Terroranschläge in Kaschmir häufen sich wieder
Militante Muslimrebellen setzen auf Gewalteskalation, Politiker in Neu-Delhi auf Gespräche
Von Hilmar König, Neu-Delhi
Kaschmirs neuer Chefminister Mufti Mohammed Sayeed – seit 2. November im
Amt – hatte sich das
alles etwas freundlicher vorgestellt. Er wollte den muslimischen
Rebellen, auch den Separatisten,
und der Bevölkerung eine »heilende Hand« reichen und erwartete im
Gegenzug zumindest erst
einmal Zurückhaltung bei den terroristischen Attacken. Sayeed entließ
etliche gefangene Militante
aus den Gefängnissen und versprach eine Reform des staatlichen Polizei-
und
Sicherheitsapparates. Er wollte Vertrauen schaffen, die Basis für einen
Neuanfang legen, für
Normalisierung in dem seit 1989 von gewalttätigen Auseinandersetzungen
und
Menschenrechtsverletzungen geplagten indischen Bundesland.
Die Rebellen gewährten ihm, wie sich in diesen Tagen zeigt, nur eine
kurze Schonzeit, eine zu
kurze, um wirklich aus der Misere herauszukommen. Am Sonntag schlugen
sie wieder demonstrativ
zu. Im Zentrum Jammus verschafften sie sich mit Waffengewalt Zugang zum
Ragunath-Tempel, der
bereits im März Ziel einer ihrer Attacken war. Damals kamen acht
Menschen ums Leben. Diesmal
sorgten drei Mitglieder eines Himmelfahrtskommandos für Verwirrung und
Panik. Erst ließen sie auf
einem Marktplatz und vor einem Hotel zwei Handgranaten hochgehen und
lenkten damit die
Aufmerksamkeit der Sicherheitskräfte von ihrem Hauptziel, dem Ragunath-
und einem
Shiva-Tempel in der Nähe, ab. Nach mehrstündigem Feuerwechsel gelang es
der Polizei, zwei
Angreifer zu töten. Der dritte wurde am Montag morgen erschossen. Zehn
Zivilisten bezahlten den
Tempelüberfall mit dem Leben, über 50 wurden verletzt.
Bereits am Sonnabend waren sechs Angehörige der indischen Streitkräfte
und fünf Zivilisten bei
Lower Munda, rund 90 Kilometer von Srinagar entfernt, getötet und 24
Passagiere teils schwer
verletzt worden, als ihr Bus auf dem Srinagar-Jammu-Highway über eine
Landmine fuhr. Zu dem
Anschlag bekannten sich die militanten Gruppierungen
Harkat-e-Jihadi-e-Islami und
Jamiat-ul-Mujahedin. Am Freitag hatte ein Kommando der Gruppe
Lashkar-e-Tayeba das
Hauptquartier der Zentralen Polizeireserve in Srinagar gestürmt und
sechs Polizisten getötet.
Chefminister Sayeed steht nun im Zentrum der Kritik. Seine »Toleranz«
gegenüber den Rebellen
habe die nur ermutigt. Die »heilende Hand« habe negative Auswirkungen.
Das sei lediglich der
Anfang, mehr Unschuldige würden umgebracht. So lauteten einige der
Vorwürfe von Politikern, die
gerade so taten, als habe es vor dem 2.November keine terroristischen
Aktivitäten gegeben.
Allerdings ist nicht zu übersehen, daß die Rebellen mit der Häufung
ihrer Attacken in den
vergangenen Tagen ganz offensichtlich den Chefminister in
Schwierigkeiten bringen wollen.
Erreichen können sie damit freilich nichts, außer daß sich die Fronten
wieder verhärten und die
Fürsprecher einer harten, militärischen Lösung des Problems neues Wasser
auf die Mühlen
bekommen.
Trotz der jüngsten Terrorschläge halten die Bemühungen um eine
friedliche Lösung an. Der
ehemalige Justizminister Indiens, Ram Jethmalani, der ein
Kaschmir-Komitee leitet, verlangt von
allen Beteiligten an dem Konflikt Bereitschaft zum Kompromiß. Die
Separatisten sollten ihre
extreme Forderung »Abspaltung und Unabhängigkeit« aufgeben. Und die
regierende Indische
Volkspartei (BJP) sollte Jammu und Kaschmir einen Sonderstatus im
indischen Staatenbund
zugestehen. Chefminister Sayeed bekräftigte in Srinagar seinen
Standpunkt, daß Gewalt die
vorgesehenen Gespräche zwischen der Regierung in Neu-Delhi und den
gewählten Vertretern von
Jammu und Kaschmir nicht verhindern kann.
Aus: junge Welt vom 26.11.2002
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