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Indien, Pakistan und die Kaschmir-Frage:

Beginnt nun der Friedensprozess?

Zwischen Indien und Pakistan bahnt sich ein Dialog um die Kaschmir-Frage an. Die Anfang August 2000 verübten Attentate und Massaker, begangen vermutlich von Kaschmirischen Separatisten, werden von indischen Nationalisten mit Gleichem vergolten. Dennoch scheint das die Regierenden in Neu Delhi und Islamabad nicht davon abzubringen, auf die Konfliktparteien in Kaschmir beschwichtigend einzuwirken. Dies ist umso bemerkenswerter, als in Pakistan ein autoritärer Putschgeneral und in Indien ein konservativer Hindu-Nationalist an der Macht ist. Der Dialog mit den Kaschmir-Rebellen beginnt zwar als innerindischer Prozess, es ist indessen allgemein bekannt, dass hinter den Kaschmiris das pakistanische Regime die Fäden zieht. Die zwei folgenden Kommentare befassen sich mit den Bedingungen für ein mögliches Tauwetter in Südasien, wobei insbesondere der zweite Artikel - er ist der Financial Times Deutschland entnommen - dem pkistanischen Putschregime interessanterweise eine gehörige Portion friedenspolitischer Orientierung zubilligt. Der erste Kommentar, "Schneeschmelze in Kaschmir?", ist der Neuen Zürcher Zeitung entnommen.

Schneeschmelze in Kaschmir?

Seit mehr als fünfzig Jahren streiten sich Indien und Pakistan in einer bis ans Absurde grenzenden militärischen Materialschlacht um die territoriale und politische Kontrolle über Kaschmir. In Höhenstellungen auf über 5000 Metern belauern sich im ewigen Eis schlecht ausgerüstete Soldaten beidseits der seit 1972 offiziell respektierten Waffenstillstandslinie - um auf gut Glück den in wenigen Kilometern Entfernung genauso vor Kälte schlotternden Gegner mit einer Artilleriesalve einzudecken. Wie viele Opfer dieser Regionalkonflikt mit internationaler Ausstrahlung bisher gekostet hat, ist nicht klar: Schätzungen gehen von über 30 000 Personen aus, in ihrer überwiegenden Zahl Zivilisten.

Unbekannt ist bis heute auch, wie hoch genau der Blutzoll gewesen ist, den die zwei verfeindeten Nuklearmächte im letzten Sommer beim Schlagabtausch um strategische Positionen entlang der Verbindungsstrasse Srinagar-Leh leisten mussten. Die von Pakistans Militärmachthaber Musharraf tatkräftig unterstützte und von seinem inzwischen eingekerkerten politischen Widersacher Nawaz Sharif mit ziemlicher Sicherheit gutgeheissene Infiltration durch paramilitärische Formationen aus Pakistans Northern Areas endete für Indien militärisch gesehen mit einem blauen Auge; diplomatisch zog Delhi als Sieger vom Feld. Für Pakistan hingegen mündete das offensichtlich bereits im Spätherbst 1998 begonnene Hasardstück in ein umfassendes Desaster.

Und nun bietet ausgerechnet der Hezb ul- Mujahedin, die grösste der in Kaschmir operierenden und von Pakistan unterstützten Guerillaorganisationen, der indischen Bundesregierung den Dialog an. Aus dieser überraschenden Ankündigung die Stimme Islamabads herauszuhören, fällt nicht schwer. Pakistans Militärführung steht als direkte Folge ihrer wankelmütigen Haltung gegenüber der je nach Blickwinkel «Befreiungskampf» oder «Terrorismus» genannten Gewaltanwendung in der Region unter grossem internationalem Druck. Die stärkere politische Gewichtung Indiens durch die USA und die wachsende Besorgnis des inzwischen wohl wichtigsten militärischen Verbündeten, China, über die Militanz islamischer Gruppierungen in Xinjiang zwingen die Generäle in Islamabad, wenigstens Zeichen des guten Willens zu setzen.

