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Zwei Mal Nowo Iljinowka

Wiedersehen mit einem Dorf im Norden Kasachstans

Von Maya Kristin Schönfelder *

Eisiger Steppenwind fegte durch die Straßen von Nowo Iljinowka, einem 4000-Seelen-Nest im Norden Kasachstans. Der Frühsommer in diesem Jahr war ungewöhnlich kalt. Seit den schweren Gewittern gleich nach dem Winterfrost waren die alten Bauern im Dorf sicher: In diesem Jahr wird das nichts mit der Ernte in Kasachstan. Doch ernsthafte Sorgen schien sich deshalb niemand zu machen. Als existenziell bedrohlich wurde ein Ernteausfall offenbar nicht angesehen.

In den 90er Jahren wurden am Kaspischen Meer und unter der kasachischen Steppe die größten Erdöllagerstätten der vergangenen 30 Jahre gefunden. Das Land scheint auf Öl und Gas fast zu schwimmen. Dank des Exports liegt Kasachstans Bruttoinlandsprodukt mehrfach über dem der Nachbarstaaten. Zwar heißt es immer wieder, der »Führer der Nation«, Langzeitpräsident Nursultan Nasarbajew, »privatisiere« einen Großteil der Erlöse oder stecke sie in Vorzeigeobjekte wie die neue Hauptstadt Astana, wovon ein Großteil der Bevölkerung nichts habe – doch in Nowo Iljinowka stellt sich das etwas anders dar. Gewiss auch dank seiner Allgegenwart in den Medien, in denen der 71-Jährige als rastloser, gerechter Landesvater dargestellt wird, genießt der im Westen und von einheimischen Gegnern gern als Diktator betitelte Nasarbajew auf dem Lande hohes Ansehen.

1994 – jenseits der Zivilisation

An einem bitterkalten Tag vor 17 Jahren kam ich zum ersten Mal nach Nowo Iljinowka, als Deutschlehrerin. Das Dorf im Gebiet Kostanay lag zu jener Zeit nach dem Zerfall der Sowjetunion jenseits der europäischen Zivilisation: Es gab kein fließend Wasser, kein Benzin und nur zwei Stunden Strom am Tag. Der einzige Laden im Ort öffnete nur, wenn sich das Auto mit der Brotlieferung von der Bahntrasse den Weg durch die verschneite Steppe bahnen konnte. Die Republik Kasachstan, ausgerufen 1991, siechte vor sich hin. Seife, Waschpulver, Zahncreme, Fernseher, Schuhe – alles Mangelware, selbst auf dem Schwarzmarkt. Für die neue Landeswährung Tenge gab es in den Geschäften so gut wie nichts zu kaufen. Es hätte ohnehin niemand viel kaufen können, denn Löhne und Renten wurden damals mit ein bis zwei Jahren Verspätung ausgezahlt. Abzüglich der Inflation reichte ein Jahreslohn kaum für mehr als eine Zugfahrkarte. Statt Geld erhielten Lehrer Mehl, Zucker, Kekse oder Nudeln im 25-Kilo-Sack. Fabrikarbeiter wurden je nach Produktionspalette mit Toilettenpapier, Glühbirnen oder Dichtungsringen entlohnt.

Bis vor zwei Jahrzehnten lebten in Nowo Iljinowka hauptsächlich deutsche Siedler, die Stalin nach dem Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion von der Wolga und der Krim nach Kasachstan verschleppen ließ – unter dem Generalverdacht, dass sie sich möglicherweise als Kollaborateure der Besatzer erweisen würden. Mit Beginn der Perestroika suchten viele von ihnen den Weg zurück in die »historische Heimat«. Meinem ursprünglichen Auftrag, an der Mittelschule von Nowo Iljinowka den Deutschen im Ort Unterricht in ihrer Muttersprache zu erteilen, konnte ich deshalb kaum noch nachkommen.

Nur etwa zwei Dutzend deutschstämmige Familien waren 1994 noch nicht ausgereist. Und die noch da waren, saßen auf gepackten Koffern. Für die deutsche Sprache interessierte sich niemand. Die Lernbedingungen waren auch alles andere als motivierend. Die Schule wurde nicht beheizt, Wasser gab es genauso wenig wie Papier, Kreide oder Bücher. Jeden Morgen brachte ich von zu Hause einen feuchten Tafellappen mit.

Alija Faisollowna Baikanowa, die heute die Mittelschule von Nowo Iljinowka leitet, kann sich solche Zustände nur noch schwer vorstellen. Das Gebäude wurde vor fünf Jahren gründlich modernisiert, sogar Duschen gibt es jetzt im Haus. Die 40-Jährige ist sichtlich stolz darauf, wie sich Kasachstan und auch ihre Schule im zwanzigsten Jahr der Unabhängigkeit verändert haben. »Wir besitzen zwei vollständig ausgestattete interaktive Fachkabinette, jedes Klassenzimmer ist mit Breitband-Internetanschluss und Computern ausgestattet, im Schnitt steht jeweils vier Schülern ein Computer zur Verfügung. Für ein Entwicklungsland nicht schlecht, oder?«

