Nachdem eine islamische Untergrundorganisation in Kaschmir überraschend einseitig eine Feuerpause angekündigt hat (30. Juli 2000), gibt es Anzeichen, dass die indische Regierung in offizielle Waffenstillstandsverhandlungen mit den Separatisten eintreten will. Auch aus Pakistan kommen positive Signale. Zur Freude ist es indessen noch zu früh. Wenige Tage nach der Ankündigung gab es wieder grausame Massaker, denen rund 100 Inder zum Opfer gefallen sind. Gefunden wurde am 3. August auch die Leiche eines deutschen Touristen aus Hessen, der seit Mitte Juli in Kaschmir vermisst wurde.
Ab Freitag setzte die Armee eine Feuerpause in Kraft, die sich allerdings auf die Kämpfe gegen den Hezb beschränkt. Aber angesichts der Schwierigkeit, diese und andere Guerillagruppen auseinander zu halten, ist anzunehmen, dass sich die Sicherheitskräfte bewusst zurückhalten werden. Die anderen Guerillagruppen in Kaschmir haben den einseitigen Schritt des Hezb allerdings scharf verurteilt. Der in Pakistan domizilierte United Jihad Council, der aus sechzehn Organisationen besteht, schloss den Hezb aus seinen Reihen aus. Auch die pakistanische Jamaat-Islami- Partei, deren militärischer Arm der Hezb ul- Mujahedin offiziell darstellt, bezeichnete den Entscheid als Verrat an der Sache Kaschmirs. Selbst die Hurriyat-Konferenz, ein Zusammenschluss von 24 islamischen Parteien im indischen Kaschmir, distanzierte sich. Erst als der Chef des Hezb, Sayed Salahuddin, am Samstag erklärte, die Gespräche mit der indischen Regierung würden ausschliesslich über die Hurriyat geführt, änderte diese ihr Urteil.
Der Schritt des Hezb ul-Mujahedin ist bedeutungsvoll. Es ist das erste
Mal, dass eine bewaffnete Organisation zu Verhandlungen bereit ist.
Der Hezb ist die grösste der Guerillagruppen und umfasst laut Angaben
der indischen Armee rund die Hälfte der 1500 gegenwärtig in Kaschmir
aktiven Kämpfer, weitere 4000 werden in Pakistan vermutet. Er ist
zudem, obwohl pro-pakistanisch eingestellt, eine Organisation, die
hauptsächlich aus Kaschmirern besteht. Die anderen Gruppen rekrutieren
eine grosse Zahl ihrer Kämpfer aus Koranschulen in Pakistan. Es ist
wenig wahrscheinlich, dass die plötzliche Gesprächsbereitschaft der
wichtigsten Guerillagruppe ohne das Einverständnis Pakistans zustande
gekommen ist. Die finanzielle und logistische Abhängigkeit aller
militanten Gruppen in Kaschmir von Islamabad ist nahezu vollständig.
Zudem gibt es Anzeichen, dass die Initiative wenn nicht von Islamabad
ausgegangen, so doch von dort gefördert worden ist. Pakistan ist auf
Grund seiner Wirtschaftslage von internationalem Wohlwollen abhängig
und daran interessiert, im Kaschmir-Konflikt nicht ständig als
Aggressor dazustehen. Sowohl indische wie pakistanische Zeitungen
sehen im Schritt des Hezb aber in erster Linie die Hand der USA.
Washington hat seit den Atomtests vor zwei Jahren eine Lösung des
Kaschmir-Konflikts zu einer aussenpolitischen Priorität erklärt. Die
Freilassung der Hurriyat-Führungsriege und die Bereitschaft Delhis zu
Gesprächen mit dieser werden auf amerikanischen Druck zurückgeführt.
Und bei der neusten Initiative hat ausgerechnet Pakistans
Militärherrscher General Musharraf in einem Interview mit der Londoner
«Times» den USA für ihren jüngsten Beitrag zur Beruhigung der
Spannungen in Kaschmir gedankt.
Keine Bedingungen Delhis
Delhi reagierte auf das Gesprächsangebot ohne die übliche Bedingung,
auf Verhandlungen nur im Rahmen der indischen Verfassung einzutreten.
Dies zeigt, wie sehr auch Indiens Regierung daran interessiert ist,
dem Krieg endlich ein Ende zu setzen. Die kürzlich in Gang gekommene
Diskussion über vermehrte Autonomie innerhalb eines Staatenverbunds
war ein erster Schritt. Aber solange der bewaffnete Untergrund - und
Pakistan dahinter - nicht darin einbezogen wird, ist die Chance für
eine tragende Lösung gering. Doch selbst wenn die gegenwärtige
Waffenruhe halten sollte, bleiben die Hindernisse gewaltig. Alle drei
Kontrahenten, Indien, Kaschmir und Pakistan, haben diametral
entgegengesetzte Vorstellungen über eine Lösung des Konflikts. Und
vorläufig zeichnet sich keine Formel ab, in der sich deren
Grundforderungen - Integration (Indien), Annexion (Pakistan) und
Souveränität (Kaschmir) - in einen Kompromiss überführen liessen. Dies
hat die politischen Lösungsversuche von indischer Seite bisher immer
scheitern lassen und den permanenten Belagerungszustand als einzige
Option zurückgelassen.
Aus: Neue Zürcher Zeitung, 31. 7. 2000
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