Vor diesem Hintergrund betrachtet, ist der dreimonatige Waffenstillstand des Hezb ein taktisch kluger Schachzug. Delhi sieht sich über Nacht genötigt, sich ernsthafter als bisher mit den tieferliegenden politischen Problemen in Kaschmir auseinanderzusetzen, anstatt mit Verweis auf die problematische Sicherheitslage sich einzig auf Repression zu konzentrieren, die oft die Grenzen der Verhältnismässigkeit verletzt. Islamabad profitiert indirekt auch von den aufgewärmten Autonomieforderungen des muslimischen Chefministers des Unionsstaates Jammu und Kaschmir, Farooq Abdullah, die vor kurzem die indische Regierung in Rage versetzt hatten. Durchaus gelegen dürfte den Generälen schliesslich sein, dass jedes von Delhi akzeptierte Gesprächsangebot einer militanten muslimischen Gruppierung Ängste unter der nichtmuslimischen Bevölkerung schürt, Indien könnte sich auf irgendeinen Kompromiss einlassen - etwa die Abspaltung der von Muslimen dominierten Kerngebiete um Srinagar, um wenigstens über das mehrheitlich von Hindus bewohnte Jammu und das überwiegend buddhistische Ladakh die Kontrolle zu behalten.

Nüchtern betrachtet, hat sich in der Substanz des Konfliktes freilich wenig verändert. Dreh- und Angelpunkt einer jeden Verständigung über Kaschmir bleiben Delhi und Islamabad, nicht irgendeine Untergrundarmee der Region. Hier freilich ist vorläufig keine Annäherung erkennbar. Pakistan wird im Hintergrund weiterhin sehr gezielt Gewalt in Kaschmir einsetzen, wenn politische Gespräche keine Früchte tragen. Für Islamabad ist dies neben der atomaren Aufrüstung die einzige Möglichkeit, dem Angstgegner - dem man auf konventionellem Gebiet weit unterlegen ist - schmerzhafte Nadelstiche zuzufügen.

Weder Pakistan, das einen Anschluss der umstrittenen Gebiete anstrebt, noch Indien, das am liebsten den Status quo völkerrechtlich verankert sehen möchte, kann es sich derzeit aus innenpolitischen Gründen leisten, von diesen Ansprüchen abzuweichen. Die Zeche dieser Unbeweglichkeit bezahlen die Kaschmiri. Sie würden sich beidseits der Waffenstillstandslinie in ihrer grossen Mehrheit heute wohl mit einer Art Autonomie zufrieden geben. Vorerst jedoch leiden sie weiterhin unter dem täglichen Terror. Allein in den letzten Tagen wurden gegen 100 Personen ermordet - vermutlich von muslimischen Untergrundkämpfern, die wohl ebenso im Solde von Pakistans Geheimdienst ISI stehen wie der plötzlich dialogbereite Hezb ul-Mujahedin.

Aus: Neue Zürcher Zeitung, 4. August 2000

Indiens ungeliebter Reformer

Von Farhan Bokhari, Islamabad, und Kathrin Hille, Berlin

Es geschah 24 Stunden nach der Blutnacht von Kaschmir, nur einen Tag, nachdem mehr als 100 Menschen im Himalaja dahingemetzelt worden waren: Indien hat sich zu Gesprächen mit Kaschmirs wichtigster Rebellenorganisation an einen Tisch gesetzt.

Ihr Ziel: Ein Waffenstillstand in Indiens gebirgiger Grenzregion, für deren Unabhängigkeit seit 1989 muslimische Guerillas kämpfen. Und alles deutet darauf hin, dass auch Pakistan, mit dem Neu-Delhi seit 52 Jahren kein Wort wechselt, bald am Verhandlungstisch sitzen wird.

An "einem der gefährlichsten Orte der Welt", wie US-Präsident Clinton Südasien wegen seiner Atomarsenale einmal genannt hat, bahnt sich ein Durchbruch an. Was der Unruheregion die Chance auf Frieden eröffnet, könnte Indiens Erzfeind Pakistan die Rückkehr in die internationale Staatengemeinschaft bahnen: Dem Land, das seit dem Militärputsch vom vergangenen Herbst als Paria behandelt wird.

