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Rechts vom Mainstream

Kanadische Konservative können nach Sieg bei Parlamentswahlen allein regieren. Sozialdemokratische NDP stärkste Oppositionskraft

Von Sam Putinja und Ingar Solty, Toronto *

Wenn in Kanada gewählt wird, geht das in der Regel an den meisten internationalen Beobachtern vorbei. Viele würden sogar sagen, es geht an den meisten Kanadiern vorbei. Jedenfalls scheint die seit 1988 sinkende Wahlbeteiligung diesen Eindruck zu bestätigen. Und auch bei den am Montag (2. Mai) abgehaltenen, vorgezogenen Parlamentswahlen blieb das Interesse der Kanadier begrenzt. Letzten Angaben zufolge gingen lediglich knapp 60 Prozent der Stimmberechtigten in die Lokale. Darin liegt der Grund, daß die Konservativen um Ministerpräsident Stephen Harper mit nur knapp 24 Prozent der Stimmen aller Wahlberechtigten rund 54 Prozent und 167 der 308 Parlamentssitze in der Hauptstadt Ottawa einnehmen werden.

Die große Überraschung ist jedoch die kleine sozialdemokratische New Democratic Party (NDP). Sie konnte die Zahl ihrer Mandate im Vergleich zu den Unterhauswahlen von 2008 annähernd verdreifachen und ist mit 102 Sitzen erstmals stärkste Oppositionskraft. Ursächlich für den Erfolg ist vor allem deren Kandidat, der volksnahe Politikprofessor Jack Layton.

Die Konservativen haben zudem wieder vom politischen Wahlsystem Kanadas profitiert, einem Mehrheitswahlrecht nach britischem Vorbild. Während sich links von ihnen zahlreiche politische Parteien die Stimmen streitig machen, sind die Konservativen nach ihrer Verschmelzung mit der rechtspopulistischen Reformpartei zu Beginn des Jahrtausends die einzige Kraft auf der politischen Rechten.

Das zeigte sich etwa in den Provinzen British Columbia und Ontario, wo sich die Liberalen, NDP und die Grünen ins Gehege kamen. In der Metropolregion um die kanadische Hauptstadt Toronto in Ontario, wo rund ein Sechstel der kanadischen Bevölkerung lebt, kamen die drei Parteien besonders durch Erfolge in den migrantisch-proletarisch geprägten Vorstädten gemeinsam zwar auf klare Mehrheiten. Die Parlamentssitze holten jedoch die Konservativen.

Der große Verlierer der Wahlen ist die Liberale Partei, die auf lediglich 19 Prozent der Stimmen und 34 Parlamentssitze kam. Diese Niederlage gilt schon jetzt als historisch und dürfte das politische System Kanadas für längere Zeit grundlegend verändern. Seit 1867 haben die Liberalen das politische Geschehen weitestgehend bestimmt. Während des 20. Jahrhunderts stellten sie beinahe 70 Jahre lang die Regierung, den Rest der Zeit führten sie die Opposition. Seit Montag nacht scheint diese Ausnahmestellung Geschichte zu sein: Unter der Führung des Menschenrechtskriegers, Schriftstellers und früheren Harvard-Professors Michael Ignatieff haben sie sogar gegenüber dem schlechten Ergebnis von 2008 noch sechs Prozentpunkte eingebüßt.

Noch dramatischer waren nur die Einbrüche des separatistisch-sozialdemokratischen Bloc Quebecois, der seit rund 20 Jahren die frankokanadische Provinz Quebec dominiert. Sein Stimmenanteil halbierte sich auf knapp sechs Prozent. Sogar Parteichef Gilles Duceppe konnte seinen Sitz nicht verteidigen und trat zurück.

Profitiert von der Talfahrt beider Parteien hat vor allem die NDP. Im Gegensatz zu vielen europäischen Sozialdemokraten ist diese ihren Wurzeln einigermaßen treu geblieben. Einen »Dritten Weg« hat es bei ihr Ende der 90er Jahre trotz eines kurzen Flirts der damaligen Parteivorsitzenden Alexa McDonough nicht gegeben. Bis heute hat sie feste Quoten für die Gewerkschaften in ihren Gremien und dient aufgrund des Fehlens an sozialistischen und kommunistischen Alternativen als Auffangbecken für viele Linke.

Der alte und neue Ministerpräsident Harper verfügt erstmalig seit seinem Amtsantritt 2006 über eine absolute Mehrheit, um seine zentralen Vorhaben durchzusetzen. Dazu gehören neben einer strikten Austeritätspolitik und Muskelspiel in der Verbrechensbekämpfung vor allem die Abschaffung der staatlichen Parteienfinanzierung, die besonders zu Lasten der Liberalen ausfallen wird. Ob die Krise als Vorwand für einen Frontalangriff auf den öffentlichen Sektor nach dem US-Vorbild dienen wird, bleibt hingegen unklar. Der urplötzliche und unvorhergesehene Aufstieg der NDP könnte Harper von einem solchen Konfrontationskurs abhalten. Daß seine Partei politisch rechts vom Mainstream Kanadas steht, hat er selbst eingeräumt. Entscheidend wird sein, wie sich die NDP zu den zu erwartenden außerparlamentarischen Bewegungen gegen die Harper-Regierung stellen wird.

* Aus: junge Welt, 4. Mai 2011 br>

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