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Aufruhr im Kaschmirtal

Generalstreik und Massendemonstrationen: Muslimische Bevölkerung im indischen Teil befürchtet Entstehen einer hinduistischen Enklave

Von Hilmar König, Neu-Delhi *

Bislang drei Tote und nahezu 100 Verletzte – so lautete bis Donnerstag (26. Juni) die Bilanz des Aufruhrs im mehrheitlich von Muslimen besiedelten Kaschmirtal auf der indischen Seite des mit Pakistan umstrittenen Gebietes. Seit vier Tagen gehen in Srinagar, die Hauptstadt des indischen Bundesstaates Jammu und Kaschmir, und in anderen Städten und Ortschaften Tausende protestierende Menschen auf die Straßen. Bei den Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften flogen Steine, brannten Autoreifen, wurden Dutzende Fahrzeuge abgefackelt. Immer wieder waren gegen Indien gerichtete Sprechchöre und Rufe nach Freiheit für Kaschmir zu hören.

Die Polizei ging mit Schlagstöcken und Tränengas vor, gab Warnschüsse ab und feuerte auch in die Menge. Obendrein lähmt seit Wochenbeginn ein Generalstreik das öffentliche Leben. Geschäfte und Schulen sind geschlossen, öffentliche Verkehrsmittel fahren nicht. Die Situation ist chaotisch. Chefminister Ghulam Nabi Azad will mit einem baldigen Allparteientreffen wieder für Ruhe und Ordnung sorgen. Die Aussichten, daß ihm das gelingt, sind freilich nicht gerade rosig.

Den Aufruhr löste eine dieser Tage bekanntgewordene Entscheidung des Gouverneurs, der mittlerweile abdankte, und der Regierung von Jammu und Kaschmir aus, einer hinduistischen Behörde 40 Hektar Land zur Errichtung von nicht permanenten Pilgerherbergen zu transferieren. Islamische Parteien und Verbände vermuten dahinter einen Versuch, eine »hinduistische Enklave« zu etablieren und das als Ausgangspunkt zu nehmen für eine »stille Hinduisierung« des Kaschmirtales.

Bei der Behörde handelt es sich um den »Amarnath Shrine Board«. Sie hat die Aufsicht über den alljährlichen Pilgerstrom zur Amarnath-Höhle im Himalaja und kassiert die enormen Spendenbeträge der Gläubigen. In der Höhle wird ein Eisstalagmit von den Hindus als Phallussymbol ihres Gottes Shiva verehrt. Die Pilgersaison ist gerade in vollem Gange. 200 000 Gläubige trekken auf zwei verschiedenen Routen zu dem Höhlenschrein. Sie werden von Militärposten und einer Kette von Sicherheitsleuten gegen Angriffe von militanten Aufständischen geschützt. Wegen des gegenwärtigen Aufruhrs mußte eine der Routen geschlossen werden. Der »Amarnath Shrine Board« will auf dem Forstland Unterkünfte für die Pilger errichten lassen.

Von interessierter Seite – bei den Muslimen ebenso wie den Hindus – wird die Situation ausgenutzt, Spannungen anzuheizen, die seit dem 1947/48 ausgebrochenen Kaschmirzwist bestehen. Dieser Konflikt löste nicht nur drei Kriege zwischen Indien und Pakistan aus und spaltete die Region in einen pakistanischen und einen indischen Teil, sondern kostete auch über 50000 Menschenleben. Seit kurzem hat Jammu und Kaschmir einen neuen Gouverneur, der mit der Komplexität des Problems im Detail vertraut ist und seit vielen Jahren als Politiker und Beamter mit den verschiedenen politischen Parteien und religiösen Gruppen vermittelnd in Kontakt stand. Auf ihm ruhen nun die Hoffnungen der Säkularisten. Diese wünschen, daß er die Situation entschärft und einen Kompromiß findet, ehe Pakistan, das sich bis dato zurückhält, Partei ergreift und damit zur Eskalation beitragen würde.

* Aus: junge Welt, 27. Juni 2008


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