Seit jenem 12. Oktober 1999 gilt für General Pervez Musharraf, der den gewählten Premier Nawaz Sharif stürzte und ins Gefängnis steckte, die Devise: "Eine Lösung muss her." Um sich Milliardenkredite für Wirtschaftsreformen zu sichern, braucht Pakistan verzweifelt Erfolge auf internationaler Bühne. Darum hat Musharraf seit seinem Putsch Indien immer wieder zu direkten Gesprächen über die Kaschmir-Region aufgefordert, ist im Konflikt mit dem Nachbarn als der Gemäßigte und Vernünftige aufgetreten.

Kein roter Teppich im Ausland

Bislang hat das Ausland dieses Engagement kaum honoriert und scheut offene Kontakte mit dem Regime. Wenn pakistanische Minister auf Auslandsreisen aus dem Flugzeug steigen, können sie keinen roten Teppich erwarten, auch nicht der stellvertretende Außenminister Inam Ul-Haq, der im Juli Berlin besuchte. "Bevor da nicht wieder eine zivile Regierung am Ruder ist, gibt es keine politischen Kontakte", heißt es im Auswärtigen Amt. So gab es bei Inams Besuch in Berlin Mitte Juli nur Termine hinter verschlossenen Türen.

Seit General Musharraf das Land regiert, hat die EU sämtliche Kontakte eingefroren: Kein Austausch, keine Kredite, keine Entwicklungshilfe. Das einfache Volk muss diese Erziehungsversuche des Westens bislang ausbaden.

Wenn Slum-Bewohner Raja Safdar morgens aus seinem wackligen Zelt in Islamabad kriecht, weiß er nie, ob es abends noch steht. Seit Wochen fegt der Monsun über Pakistan. Der Regen sei "schlecht fürs Geschäft", sagt der Obsthändler. "An Regentagen verkaufe ich manchmal nur halb so viel wie bei gutem Wetter."

Leute wie Safdar verlieren allmählich die Geduld mit dem General. Die pakistanische Bevölkerung, so eine aktuelle Umfrage, empfindet die Lebensumstände unter Musharraf als ebenso ungerecht wie einst unter seinen gewählten Vorgängern Nawaz Sharif und Benazir Bhutto. Dabei begrüßte die Mehrheit der Pakistanis den Putsch zunächst. Vorgänger Sharif war alles andere als ein demokratischer Musterschüler. In seinen zweieinhalb Amtsjahren versuchte er, die Verfassung auszuhebeln.

Dass sich die Lage seit dem Beginn der Diktatur kaum verschlimmert hat, ist den Deutschen durchaus bewusst. "Das war schon vor dem Antritt der Generäle ein völlig verrottetes Land", verrät ein hochrangiger Beamter eines deutschen Ministeriums hinter vorgehaltener Hand.

Politische Misere als Rechtfertigung

Die politische Misere, mit der das Land über Jahre hinweg zu kämpfen hatte, dient Musharraf bis heute als Rechtfertigung für seinen Putsch. Die pakistanische Demokratie sei eine "Scharlatanerie", lautet einer seiner berühmtesten Aussprüche.

Der General versprach Besserung. Die Parteien will er reformieren. Sie waren bislang nur Apparate, mit denen reiche Clans das Land aussaugten. Die Korruption in Behörden und beim Militär will er bekämpfen. "Wir bauen jede Institution in diesem Land neu auf", prahlte Musharraf.

Von diesem Vorhaben seien tatsächlich Ansätze erkennbar, gibt ein Ministerialbeamter in Berlin zu. "Pakistan hat uns glaubhafte Konzepte vorgelegt, mit denen die Regierung die Korruption ohne Rücksicht auf Verluste in der Verwaltung und in den Streitkräften ausmerzen will." Mit dieser Aussage möchte der Deutsche aber nicht zitiert werden.

