesetzt und dominiert alle Wirtschaftsbereiche, in denen das internationale Kapital Rendite erzielen will. Gegen den Widerstand großer Teile der Öffentlichkeit haben die Abgeordneten des kenianischen Parlaments das von Weltbank und Internationalem Währungsfonds erwartete Gesetz über die Einführung einer Mehrwertsteuer von 16 Prozent auf bisher nicht besteuerte Güter des täglichen Bedarfs verabschiedet. Die Folge: Grundnahrungsmittel wie Milch, Brot, Reis wurden teurer. Die Mehrheit der Kenianer muß allerdings von weniger als einem Dollar pro Tag leben.

Kenia galt lange als die »Schweiz Afrikas«. Wie ist der nationale Reichtum verteilt?

Nirgendwo in der gesamten Region gibt es mehr Ungleichheit als in Kenia – und es wird immer schlimmer! Das unterste Zehntel der Bevölkerung verfügte bereits 2005 nur über 1,8 Prozent des Gesamteinkommens – das oberste Zehntel dagegen über 37,8 Prozent. Das US-Magazin Forbes hat eine Liste der 30 reichsten jungen Afrikaner veröffentlicht: Darunter sind acht Kenianer. Nach Angaben des Nationalen Büros für Statistik verdienten die Topmanager der großen Unternehmen im Durchschnitt 414mal soviel wie ihre am schlechtesten bezahlten Arbeiter. Zwei Jahre vorher war es erst das 315fache.

Wie reagiert die Regierung auf soziale Proteste?

Wer sich für Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit und gegen Korruption einsetzt, gerät schnell ins Fadenkreuz der Behörden. Der Widerstand ist stärker geworden – nicht zuletzt deswegen, weil die neoliberale Ökonomie auf geburtenstarke Jahrgänge trifft, was die Arbeitslosenrate weiter nach oben treibt.

»Unga Revolution« kämpft seit 1990 für den Aufbau einer linken Basisbewegung. Die Linke wächst, und wir kämpfen darum, die progressiven Kräfte zu vereinigen, indem wir den Massenprotest als Rekrutierungsfeld für Kader der Bewegung nutzen.

Interview: Raoul Rigault

* Aus: junge Welt, Dienstag, 15. Oktober 2013


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