"Steppenmeer" in Gefahr
Weil China die Zuflüsse anzapft, droht dem kasachischen Balchasch-See das Schicksal des sterbenden Arals
Von Henryk Alff, Almaty
Mit über 18 000 km² Fläche, etwa 30-mal größer als der Bodensee, gehört der Balchasch zu den größten Seen der Erde. Doch nicht nur seine enorme Ausdehnung inmitten staubtrockener Ebenen fasziniert. Einzigartig ist auch seine Beschaffenheit: Während der westliche Teil aus Süßwasser
besteht, ist der östliche stark salzhaltig. Doch die steigende Wasserentnahme an den Zuflüssen bedroht die Existenz dieses »Steppenmeers«.
Fährt man mit dem Zug durch die kargen Steppen Kasachstans Richtung Norden, taucht er
irgendwann wie eine Fata Morgana am Horizont auf – der Balchasch-See. Viele Kilometer führen die
Gleise entlang seines Ufers. Seine Wasserfläche erstreckt sich so weit das Auge reicht. Fast wähnt
man sich am Meer. Stürmen dann auch noch die fliegenden Händler mit Räucherfisch den Waggon,
ist die Illusion vom Meer mitten in der Steppe perfekt.
In den uralten Legenden der Kasachen wird der See als »Vater Balchasch« verehrt. Doch auch in
der Realität stellt er die Grundlage für ein riesiges Ökosystem dar, das nicht nur Tieren und Pflanzen
einen Lebensraum bietet. Auch etwa drei Millionen Menschen, etwa ein Fünftel der Bevölkerung
Kasachstans, sind vom Wasser des Sees und seiner Zuflüsse abhängig.
Andererseits greift der Mensch aktiv in den Wasserhaushalt des Gewässers ein. Besonders der
Durst von Landwirtschaft und Industrie bestimmt die Entwicklung des Balchasch. Schon in den 70er
Jahren führte der Bau von Staudämmen an den Zuflüssen des Sees zum Absinken des ohnehin
niedrigen Wasserspiegels. Erinnerungen an das Schicksal des sterbenden Aral-See an der Grenze
zu Usbekistan kommen auf. Die Intensivierung des Baumwoll-Anbaus in Mittelasien in den 50er
Jahren und die damit verbundene massive Wasserentnahme aus den Zuflüssen des Arals haben
den einst viertgrößten See der Erde an den Rand der Austrocknung gebracht. Heute umfasst der
Aral nur noch ein Drittel seiner ursprünglichen Fläche und ein Viertel seines Volumens. Das Klima
der gesamten Region ist aus dem Gleichgewicht geraten. Stürme tragen Sand, Salze und Pestizide
vom frei gelegten Seeboden aus Hunderte Kilometer weit ins Land. Eine erhöhte Kindersterblichkeit
und herabgesetzte Lebenserwartung lassen sich deshalb auch noch in großer Entfernung zum
früheren See nachweisen.
Ein solch düsteres Szenario ist dem Balchasch-See noch erspart geblieben. Doch Wissenschaftler
und Umweltschützer warnen entschieden vor möglichen Folgen des ständig steigenden
Wasserverbrauchs in Kasachstan. »Von der Katastrophe am Aral-See sind Hunderttausende
Menschen betroffen«, betont Mels Eleusizow von der Umweltbewegung »Tabirat« (zu deutsch:
Natur). »Das drohende Verschwinden des Balchasch allerdings würde eine Region mit Millionen von
Menschen ins ökologische Chaos stürzen.«
Anlässlich der zweiten Konferenz zur Situation des Balchasch-Sees, die Anfang Oktober in der
kasachischen Stadt Almaty stattfand, wurde auch der grenzüberschreitende Charakter der
Balchasch-Frage unterstrichen. Denn der Ili-Fluss, der wichtigste Zufluss des Balchasch, entspringt
auf chinesischem Territorium. Im Reich der Mitte hat man den Wert der Ressource Wasser erkannt
– und den Reichtum, den der Ili spendet, fest in die Aufbaupläne für die rückständige Grenzprovinz
Xinjiang integriert. Schon jetzt zweige China einen enormen Teil des Flusswassers für
Bewässerungsprojekte ab, kritisiert Mels Eleusizow, der sich seit mehreren Jahrzehnten mit den
Wasserproblemen in Zentralasien beschäftigt. »Wenn die Führung in Peking weiterhin im großen Stil
Staudämme bauen lässt und wie geplant Millionen von Menschen im Ili-Tal ansiedelt, könnte es
schon in wenigen Jahren zu spät sein für den Balchasch«, so der besorgte Umweltschützer.
Noch herrscht Ruhe und Frieden über dem Balchasch. Der Seespiegel unterliegt von Natur aus
zyklischen Schwankungen und hat im Laufe des 20. Jahrhunderts mehrere Hochs und Tiefs erlebt.
»Seit 1998 ist der Wasserstand des Sees sogar um mehr als zwei Meter gestiegen und bewegt sich
weiter auf stabilem Niveau«, macht der Hydrologe Abaj Tursunow deutlich. Dies könne sich, so
räumt Tursunow ein, jedoch mittelfristig ändern, denn Prognosen seien nur sehr schwer zu treffen.
»Die Forschung ist einfach noch nicht weit genug.«
Vertreter der Zivilgesellschaft warnen mit Blick auf den verschwindenden Aral-See indes vor einer
Bagatellisierung des Problems. »Wir können uns nicht leisten, die Lösung der Balchasch-Frage auf
die lange Bank zu schieben. Wir brauchen so schnell wie möglich wissenschaftlich fundierte
Grundlagen«, meint Umweltschützer Mels Eleusizow. Daran sollte sich das Rettungsprogramm für
das Gewässer orientieren.
Ein Papier zur nachhaltigen Entwicklung der Region, das nicht nur die Wasserknappheit, sondern
auch die Wasserverschmutzung und die bedrohte biologische Vielfalt am Balchasch anspricht, hat
das kasachische Umweltministerium bereits in aller Eile vorgelegt. Zu unausgegoren, unvollständig
und schlecht finanziert seien die darin aufgezählten Handlungsvorschläge, kritisieren
Bürgervereinigungen. »Wir müssen jetzt sinnvolle Lösungen finden, die« so Mels Eleusizow, »von
allen beteiligten Akteuren auf nationalem und internationalem Level getragen werden. Das schließt
ernsthafte Verhandlungen mit der chinesischen Führung mit ein.«
Wie im Fall des Aralsees scheitern bilaterale Regelungen um den Balchasch bisher an der
fehlenden Bereitschaft zur Kooperation. Kurzfristige Ziele, wie schnelles wirtschaftliches Wachstum
oder auch nur eine gesicherte Baumwollernte, haben Priorität gegenüber der Erhaltung natürlicher
Ressourcen wie dem in Zentralasien so kostbaren Wasser. Werden diese Denkmuster nicht
aufgegeben, droht dem Balchasch das Schlimmste. Und in wenigen Jahrzehnten wird anstatt des
unendlichen Sees nur eine Fata Morgana inmitten der weiten Steppe bleiben.
* Aus: Neues Deutschland, 1. November 2005
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