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Hoffnung am Kleinen Aral

Am kasachischen Ufer des geschrumpften Meeres glaubt man wieder an die Zukunft

Von Detlef D. Pries *

Die Austrocknung des Aralsees, einst viertgrößter Binnensee der Erde, gilt als eine der größten von Menschen verursachten Umweltkatastrophen - ein zentralasiatisches Tschernobyl. Im nördlichen, kasachischen Teil des Katastrophengebiets glaubt man jedoch eine Lösung gefunden zu haben.

Rauschend und schäumend schießt das Wasser durch die Überläufe des Kokaral-Damms. Ein Anblick, der glauben machen könnte, dass es in diesem Landstrich Wasser im Überfluss gibt. »Wartet, ich zeige euch das Interessanteste«, sagt Kolbai Danabajew, Vize-Akim des Rayons Aralsk, und führt die Besucher an den Fuß der Betonsperre, die Teil des 13 Kilometer langen Damms ist. In der Tiefe wimmelt es von Jungfischen, auch einige größere Exemplare tummeln sich in dem riesigen Schwarm. Von der unwiderstehlichen Strömung über das Sperrwerk gespült, streben sie vergebens zurück ins Oberwasser. »Die sind verloren«, bedauert Danabajew. Zwar werfen die Fischer aus Karateren, 20 Kilometer entfernt, regelmäßig ihre Netze auch unterhalb des Damms aus, aber was ihnen durch die Maschen schlüpft, hat keine Überlebenschance. Denn das Wasser, das im weiten Bogen unseren Blicken entschwindet, verdunstet und versickert in der wüstenartigen Landschaft, die einst den Grund des Großen Aralsees bildete. Den usbekischen Teil des Gewässers erreicht es nie.

Durchtrennte Lebensadern

Vom Leben und Leiden an einem »Sterbenden See« schrieb der kasachische Schriftsteller Abdishamil Nurpeissow, selbst Sohn einer Fischerfamilie aus einem Aul auf der früheren Insel Kokaral, in seinem gleichnamigen Roman. Von der Unvernunft der Menschen, die dem einst viertgrößten Binnensee der Erde die Lebensadern durchtrennten, indem sie seine beiden Zuflüsse - Amu-Darja und Syr-Darja - in Talsperren und Kanäle, auf Baumwoll- und Reisfelder leiteten. Seit Beginn der 60er Jahre ist die Oberfläche des Sees auf 17 Prozent ihrer ursprünglichen Größe geschrumpft, die Wassermenge gar auf neun Prozent. In heißen Sommern zeigen Satellitenfotos nur noch drei voneinander getrennte Gewässer: den Kleinen Aral im Norden, eine schmale Rinne im Westen des Großen Arals, deren Salzgehalt sich dem des Toten Meeres nähert, und die frühere Bucht von Tschebas, heute Tschebas-Kul genannt.

Wo der See zurücktrat, blieb eine weiße Schicht aus Salz und Pestizidrückständen liegen, die vom Wind über hunderte Kilometer verweht wird und die Luft, das Trinkwasser, den Boden, das Vieh und schließlich auch die Menschen vergiftete. Kinder- und Müttersterblichkeit nahmen zu, ebenso wie Augenerkrankungen, Tuberkulose, Hepatitis und Krebs. Wer immer konnte, der verließ das Notstandsgebiet, ganze Fischerdörfer starben aus.

Die Siedlung Karateren, erklärt Kudabai Schijenbajew, zählte 1972 immerhin 4000 Einwohner, 1990 waren es nur noch 1500. Als Kudabai 1996 das Amt des Akims, des Dorfvorstehers, übernahm, war er 29 Jahre alt. Die Älteren hatten damals längst alle Hoffnungen verloren: Der Fischfang brachte seit Mitte der 80er Jahre keinen Ertrag mehr. Das Wort »Akim«, das in Kasachstan die Verwaltungschefs aller Ebenen bezeichnet, war ihnen ein Synonym für »Lügner«. Denn deren Beteuerungen, es werde irgendwann besser, hatten sich stets als leere Versprechungen erwiesen.

