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Brief zur Wahl

Religiöser Führer in Kaschmir fordert "ernsthafte diplomatische Anstrengungen"

Von Hilmar König, Neu-Delhi *

Mehr als einen Monat lang stimmt Indien derzeit über ein neues Parlament ab. Kurz bevor am Donnerstag die Bevölkerung des Bundesterritoriums Delhi ihr Votum abgab, sorgte nun der kaschmirische religiöse Führer Mirwaiz Umar Farooq mit einem offenen Brief in der Zeitung The Hindu für Diskussionen und eifrige Stellungnahmen der großen Parteien. Farooq ist Vorsitzender der All Parties Hurriyat Conference (APHC), einem oppositionellen Parteienkonglomerat im nördlichen Bundesstaat Jammu und Kaschmir. In seinem Schreiben fordert er »ernsthafte Bemühungen um eine friedliche Lösung der Kaschmir-Frage«.

Farooq appelliert an die künftige Regierung, »energisch und visionär« mit der Vergangenheit zu brechen und »ernsthafte politische und diplomatische Anstrengungen« zur Beendigung des Konflikts, der seit dem Herbst 1947 schwelt. Der kaschmirische Hindu-Herrscher Hari Singh hatte sich damals der indischen Union angeschlossen, nachdem pakistanische Stammesmilizen auf kaschmirisches Gebiet vorgedrungen waren und mit Waffengewalt einen Anschluß ans islamische Pakistan erzwingen wollten. Seitdem ist Kaschmir geteilt in einen pakistanisch verwalteten und einen indischen Bundesstaat. Dieser besteht aus drei Regionen: dem mehrheitlich islamischen Srinagar-Tal, dem überwiegend hinduistischen Jammu und dem buddhistischen Ladakh. Seit Ende der 1980er Jahre kämpfen von Pakistan unterstützte Rebellen im Srinagar-Tal je nach Parteizugehörigkeit für Autonomie, Selbstbestimmung, Unabhängigkeit oder einen Anschluß an Pakistan. In der APHC sind all diese Parteien vertreten. Sowohl Islamabad als auch Neu-Delhi erheben jedoch Anspruch auf die gesamte Region – weshalb alle Versuche, eine einvernehmliche Regelung zu finden, bisher scheiterten. Indien behandelt den Konflikt als innere Angelegenheit oder als bilaterales Problem mit Pakistan. Islamabad hingegen möchte die UNO oder andere Dritte als Vermittler an den Verhandlungstisch holen.

Farooq beschreibt in seinem Brief die Leiden der Kaschmiris unter der starken indischen Militärpräsenz, die Menschenrechtsverletzungen sowie die ökonomischen Kosten und Entwicklungsdefizite als Folgen für Indien. Immer wieder verweist er darauf, daß der Konflikt eine Bedrohung für Frieden und Sicherheit in der gesamten südasiatischen Region ist. Über die Aktivitäten der militanten Gruppen verliert er allerdings kein Wort. Viele Menschen in Kaschmir würden fragen, »ob der politische Pfad des Dialogs und der Verhandlung der beste Weg ist, ihre Rechte und Gerechtigkeit zu erlangen«, schreibt Farooq nur. Der APHC-Chef befürwortet dennoch eine politische Regelung. Seiner Meinung nach – und das ist der einzige konkrete Vorschlag in seinem Schreiben – kann eine dauerhafte und gerechte Lösung nur in der »Anerkennung und Wahrung der Bestrebungen der Kaschmiris und ihres Rechtes auf Selbstbestimmung« liegen. Die Lösung müsse für Indien, Pakistan und die Menschen in Jammu und Kaschmir gleichermaßen akzeptabel sein.

Das Echo auf die Initiative ist zwiespältig. Die hindu-nationalistische Indische Volkspartei erklärte, sie sei bereit, mit allen interessierten Seiten zu verhandeln, allerdings sei »Kaschmir ein integraler Bestandteil Indiens und der indischen Demokratie«. Auch die Kongreßpartei forderte eine »friedliche Lösung im Rahmen der Verfassung, ohne Kompromiß bezüglich Indiens territorialer Integrität«. In Leserbriefen an The Hindu wird auf den Unterschied verwiesen, den Farooq zwischen »uns Kaschmiris« und »euch Indern« macht. Er und andere Separatisten sollten sich dem indischen Mainstream anschließen und mit ihren Parteien an Wahlen und am demokratischen Prozeß teilnehmen. Wie ernst der Vorschlag des kaschmirischen Politikers wirklich genommen wird, wird sich erst zeigen, wenn nach den Parlamentswahlen Ende Mai eine neue Regierung in Neu-Delhi das Zepter übernimmt.

* Aus: junge Welt, Samstag, 12. April 2014


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