Explosive Lage in Kaschmir
Nach blutigem Generalstreik wurde im indischen Unionsstaat eine Ausgangssperre verhängt
Von Hilmar König, Delhi *
Mit einer Ausgangssperre versucht die Unionsregierung, die Lage im indischen Teil Kaschmirs
wieder zu beruhigen. Zuvor waren bei blutigen Unruhen 34 Menschen ums Leben gekommen.
Die salbungsvollen Worte sind wirkungslos verpufft. In seiner Festrede zum 61.Unabhängigkeitstag
Indiens am 15. August beschwor Premier Manmohan Singh Harmonie und Eintracht im
multireligiösen Vielvölkerstaat und erinnerte an das nationale Motto »Einheit in der Vielfalt«. In
Jammu und Kaschmir will das keiner hören. Erst vergangenen Montag demonstrierten im indischen
Teil Kaschmirs wieder zehntausende Muslime für das Recht auf Selbstbestimmung. Trotz offizieller
Warnungen der indischen Behörden versammelten sich die Demonstranten in der
Sommerhauptstadt Srinagar und zogen vor die dortige UN-Vertretung.
Unter den Demonstranten in Srinagar befand sich die prominente Autorin Arundhati Roy. In einer
Stellungnahme sagte sie: »Die Reaktion der Menschen in Kaschmir ist tatsächlich ein Referendum.
Sie brauchen niemanden, der sie repräsentiert. Sie vertreten sich selbst. Indien braucht Freiheit von
Kaschmir, wie Kaschmir Freiheit von Indien braucht.«
Landesweit folgte dieser Meinungsäußerung ein Aufschrei der Empörung. In der regierenden
Kongresspartei hieß es, Frau Roy habe liberale Traditionen Indiens gröblich missbraucht. Wie ernst
die Lage in dem nördlichen Unionsstaat ist, lässt sich daran ablesen, dass am Mittwoch Indiens
nationaler Sicherheitsberater, begleitet von einem Geheimdienstchef, zu Konsultationen nach
Srinagar flog.
Zwei Wochen lang hatte es in Srinagar und anderen Städten im überwiegend muslimischen Jhelum-
Tal Kaschmirs einen von separatistischen Kräften organisierten Generalstreik gegeben. Nahezu
täglich kam es zu Massendemonstrationen und Zusammenstößen mit Polizei und Militär. Die Medien
sprachen von einer »Explosion der Gewalt«. Tote und Verletzte waren zu beklagen. Es sollen die
größten Protestaktionen der vergangenen zehn Jahre gewesen sein.
Die Unionsregierung hat inzwischen eine Ausgangssperre verhängt. Ohnehin hatten die
Organisatoren am Dienstag eine dreitägige »Atempause« verkündet, damit die Menschen
wenigstens einkaufen gehen können. Am Freitag soll die Protestkampagne fortgesetzt werden.
Die Behörden hatten und haben alle Hände voll zu tun, die Unruhen im Jhelum-Tal des
Unionsstaates unter Kontrolle zu halten. Ein an sich schon schwieriges Unterfangen, was noch
dadurch kompliziert wurde, dass hinduistische Fundamentalisten im Gebiet Jammu ebenfalls mobil
machten und tausende Demonstranten bewegten, auf die Straßen zu gehen. Zur Erklärung: Der
nordindische Unionsstaat Jammu und Kaschmir besteht aus drei Teilen, die sich ethnisch, sprachlich
und religiös und in ihrem Verhältnis zum »Mutterland« Indien unterscheiden. Das Jhelum-Tal wird zu
90 Prozent von Muslimen bewohnt, die kaschmirisch sprechen. Viele wollen Unabhängigkeit oder
liebäugeln mit einem Zusammenschluss mit ihren kaschmirischen Brüdern und Schwestern im
pakistanischen Teil. Die Spaltung besteht seit 1947, als die britische Kolonialmacht den
Subkontinent in Indien und Pakistan teilte. Seitdem ist die Region Kaschmir Zankapfel zwischen
beiden Nachbarn und war Ursache für mehrere Kriege. In Jammu siedeln überwiegend Hindus und
Sikhs, die Dogri, Hindi und Punjabi sprechen und Indien als ihre wirkliche Heimat ansehen. In
Ladakh leben überwiegend Buddhisten mit eigenen Dialekten. Sie favorisieren einen
Autonomiestatus.
Zurück zur aktuellen Situation. Auch in Jammu verlief der Protest nicht gewaltlos. Gegen hunderte
Steinewerfer ging die Polizei mit Schlagstöcken und Tränengas vor. Tausende wurden
vorübergehend festgenommen. Insgesamt kamen bei den Unruhen in Jammu und Kaschmir in den
letzten zehn Tagen 34 Menschen ums Leben. Die brisanten Ereignisse geben Anlass zur
Befürchtung, dass dies negative Auswirkungen auf das ohnehin gespannte Hindu-Muslim-Verhältnis
in ganz Indien haben könnte.
Auslöser für den gewaltsamen Protest war der alljährliche Treck von Hindu-Pilgern durch
kaschmirisches Gebiet zum Amarnath-Höhlenschrein. In diesem steht ein Eisphallus, den die
Gläubigen als Symbol der Allmacht des Gottes Shiva verehren. Hunderttausende gehen jeden
Sommer auf diese beschwerliche Pilgerreise. Eine Behörde, der »Amarnath Trust«, ist für die
Verwaltung des Heiligtums und für die Organisierung des Trecks verantwortlich. In diesem Jahr
gelang es dem Trust zunächst, von der Regierung in Srinagar die Erlaubnis zu bekommen, 40
Hektar Gemeindeland entlang der Route künftig für den Bau von zeitweiligen Unterkünften für die
Pilger zu erhalten. Das bewerteten radikale Muslimparteien als »Landraub« und »schleichende
Hinduisierung« des Gebietes. Sie initiierten die Protestbewegung. Die Regierung ruderte zurück und
hob ihre Entscheidung auf. Damit zog sie sich jedoch den Zorn hinduistischer Fundamentalisten zu,
die nun ihrerseits die Hindus zum Protest mobilisierten. Für die hindunationalistische Indische
Volkspartei (BJP) bietet sich so eine willkommene Gelegenheit, ein paar Monate vor den indischen
Parlamentswahlen politisch zu punkten. Entsprechend gießt sie Öl ins Feuer.
* Aus: Neues Deutschland, 22. August 2008
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