Erst der dritte Damm hält stand

Zwischen dem Nord- und dem Südteil des Sees war durch den Rückgang des Wassers eine Schwelle aufgetaucht. Nur 12 Kilometer trennten die zur Halbinsel gewordene Insel Kokaral vom östlichen Seeufer unweit der Mündung des Syr-Darja. Was sich aus dem Fluss noch in den See ergoss, floss über die Schwelle unablässig gen Süden, ohne das Schwinden des Meeres verhindern zu können. Kudabai Schijenbajew schreibt die Idee einheimischen Journalisten zu: Durch einen Damm könne der Abfluss des Wassers gestoppt und wenigstens der Kleine Aral im Norden gerettet werden. Ein erster spontaner Versuch der Anwohner, mit primitiven Mitteln einen solchen Damm aufzuschütten, scheiterte Anfang der 90er Jahre. 1996 - inzwischen waren auch die Verwaltungschefs von Gebiet und Rayon auf der Seite der Dörfler - unternahm man einen zweiten Anlauf. Alle verfügbare Technik wurde zusammengezogen, selbst aus dem 120 Kilometer entfernt liegenden Aralsk kamen freiwillige Helfer, die von den Bewohnern des Auls beherbergt und verköstigt wurden. Am schwierigsten sei es gewesen, die letzte Lücke in dem zwei bis drei Meter hohen Damm aus Sand und Steinen zu schließen. Kudabai erinnert sich: Im Juli 1996 war es, als eng aneinander gedrängte Menschen das Wasser mit ihren Leibern zurückzuhalten versuchten, während andere Steine, Schrott und alles, was zur Befestigung geeignet schien, in die Bresche stopften.

Freilich lag dem Bau damals kein ingenieurtechnisch ausgereiftes Projekt zugrunde. Dennoch bewirkte der primitive Damm, dass der Wasserspiegel im Norden stieg. Trockengefallener Seegrund wurde wieder überflutet, die Umweltbelastung sank, das Mikroklima verbesserte sich, Hoffnung machte sich in den Fischersiedlungen breit. Bis zu jener Sturmnacht im Frühjahr 1999, als das aufgepeitschte Wasser den primitiven Damm durchbrach und die Mühen der Erbauer zunichte machte. Immerhin hatten sie bewiesen, dass man der Katastrophe nicht ohnmächtig zusehen musste.

Im Oktober 2001 schloss Kasachstan mit der Weltbank ein Abkommen über die Finanzierung eines Projekts mit dem langen Titel »Regulierung des Syr-Darja-Laufes und Erhaltung des nördlichen Teils des Aralsees«. Insgesamt 86 Millionen Dollar wurden zur Verfügung gestellt, um Stauwerke auf dem kasachischen Abschnitt des Flusses zu erneuern, Deiche anzulegen, den Syr-Darja zu entschlammen und zu begradigen.

Auffälligster Teil des Projekts ist jedoch der neue Kokaral-Damm, professionell entworfen und angelegt. Im November 2005 war der Bau vollendet, schon im März des folgenden Jahres war der Spiegel des Kleinen Aral um rund vier Meter gestiegen, wofür ursprünglich zwei bis drei Jahre berechnet worden waren. Die Fläche des Sees wuchs um 634 Quadratkilometer, das Wasser, das im Jahre 2000 fast 150 Kilometer von der einstigen Hafenstadt Aralsk zurückgewichen war, ist wieder bis auf 20 Kilometer herangerückt. Fischarten, die wegen der zunehmenden Versalzung des Sees ausgestorben waren, sind zurückgekehrt. Denn mit dem überschüssigen Wasser, das über das Sperrwerk fließt, wird auch Salz aus dem Kleinen Aral gespült. Ein Fischaufzuchtbetrieb in der Siedlung Kosshar unweit des Sees zieht jährlich 13 Millionen Setzfische für den See heran. In einem Versuchsteich im nahen Aul Tastak schwimmen gar schon Störe. In guten Jahren fischte man einst 100 Tonnen davon aus dem Aral, doch die letzten Exemplare wurden 1975 im See gefangen. Noch ist das Wasser des Kleinen Arals für Störe zu salzig, doch in ein paar Jahren... Schon jetzt wird Fisch aus dem See wieder nach Russland, Georgien und in die Ukraine exportiert.

Mit dem See kehren die Menschen zurück

Kudabai Schijenbajew, der Akim von Karateren, ist froh, dass er heute, als Mittvierziger und Vater von vier Töchtern, nicht als Lügner dasteht. Es sei schwer gewesen, die Leute vom Sinn der Arbeit zu überzeugen, doch nun glaubten sie wieder an die Zukunft. Etwa zehn Familien, die das Dorf verlassen hatten, sind nach Karateren zurückgekehrt. Neue Häuser entstehen in dem Aul, der von der Landkarte zu verschwinden drohte.

