Verbrecher im Kampfanzug
Schwere Menschenrechtsverletzungen in Jammu und Kaschmir
Von Hilmar König, Delhi *
Ein besonders krasser Fall von Menschenrechtsverletzungen empört die Bevölkerung im indischen
Unionsstaat Jammu und Kaschmir.
Mit Demonstrationen und Streiks wurde gegen ein in der vorigen Woche durch die Zeitung »The
Hindu« ans Licht gebrachtes Verbrechen protestiert. Die Armeeführung Indiens sowie das
Oberkommando der Zentralen Polizeireserve hatten am Sonntag angeordnet, die schockierenden
Vorfälle zu untersuchen und festzustellen, ob Angehörige der Sicherheitskräfte tatsächlich beteiligt
waren.
Die makabre Vorgeschichte spielte sich in verschiedenen Gegenden Jammus und Kaschmirs ab, in
dem seit Ende der 80er Jahre militante Rebellen für Unabhängigkeit oder Anschluss an das
benachbarte Pakistan kämpfen. Mit enormer Militärpräsenz begegnet Indien seit Jahrzehnten dieser
Rebellion, die von Pakistan nach dessen Version »moralisch, politisch und diplomatisch« unterstützt
wird. Delhi hingegen ist sich sicher, dass die meisten Militanten ihre Ausbildung und Bewaffnung im
pakistanischen Teil Kaschmirs erhalten haben. Es spricht deshalb vom »grenzübergreifenden
Terrorismus«. Seit dem im Jahre 2004 initiierten indo-pakistanischen Dialog wird die Suche nach
einer friedlichen Lösung des Konflikts unter zunehmender Einbeziehung kaschmirischer Gruppen
und Parteien intensiviert.
Vor diesem Hintergrund agierten die beschuldigten Polizisten und Soldaten. In mindestens fünf
Fällen brachten sie in sogenannten Scheingefechten unschuldige Zivilisten um. Die Opfer wurden in
den polizeilichen Berichten stets als »unbekannte Terroristen« bezeichnet, manche angeblich aus
Pakistan stammend. Tatsächlich handelte es sich um Mord. Es gab keine Gegenwehr, geschweige
denn Gefechte. Als Motive für diese als »konterterroristische Operationen« aktenkundig gemachten
Verbrechen gaben die Täter an, mit Auszeichnungen und Beförderungen oder Geldprämien
gerechnet zu haben.
Der Ärger der Öffentlichkeit im indischen Teil Kaschmirs über das spurlose Verschwinden von
Zivilisten nahm in den letzten Monaten zu, und die Verdächtigungen, dass die Verschwundenen im
»Polizeigewahrsam« umgebracht worden seien, wurden immer lauter. Der Stein kam kürzlich ins
Rollen, als gewissenhafte Polizeioffiziere Anfragen über das Schicksal Verschwundener ernst
nahmen und Untersuchungen einleiteten. So stießen sie mit Hilfe eines Mobiltelefons, das einem der
Opfer gehörte und dank Vermittlung eines Polizisten den Besitzer wechselte, auf heiße Spuren.
Diese führten zu ihrem Entsetzen zu eigenen Kollegen. Der Verdacht erhärtete sich, als man die
Tasche eines ermordeten Parfümhändlers im Haus eines »Ordnungshüters« fand. Inzwischen
wurden die Leichen von fünf Personen exhumiert. Der Parfümhändler trug sogar noch ein
Fläschchen Duftwasser bei sich. Alle Toten waren als »Terroristen« registriert und verscharrt
worden.
»Verbrecher in Kampfanzügen« titelte »The Hindu« am Montag einen Leitartikel zu den Vorfällen.
Die »Scheingefechte« werden in Jammu und Kaschmir als »nationale Tragödie« verstanden.
»Handelt es sich um die Spitze des Eisbergs, wie die Beschuldigung einiger Politiker und
Menschenrechtsaktivisten lautet? Hat es Hunderte, gar Tausende ähnliche Morde, von
Sicherheitskräften in Jammu und Kaschmir begangen, gegeben?« fragt die Zeitung. Sie kommt aber
zu dem Schluss, dass die Sicherheitskräfte bei ihren Operationen überwiegend professionelle
Disziplin und Zurückhaltung üben. Allerdings gebe es die Tendenz, bei Überschreitungen der
Dienstpflicht die Schuldigen in Uniform zu decken und die Vorfälle zu vertuschen.
Man müsse Chefminister Ghulam Nabi Azad loben, der diesmal mit ganzem Einsatz auf
Wahrheitsfindung pochte. Das sei angesichts der besonderen politischen Lage in diesem Teil
Indiens »kein kleiner Beweis von Mut«. Nun gelte es, die Schuldigen vor Gericht zu bringen und
nachdrücklich für die Respektierung der Menschenrechte zu sorgen.
* Aus: Neues Deutschland, 6. Februar 2007
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