Ein kluger Kopf reicht oft nicht aus

Frau Baikanowa weiß, dass es bei einer Einwohnerzahl von nur 15 Millionen in Kasachstan nicht nur auf Technik, sondern auch darauf ankommt, was im offiziellen Sprachgebrauch »Einheit der Völker« heißt. Die wurde von Präsident Nasarbajew sogar mit einem eigenen Feiertag bedacht. Aus gutem Grund, denn nicht nur die Deutschen sind aus Nowo Iljinowka ausgewandert. Das einstige Vielvölkerdorf hat seit Anfang der 90er Jahre 80 Prozent seiner ursprünglichen Einwohner verloren. In die Häuser der Russen, Juden, Armenier, Aserbaidshaner, Polen, Deutschen sind umgesiedelte Kasachen aus China und der Mongolei eingezogen. »Ein echtes Problem«, sagt die Kasachin Baikanowa. Die meisten der Neuankömmlinge sprechen ausschließlich kasachisch. Für sie wurde in der Schule ein kasachischsprachiger Zweig eingerichtet. Zu wenig, finden dennoch manche, die sich als Angehörige der Titularnation als die Herren im Hause fühlen und jede Gelegenheit nutzen, sich mit den russischsprachigen Schülern anzulegen. »Das kann ich im Interesse meines Landes nicht dulden«, empört sich Alija Faisollowna. Schließlich brauche Kasachstan jeden klugen Kopf, das betone auch der Präsident immer wieder.

Dass ein kluger Kopf in aller Regel nicht ausreicht, um im unabhängigen Kasachstan als Nicht-Kasache in der ersten Reihe zu stehen, ist jedoch ein offenes Geheimnis. So macht sich Mathematiklehrerin Jelena Smetanina mit ihrer russischen Abstammung nicht allzu viele Illusionen, dass sich ihr Traum von einer Berufung zur Schuldirektorin bald erfüllen wird. Das nahe Russland ist für die 34-Jährige dennoch keine Alternative. »Kasachstan ist meine Heimat.« Mehrere russische Familie aus Nowo Iljinowka, die nach dem Ende der Sowjetunion aus Furcht vor Bürgerkrieg und Repressalien nach Russland geflüchtet waren, seien inzwischen nach Kasachstan zurückgekehrt. »Wir Orientrussen sind einfach ganz anders als die Menschen in Russland«, erklärt Jelena Smetanina. »Vom Lebensstandard der einfachen Leute ganz abgesehen.«

So sei es in Nowo Iljinowka für jüngere Menschen inzwischen selbstverständlich, auch zu Hause über einen Computer zu verfügen und den Internetanschluss vom laufenden Gehalt bezahlen zu können. »Auch wenn wir am Ende der Welt leben, können wir so Verbindung zur Außenwelt halten. Ich persönlich kann mir mein Leben ohne soziale Netzwerke nicht mehr vorstellen.«

Auch Smetaninas Mutter Natalja Powshik besitzt einen Computer: »Selbstverständlich, wie sollte ich sonst meine Arbeit erledigen?« Sie arbeitet seit 40 Jahren an der Mittelschule von Nowo Iljinowka, mehr als die Hälfte davon als stellvertretende Schulleiterin. Vor 17 Jahren wurden Ferngespräche noch über das Fräulein vom Amt vermittelt. Die Wartezeit auf ein Telefonat nach Deutschland betrug eine Woche, die zugeteilte feste Sprechzeit ganze fünf Minuten. Heute versendet Natalja Powshik sämtliche Akten per E-Mail an die Schulbehörde in der Kreisstadt und regelt Änderungen im Stundenplan per SMS.

Dass man im Ausland das Wirken Nasarbajews skeptisch betrachtet, lässt die dreifache Mutter und vierfache Großmutter den Kopf schütteln. »Unser Leben hat sich um Lichtjahre verbessert, wie kann ich da mit dem Präsidenten nicht zufrieden sein?« Stolz zeigt sie auf ihre nagelneue Küche mit Gefrierkombination, Heißwasserbereiter und Mikrowelle. Vor 17 Jahren bestand die Küche aus einem Holzofen, der gleichzeitig zum Heizen und zum Kochen diente. Die Powshiks gaben mir damals in ihrem Haus Quartier. Kartoffeln, Zwiebeln und Kohl bildeten die Grundlage unserer gemeinsamen Abendessen. Selbst für »harte Währung« konnte man im Umkreis von 100 Kilometern kein Fleisch kaufen. Inzwischen halten ein halbes Dutzend Läden in Nowo Iljinowka auch Tiefkühlpelmenis und Gewächshausgemüse für ihre Kundschaft bereit.

Die Kühe sind längst verkauft

Ihre Kühe, in den 90er Jahren überlebensnotwendig, hat die Familie längst verkauft, der Aufwand lohnt sich einfach nicht. »Was wir brauchen, können wir uns von unseren zwei Gehältern kaufen. Lieber verbringe ich mehr Zeit mit meinen Kindern und Enkeln«, sagt Natalja Iwanowna.

Im September wird sie mit 58 Jahren in Rente gehen. Sie hofft, dann endlich die Gelegenheit zu haben, ihre Verwandten in Moskau ganz ohne Internet-Telefonie wiederzusehen. Leisten könne sie sich die Reise trotz Rente – dank Nasarbajew – allemal.

* Aus: Neues Deutschland, 12. August 2011


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