Derweil werden in Aralsk, in der Gebietshauptstadt Kysyl-Orda, in Almaty und Kasachstans Hauptstadt Astana neue Projekte beraten. Der Pegel des Kleinen Aral, gegenwärtig 42 Meter über dem Meeresspiegel, soll weiter angehoben werden. In Kysyl-Orda wünscht man sich eine Erhöhung des Kokaral-Damms um acht Meter. Dadurch würde Aralsk wieder zur Hafenstadt. Sagit Ibatullin, der dem Exekutivkomitee des Internationalen Fonds zur Rettung des Aralsees (IFAS) mit Sitz in Almaty vorsitzt, legt jedoch Berechnungen vor, wonach es 56 Jahre dauern würde, bis der vergrößerte See die 50-Meter-Marke erreicht. Ibatullin favorisiert den Bau eines zweiten Damms mit einer Schifffahrtsschleuse vor der Bucht von Aralsk und die Umleitung eines Teils des Syr-Darjas in diese Bucht. Das würde weniger Wasser brauchen.

Denn das bleibt nach wie vor kostbar. »Ohne Bewässerung ist Landwirtschaft in unserer Region nicht möglich«, erläutert der Wasserbauexperte, der zu Zeiten der Sowjetunion an einem der großen Moskauer Institute tätig war. Durch sparsame Bewässerungsmethoden, die Senkung von Verlusten und den Anbau weniger durstiger Kulturen könne man allenfalls den zunehmenden Bedarf ausgleichen, den das Bevölkerungswachstum mit sich bringe. Im Gebiet des Aralsees und seiner Zuflüsse lebten 1960 nur 14 Millionen Menschen, inzwischen sind es fast 50 Millionen.

Fünf Staaten mit eigenen Interessen

Der Rettungsfonds IFAS wurde 1993 von den Staatsoberhäuptern der fünf zentralasiatischen Staaten Kasachstan, Usbekistan, Kirgistan, Tadshikistan und Turkmenistan gegründet. Die einen - Kirgisen und Tadshiken - sitzen an den Quellen der Aral-Zuflüsse und leiten das Wasser zwecks Energieerzeugung vorzugsweise im Winter über die Turbinen ihrer Kraftwerke. Zur Unzeit für Turkmenen, Usbeken und Kasachen, die ihre Felder im Frühjahr und im Sommer bewässern müssen. Was einst in Moskau reguliert wurde, bedarf heute der Absprache unter fünf souveränen Staaten, deren Interessen jedoch häufig nicht übereinstimmen. Usbeken beklagen den Dammbau in Kasachstan als Ausdruck nationalen Eigennutzes. Dem halten die Kasachen entgegen, dass aus dem Amu-Darja, der einst dreimal so viel Wasser wie der Syr-Darja führte, schon seit sechs, sieben Jahren kein Tropfen mehr in den See fließt. Aus dem Süden also wolle man keine Vorwürfe hören. Der Große Aral sei ohnehin nicht mehr zu retten. Dazu hätte es der zu sowjetischen Zeiten geplanten Umleitung von Wasser aus Sibirien bedurft, sagt Sagit Ibatullin, der die einschlägigen Projekte kennt und sich noch heute erregt, wenn er an die seiner Meinung nach »künstlich geschürte Psychose« denkt, die sie seinerzeit auslösten. »Als hätten wir alle sibirischen Flüsse nach Süden umleiten wollen. Es ging um ganze 10 Prozent des Wassers vom Ob!«, erläutert er. Letztlich sei das Projekt jedoch am Defizit in der sowjetischen Stahlbilanz gescheitert. »Es floss doch alles in die Rüstungsindustrie, da reichte es nicht für Bagger und Stahlrohre.«

Kasachstans Präsident Nursultan Nasarbajew aber hat seinen russischen Kollegen Dmitri Medwedjew erst jüngst wieder darauf angesprochen. Und Medwedjew habe nicht sofort nein gesagt, was Ibatullin als gutes Zeichen wertet. Allerdings war von der Trinkwasserversorgung Zentralasiens die Rede. Fraglich, ob davon Hilfe für den Aral zu erwarten wäre.

»In Usbekistan wird auf dem früheren Seegrund inzwischen nach Öl und Gas gebohrt. Vielleicht sind die Usbeken gar nicht mehr am Aral interessiert und wollen ihre Probleme auf andere Weise lösen«, gibt Sagit Ibatullin zu bedenken.

* Aus: Neues Deutschland, 23. September 2010


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