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"Kaschmir liegt uns im Blut"

Indisch-pakistanisches Patt - Der Kampf wird weitergehen

Im Folgenden dokumentieren wir Auszüge aus einem Artikel der Schweizer Wochenzeitung WoZ vom 13. Juni 2002. Joseph Keve geht darin auf die Geschichte und die tiefer ligenden Ursachen des indisch-pakistanischen Konflikts ein, der in den letzten Wochen und Monaten die Region bis an den Rand eines Krieges geführt hat. Ob die für den Herbst angekündigten Wahlen im indischen Teil Kaschmirs tatsächlich einen "Wendepunkt" für die Entwicklung Kaschmirs und seiner Bevölkerung darstellen werden, darf bezweifelt werden. Noch bestimmen gegenseitiger Hass und Misstrauen das indisch-pakistanische Verhältnis - und davon hängt das Schicksal Kaschmirs ab, nicht vom Wilen der dort lebenden Bevölkerung.


Indisch-pakistanisches Patt: Schau mir in die Augen

Von Joseph Keve, Bombay


Beinahe eine Million Soldaten sind vor einer Woche beidseits der 900 Kilometer langen indisch-pakistanischen Grenze aufmarschiert. Die Welt war fassungslos. Westliche Regierungen riefen ihre BürgerInnen auf, die Region zu verlassen, solange es noch interkontinentale Flüge gebe. Krieg, Zerstörung, zahllose Tote wurden prophezeit, ein nuklearer Holocaust. ... Für die InderInnen aber änderte sich nichts. In den Strassen Bombays lachten die Kinder bloss, als die Sirenen heulten. Ich kenne nicht einen einzigen Menschen, der Notvorräte angelegt hätte. Niemand befürchtet hier einen Krieg.

In Indien und Pakistan hat man sich an die Kniffe der Regierungen gewöhnt. Das Spiel heisst: sich in die Augen schauen und wer zuerst blinzelt, hat verloren. In den letzten Tagen schwächten Indien und Pakistan ihre Kriegsrhethorik ab. Der Besuch des US-Vizeaussenministers Richard Armitage lieferte ihnen die Ausrede dafür. Am Ende seiner Konsultationen zeichnete Armitage einen möglichen Weg zum Frieden zwischen den beiden Atomnachbarn: Pakistan muss die Infiltration bewaffneter Kämpfer in den Kaschmir verhindern und sich dauerhaft vom Terrorismus lösen – also auf den Einsatz von Gewalt in der Kaschmir-Frage verzichten. Indien muss deeskalieren, seine Truppenstärke in der Region reduzieren und mit der Normalisierierung der Beziehungen beginnen. US-VertreterInnen legten ausserdem nahe, dass Indien und Pakistan gemeinsame Patrouillen an der Waffenstillstandslinie vorbereiten und diese Linie mindestens vorläufig als Grenze akzeptieren sollten.

Indien fordert von Pakistan die Schliessung der verbliebenen siebzig Trainingslager an der Grenze und Massnahmen gegen die tausenden von Kämpfern, die darauf warten, nach Indien einzudringen und die bevorstehende Regionalwahl in Jammu und Kaschmir zu stören. Weiter soll Pakistan die militanten Gruppen, die die Gewalt schüren, nicht mehr unterstützen und zwanzig mutmassliche Gewalttäter nach Indien ausliefern. Viele InderInnen hatten sich über Pakistans Raketentests aufgeregt; die Raketen trugen die Namen von Ghasnavi, Ghauri und Abdali – muslimischen Eroberern, die einst in Indien eingefallen waren. Ausserdem sind viele davon überzeugt, dass die Sympathie des Westens kaum mehr als ein Lippenbekenntnis darstellt. Im Moment versucht sich die indische Führung in einer «Diplomatie des Drucks», denn man befürchtet, im Falle eines militärischen Schlags international geächtet zu werden. Diese Art der Diplomatie gründet auf der Hoffnung, dass die Grossmächte Pakistan auf Linie bringen werden. ...

Pakistan unterliegt eigenen Zwängen. Weil sich die Zivilregierung nach der Unabhängigkeit (1947) um das Überleben Pakistans angesichts des mächtigen Nachbarn sorgte, integrierte sie die Armee in die politischen Institutionen. Die Generäle, die bald darauf die Macht übernahmen, verstärkten die militärische Komponente des Staates, die unter General Zia ul-Haq ideologisch unterfüttert wurde. So kam es, dass sich der Staat allmählich zwei gesellschaftlichen Kräften unterwarf, die beide bewaffnet waren – der Armee und den Mudschaheddin. Angesichts dieser Konstellation entwickelte sich «Kaschmir» zum zentralen Anliegen Pakistans, nur der auch religiös angeheizte Kaschmir-Konflikt kann heute Pakistan zusammenhalten. «Kaschmir liegt uns im Blut», sagte Staatspräsident General Perwes Muscharraf in einer Rede Anfang dieses Jahres. Muscharraf balanciert also zwischen seiner Zusagen, die Infiltrationen zu stoppen, und seinem nach innen gegebenen Versprechen, den Aufstand in Kaschmir moralisch, politisch und diplomatisch zu unterstützen. ... Die pakistanische Führung ist gefangen zwischen den verschiedenen militanten islamistischen Gruppen mit ihren religiösen Führern und sich selbst bedienenden PolitikerInnen. Die Tragödie besteht darin, dass die politischen Führungen von Indien und Pakistan seit der Teilung des Subkontinents immer nur für ihr jeweiliges Publikum spielen und dadurch sektiererische Tendenzen verstärken – während die Bevölkerung von Kaschmir um ihr wirtschaftliches Überleben kämpft, um politische Freiheiten und kulturelle Unabhängigkeit. ... Indien und Pakistan haben vollständig versagt; sie haben nicht einmal Mechanismen etabliert, die den Konflikt entschärfen können. In dieser Hinsicht sind sie heute völlig von den USA abhängig – deren Krieg gegen Afghanistan die Situation noch verschärft hat. Inzwischen agieren zahllose Taliban-Kämpfer entlang der pakistanisch-indischen Grenze.

Die indische Regierung hat für September Regionalwahlen in Kaschmir angekündigt. Fänden tatsächlich freie Wahlen statt, könnten sie einen Wendepunkt für Kaschmir und seine Bevölkerung bedeuten: einen Weg aus Gewalt und Tod, Armut, Arbeitslosigkeit und Fehlentwicklung. Während des mittlerweile dreizehn Jahre andauernden Aufruhrs starben über 35.000 Menschen. Die soziale und kulturelle Struktur der Region veränderte sich. Freie Meinungsäusserung und politische Organisierung erstarrten. Die Kaschmiris wissen, was zu tun wäre. In einer kürzlich vorgenommenen Meinungsumfrage erklärten 93 Prozent der Befragten, dass wirtschaftliche Entwicklung und ein Abbau der Armut den Frieden bringen könnte. 92 Prozent wollen nicht, dass Kaschmir entlang religiösen und ethnischen Linien geteilt wird. Und 86 Prozent glauben, dass freie und faire Wahlen eine Chance für Frieden bedeuten würden. Aber hört in Islamabad und Neu-Delhi jemand zu?

Aus: WoZ, 13. Juni 2002


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