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Kanada muss schon wieder wählen

Nach dem vierten Urnengang in sieben Jahren könnte erstmals eine Koalition regieren

Von Olaf Standke *

Zum vierten Mal in kaum sieben Jahren müssen die Kanadier heute wieder eine neue Regierung bestimmen. Und erstmals könnte eine Koalition das zweitgrößte Land der Erde mit nur 33 Millionen Einwohnern regieren.

Popstar Nelly Furtado hat jetzt in einem Video auf YouTube bekannt, früher ein Dummkopf gewesen zu sein, denn sie sei nicht zur Wahl gegangen. »Ich dachte, ich bin zwar Kanadierin, aber wie langweilig. Ich weiß nicht, was ich wählen soll.« Doch das habe sich geändert, und es fühle sich gut an, auch durch politische Stimmabgabe »Teil dieses großartigen Landes zu sein«. Deshalb sollten ihre Landsleute heute an die Wahlurnen strömen. Aber wen wählen?

Vier Parteien sind derzeit im Parlament vertreten. Die regierende Konservative Partei gibt es erst seit 2003. Stephen Harper, einst Vorsitzender der Kanadischen Allianz, hatte die Fusion mit der Progressiv-Konservativen Partei vorangetrieben, um die rechten Kräfte Kanadas zu bündeln. Mit Erfolg: Seit fünf Jahren ist der 51-Jährige Premierminister.

Traditioneller Gegenspieler ist die Liberale Partei, die einzige, die schon seit der Staatsgründung 1867 existiert. Keine hat Kanada häufiger regiert. Wobei sich die Liberalen inzwischen als verkappte Sozialdemokraten präsentieren. Ihr Spitzenmann Michael Ignatieff (63) ist ein politischer Seiteneinsteiger, war Geschichtsprofessor in Cambridge, Oxford und Harvard und mit einem seiner Romane für den renommierten Booker-Preis nominiert. Sozialdemokratisch ausgerichtet ist auch der Bloc Québecois, die wichtigste politische Kraft der Frankokanadier, die aber nur in Québec antritt und auf Landesebene bei zehn Prozent liegt. Für kanadische Verhältnisse weit links positioniert sich die 1961 gegründete Neue Demokratische Partei (NDP), die sich für soziale Ziele, für Gleichberechtigung, Mindestlohn, aber auch für die Legalisierung von Marihuana stark macht.

Seit 2004 konnte sich keine Regierung in Ottawa mehr auf eine absolute Mehrheit im Parlament stützen. Auch die Konservativen, die vor drei Jahren auf 38 Prozent kamen, mussten sich vor jedem Votum die notwendigen Stimmen hinzusuchen. Im März dann scheiterten sie mit ihrem Haushaltsentwurf. Die Opposition warf der Regierung vor, Informationen zum geplanten Kauf von Kampfflugzeugen und zu den Kosten neuer Gesetze zur Verbrechensbekämpfung verheimlicht zu haben und stimmte in einem Misstrauensvotum geschlossen gegen Harper.

Lange schien es so, als steuerte der auf einen klaren Sieg bei den Neuwahlen zu. Manche Umfragen ließen die Konservativen sogar von der absoluten Mehrheit träumen, zumal sie das Land trotz eines Anstiegs der Arbeitslosigkeit von sechs auf acht Prozent relativ gut durch die Wirtschafts- und Finanzkrise manövriert hatten. Doch zuletzt legte überraschend die NDP stark zu und pendelte zwischen 28 und 30 Prozent. Die Konservativen schrumpften in den Umfragen auf 35, die Liberalen sogar auf 22 bis 24 Prozent. Der eloquente NDP-Chef Jack Layton, der trotz einer Krebsbehandlung und einer Hüftoperation energisch und optimistisch auftritt, gilt als Sieger der beiden großen Wahlkampfdebatten im Fernsehen – und musste sich prompt den Vorwurf gefallen lassen, die Umsetzung seiner populistischen Verheißungen würde die Staatsverschuldung dramatisch in die Höhe treiben.

So wurde etwa heftig über eine Reform des Gesundheitssystems gestritten. Umweltthemen bis hin zur Kernkraftfrage spielten im Gründungsland von Greenpeace dagegen kaum eine Rolle. Elizabeth May, die Spitzenkandidatin der Green Party, war erst gar nicht zur Elefantenrunde zugelassen, weil die Grünen trotz einer Million Stimmen beim letzen Urnengang nicht im Parlament vertreten sind.

Die Neuen Demokraten konnten nach Einschätzung der Demoskopen zuletzt vor allem auch die »Bloc«-Übermacht in Wahlkreisen Québecs brechen. Traditionell wählen die Westprovinzen British Columbia und Alberta rechts, während in den östlichen Provinzen Ontario und Québec linke Parteien bevorzugt werden. Doch sind Voraussagen nach Meinung von politischen Beobachtern letztlich schwierig, weil durch das herrschende Mehrheitswahlrecht ohne Parteilisten schon geringfügige Änderungen in Wahlkreisen das Bild erheblich verändern können. Manches spricht für eine Koalition.

* Aus: Neues Deutschland, 2. Mai 2011


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