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Massaker am Feiertag

Kasachisches Regime läßt streikende Ölarbeiter von Militär niedermetzeln

Von Tomasz Konicz *

Seit dem vergangenen Freitag, an dem offiziell der 20. Jahrestag der Unabhängigkeit Kasachstans begangen wurde, ist die im Westen des Landes gelegene Ortschaft Schanaosen von der Außenwelt abgeschnitten. Alle Zufahrtsstraßen zu der rund 90000 Einwohner zählenden Ölstadt sind von Polizei- und Militäreinheiten gesperrt, während die Stromversorgung, das Mobilfunknetz und alle Internetanbindungen gekappt wurden. Der autokratisch regierende kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew verhängte den Ausnahmezustand über die Stadt, der mit einer nächtlichen Ausgangssperre und absolutem Versammlungsverbot einhergeht.

Laut Augenzeugenberichten hatten zuvor am vergangenen Freitag (16. Dez.) gegen elf Uhr vormittags Polizeieinheiten einen rund 3000 Personen zählenden Demonstrationszug im Zentrum von Schanaosen angegriffen, obwohl die Teilnehmer friedlich und unbewaffnet waren. Ein Polizeiauto soll dabei in voller Fahrt in die Menschenmenge gerast sein. Bei den daraufhin ausbrechenden Auseinandersetzungen gingen etliche Regierungs- und Firmengebäude in Flammen auf. Die Polizeikräfte in der Stadt wurden von Militäreinheiten verstärkt, die scharfe Munition, Maschinengewehre und gepanzerte Fahrzeuge gegen die unbewaffneten Kundgebungsteilnehmer einsetzten. Gewerkschafter sprachen gegenüber Medienvertretern von 50 bis 150 getöteten Demonstranten, die diesem Massaker zum Opfer gefallen sein sollen, über 500 Menschen seien verletzt worden. Augenzeugen berichteten von Krankenwagenkonvois, die aus der Regionshauptstadt Aktau nach Schanaosen aufgebrochen sein sollen. Die Kliniken in der Region seien »überflutet mit Verletzten«. Das Regime in Astana spricht von elf Toten.

Dieses Massaker bildet den vorläufigen Höhepunkt einer brutalen Repressionskampagne, mit der das Regime Na­sarbajews den Widerstand der kasachischen Ölarbeiter zu brechen versucht. Seit rund sechs Monaten kämpfen in der Region Mangghystau Tausende Beschäftigte um Lohnerhöhungen und bessere Arbeitsbedingungen. Die Betriebsleitung des im Staatsbesitz befindlichen und eng mit chinesischen und westlichen Ölmultis kooperierenden Konzerns KasMunayGas reagierte auf die Streiks zuletzt mit der Entlassung von 2500 Arbeitern. Am 2. August wurde der Gewerkschafter Zhaksylyk Turbaev von unbekannten Tätern ermordet. Die Anwältin der entlassenen Arbeiter, Natalja Sokolowa, wurde unter dem Vorwurf des »Schürens sozialer Konflikte« zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Gegen die sozialistischen Aktivisten und Gewerkschafter Esenbek Ukteschbajew und Ainur Kurmanow nahm die kasachische Justiz Ermittlungen auf, die zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe führen können.

Dennoch scheint die Repression des kasachischen Regimes den Widerstand nicht gebrochen zu haben. Augenzeugenberichten zufolge sollen aus Schanaosen auch am Samstag noch Maschinengewehrsalven und Granateneinschläge zu hören gewesen sein, während in der Stadt immer noch Tausende Arbeiter und Jugendliche protestierten. Mehrere tausend Ölarbeiter im benachbarten Kalamkas sollen ebenfalls in den Ausstand getreten sein. Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und dem Repressionsapparat wurden auch aus der Ortschaft Schetpe gemeldet, wo bei einer Bahnstreckenblockade offiziellen Angaben zufolge ein Demonstrant erschossen und elf weitere verletzt wurden. In Aktau versammelten sich am Sonntag Hunderte Menschen, um gegen das Massaker und die Truppenpräsenz in der Region zu protestieren.

Kasachstan konnte zwar aufgrund seines Rohstoffreichtums in den vergangenen Jahren enorme Wachstumsraten verzeichnen, doch der Großteil der Einkünfte aus den Ölverkäufen geht in die Taschen der Klans im Umfeld von Präsident Nasarbajew. Während diese schmale Herrschaftskaste riesige Vermögen anhäufte, blieb ein Großteil der Arbeiterschaft und Bevölkerung Kasachstans vom Rohstoffboom ausgeschlossen.

* Aus: junge Welt, 19. Dezember 2011


Unruhen in Kasachstan

Polizeieinsatz gegen Ölarbeiter-Proteste

Von Irina Wolkowa, Moskau **


Die Unruhen in Kasachstan dauerten am Sonntag (18. Dez.) an. Mindestens ein Mensch soll getötet worden sein. Im Ort Schetpe im Südwesten des Landes habe eine aufgebrachte Menge eine Bahnlinie blockiert und eine Diesellokomotive in Brand gesetzt, berichteten örtliche Medien gestern.

Die Feierlichkeiten zum 20. Jahrestag der Staatsgründung in der Stadt Zhanaozen im Westen Kasachstans waren am Freitagabend (16. Dez.) offenbar der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Arbeiter staatlicher Ölkonzerne, die seit Monaten für bessere Arbeitsbedingungen und angemessene Bezahlung streiken, und deren Sympathisanten empfanden die Festreden als Hohn, plünderten Geschäfte und steckten öffentliche Gebäude in Brand. Kasachstans Präsident Nursultan Nasarbajew beorderte daraufhin mit Panzerfahrtzeugen ausgerüstete Sondereinheiten der Polizei in die Stadt. Augenzeugen berichten, bis tief in die Nacht seien Schüsse gefallen. Bei den Zusammenstößen soll es nach offizieller Darstellung mindestens zehn Tote und Dutzende Verletztegegebenhaben.

Schon Anfang Mai waren im Gebiet Aktau – vormals Schewtschenko – am Ostufer des Kaspischen Meeres rund 5000 Arbeiter dreier staatlicher Ölfirmen in den Ausstand getreten. Neben verbesserten Arbeitsbedingungen und der Einhaltung elementarster Sicherheitsstandards fordern sie vor allem eine Aufhebung des Verbots für die Tätigkeit von Gewerkschaften in ihren Unternehmen, die sofortige Verdoppelung der Löhne und deren allmähliche Anpassung an das weltweit in der Branche übliche Niveau. Vor Streikbeginn bekamen sie zwar umgerechnet 500 US-Dollar monatlich und lagen damit erheblich über dem Landesdurchschnitt. Überdurchschnittlich teuer sind in der Wüstenregion Aktau allerdings auchdieLebenshaltungskosten.

Schon im Sommer hatten sich Hunderte Beschäftigte aus anderen Branchen mit den Ölarbeitern solidarisiert, gemeinsame Kundgebungen löste die Polizei auf. Allein bei einem Meeting in der Ölstadt Mangistau Mitte Juli, wo sich 60 der zuvor gefeuerten und im Hungerstreik stehenden 900 Ölarbeiter öffentlich mit Benzin übergossen hatten und mit Selbstverbrennung drohten, wurden Dutzende verhaftet. Angehörige und Anwälte haben weder zu ihnen noch zu den im Mai verhafteten Streikführern Zugang.

** Aus: neues deutschland, 19. Dezember 2011


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