Ob Pakistan wirklich vor der "Geburt einer neuen Nation" steht, wie der General verspricht, wird sich nach Ansicht vieler Beobachter jedoch nicht an der Reform der politischen Institutionen entscheiden. Wichtiger ist, dass es Musharraf gelingt, der am Boden liegenden Wirtschaft wieder Leben einzuhauchen.

Wirtschaftswachstum reicht nicht aus

Derzeit reicht das Wachstum nicht aus, um die 140 Millionen Pakistanis zu ernähren. Nach wie vor wächst die Bevölkerung fast ebenso schnell wiedas Bruttoinlandsprodukt. Da kommt es nicht gerade gut an, dass Musharraf seine Wirtschaftsreformen damit begonnen hat, Geld einzutreiben. Doch es bleibt ihm nichts anderes übrig. Nur ein Prozent der Bevölkerung zahlt überhaupt Steuern. Deshalb schickt der General seit Monaten Steuereintreiber durchs Land, die in Begleitung von Soldaten alle Haushalte und Firmen steuerlich erfassen - bis in die letzte Gassehinein. Alle Unternehmer sollen nun eine Umsatzsteuer entrichten. So werden sie erstmals gezwungen, Angaben über Geschäftstätigkeit und Umsätze zu machen.

Die Händler laufen Sturm gegen die neue Steuerpolitik. Sie ließen die eisernen Rollläden vor ihren Geschäften herunter und legtenwochenlang ganz Islamabad lahm. Bilder von Knüppel schwingenden Soldaten, die arme Gewerbetreibende in wehenden Kaftanen durch die Straßen trieben, untermauerten das westliche Vorurteil vom bösen Militärdiktator.

Steuermoral muss verbessert werden

Tatsächlich ist die Kampagne der wichtigste Test dafür, ob Musharraf Pakistans lahme Wirtschaft wieder auf Touren bringen kann. "Alles hängt an der Steuerkampagne", sagt ein westlicher Diplomat in Islamabad. Wenn der General es schaffe, die Steuermoral seiner Landleute zu heben, stünden die Chancen für einen Aufschwung nicht schlecht.

Viel Zeit bleibt Musharraf nicht. Im Dezember läuft ein Umschuldungsabkommen mit dem Pariser Club der Geberländer ab. Dann werden Rückzahlungen in Höhe von 5,5 Mrd. $ fällig - Geld, das der Staat nicht hat. Nur wenn der General bis dahin den Internationalen Währungsfonds (IWF) von seinen Reformen überzeugen kann, wird der Fonds neue Kredite gewähren. Entscheidend ist, dass Musharraf die Vertreter aus den USA, Japan und Deutschland im IWF-Direktorium auf seine Seite zieht.

Zudem muss der General die privaten Investoren überzeugen, dass ihr Geld in seinem Land wieder sicher angelegt ist. In den vergangenen zwei Jahren haben ausländische Unternehmen lediglich 865 Mio. $ in Pakistan investiert. Viele betrachten das Land als Hochrisiko-Standort. Daran ist vor allem ein Streit zwischen der Regierung und ausländischen Teilhabern neuer Kraftwerksprojekte schuld, der seit drei Jahren schwelt.

Ein Berg von Aufgaben, der kaum zu bewältigen ist. Die Weltbank und die Asiatische Entwicklungsbank (ADB) haben ihre Unterstützung für das Land daher nicht abgebrochen. Im April stellte sie Islamabad einen Kredit von 2,9 Mio. $ zur Reform des Justizsystems bereit. Damit sollen die Verwaltung der Gerichte gestrafft und Richter ausgebildet werden.

Ein ähnliches Hilfsprogramm betreibt die deutsche Regierung in China. Weil Isolation und Konfrontation nichts helfen, so die Logik, will Berlin den Machthabern in Peking deutsche Erfahrungen zur Verfügung stellen. Anders als Pakistan gilt die Volksrepublik als kommende Großmacht - da vergisst man schnell mal, dass auch in China keine Demokratie in Sicht ist.
Aus: Financial Times Deutschland, 5. August 2000

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