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Altes Unrecht sühnen

Friedensmarsch der Haudenosaunee: Nachfahren der Irokesenstämme in Kanada protestieren gegen Landraub. Gewerkschafter unterstützen Widerstand

Von Ingar Solty und Sam Putinja *

Wir sind es gewohnt, Landenteignungen von Indigenen mit der Peripherie des globalen Kapitalismus zu assoziieren. Doch auch diese Form der ursprünglichen Akkumulation findet genauso in den kapitalistischen Zentren selbst statt. In Caledonia in der kanadischen Provinz Ontario kämpfen seit 2006 Mitglieder der Sechs-Nationen-Konföderation gegen den Raub ihres angestammten Landes (jW berichtete). Dabei handelt es sich um die Nachfahren jener Irokesenstämme, die sich zwischen Mitte des 15. und Ende des 16. Jahrhunderts zu einem frühen vorstaatlichen »Völkerbund«, der Konföderation, zusammenschlossen. Von anarchistischen Politiktheoretikern wie Richard J. F. Day wird die Konföderation deshalb als Modell angesehen; Friedrich Engels beschrieb den matriarchalen Urkommunismus der Irokesen prominent in »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates«.

Vom Kommunismus sind die Sechs Nationen aber so weit entfernt wie nie. Die heute noch rund 125000 Irokesen in den USA und Kanada gehören dort zu den Bevölkerungsgruppen am untersten Rand der Gesellschaft. 25000 sind Teil des Stammesverbands in der südwestlich der Industriestadt Hamilton gelegenen Region um Caledonia. Letzten Samstag gingen die Landkämpfe hier mit einer Großdemonstration in eine neue Etappe.

Das in Südontario gelegene Caledonia gehört zum dichtbesiedeltsten Landesteil Kanadas. Im »Goldenen Hufeisen« um den Ontariosee lebt knapp ein Drittel aller Kanadier. Entsprechend teuer und als Spekulationsobjekt beliebt ist das Land. Die Ansprüche der sich selbst als Haudenosaunee bezeichnenden Indianer beziehen sich auf ein Gebiet von 3800 Quadratkilometer entlang des Grand River, was in etwa der vierfachen Fläche Berlins entspricht. Dieses wurde ihnen im Haldimand-Vertrag von 1784 durch die britische Krone gewährt, die sich damit auch für die Unterstützung im Kampf gegen die antikolonialen USA erkenntlich zeigte.

Verträge ignoriert

Der Vertrag sah vor, daß das Gebiet im ewigen Besitz der Sechs Nationen sein solle. Mit der europäischen Besiedelung und wachsenden ökonomischen Bedeutung des Landes wurde er jedoch mißachtet und die Haudenosaunee verloren in den nächsten 200 Jahren mehr als 95 Prozent ihres Territoriums; teilweise durch regulären Verkauf, häufiger jedoch wurden sie von staatlichen und privaten Akteuren betrogen, beraubt, enteignet. Das Reservat am Grand River ist damit heute nur noch 190 Quadratkilometer groß.

Im Frühjahr 2006 entschlossen sich die Sechs Nationen, den entschädigungslosen Enteignungen nicht länger tatenlos zuzusehen. Nachdem eine gerichtliche Klage im Sand verlaufen war, kam es zur spektakulären Besetzung des 40 Hektar kleinen Gebietes in Caledonia, auf dem ein Investor wie üblich ohne Konsultation der Sechs Nationen Privatimmobilien bauen ließ. Die Polizei versuchte daraufhin, die Indigenen zu vertreiben. Mit der Errichtung von Straßen- und Schienenblockaden gelang es den Aktivisten jedoch, sich erfolgreich und dauerhaft gegen die Staatsgewalt zu behaupten.

Rechte Milizen

Als nichtindigene Anwohner das »Gesetz« in die eigenen Hände zu nehmen suchten, im das eingeforderte Gebiet eindrangen und die Indigenen massiv bedrohten, mußten Polizeikräfte diese vor den aufgebrachten Gegnern schützen. Das nahmen Rechtspopulisten zum Anlaß, über »umgekehrten Rassismus« und vermeintliche Sonderrechte der Indigenen zu schwadronieren. Von einigen Seiten wurden sogar Forderungen laut, das Militär in das Gebiet zu entsenden, um die »Rechtsstaatlichkeit« wieder herzustellen. In den folgenden Jahren kam es zur Ausrufung des Ausnahmezustands, der Gründung einer rechten Miliz und einer offenbar von der lokalen Unternehmerseite finanzierten Bürgergruppe um den auswärtigen Rechtspopulisten Gary McHale sowie zahlreichen Verhaftungen und Prozessen auf beiden Seiten.

Der Investor und lokale Unternehmen sowie einige Privatpersonen, die sich aus Sorge vor einem Wertverfall ihrer Häuser vor den Karren des Kapitals spannen ließen, wurden schließlich von der Regierung Ontarios entschädigt. Den indigenen Ansprüchen auf das Land wurde nicht stattgegeben. Es blieb lediglich bei einer Duldung. Verhandlungen mit der Provinz- und der Nationalregierung zogen sich über vier Jahre hin und blieben ergebnislos. Die Demonstration vom 28. April mit gut 1000 Teilnehmenden zielte deshalb darauf ab, den Staat zurück an den Verhandlungs­tisch zu bringen. Zugleich sollte sie die Suche nach einer Lösung für die Spannungen zwischen Indigenen und Nichtindigenen befördern. Diese hatten sich im Frühjahr 2012 verstärkt, als am 19. Februar eine Gruppe um McHale in das Gebiet eindrang und die Indigenen bedrohte. In der Nacht danach kam es zu einem versuchten Selbstmordanschlag eines 17jährigen, der in seinem Auto mit Vollgas in das Sechs-Nationen-Hauptquartier raste und dabei die Hauptgasleitung nur um wenige Zentimeter verfehlte.

Im Rahmen der als »Friedens-, Freundschafts- und Respektmarsch« deklarierten Veranstaltung vor einer Woche zogen die Demonstranten mit einem gigantischen Zwei-Reihen-Wampum von der Stadt ins Sechs-Nationen-Gebiet. Das Wampum-Symbol – ein Gürtel mit zwei lilafarbenen Streifen auf weißem Grund – stand 1613 im ersten Vertrag mit europäischen Siedlern für die gemeinsame Nutzung des Landes, basierend auf wechselseitiger Nichteinmischung und Respekt. Bei der Demonstration wurde betont, daß es Frieden nur dann geben könne, wenn das historische Unrecht gesühnt worden ist.

Kanadische Linke

In der kanadischen Linken ist es gängig, daß in bezug auf die weitverbreiteten indigenen Kämpfe um ungeklärte Landbesitzfragen mit Begriffen wie »Siedler«, »Kolonialisierung« und »Entkolonialisierung« operiert wird. So fordern nichtindigene Verbündete die Regierung auf, mit den Sechs Nationen »von Nation zu Nation« zu verhandeln. Die Indigenenfrage ist für die Linke dadurch sehr schwierig. Denn einige der Gegner sind eben nicht nur neue Siedler, sondern auch (weiße) Arbeiter, während das Elend vieler Indigener – Arbeitslosigkeit, Armut, Krankheiten, niedrige Lebenserwartung, Kriminalität und hohe Selbstmordraten – zu einem Großteil eine Klassenfrage ist.

Positiv zu bewerten sind deshalb die Beispiele für eine klassenbasierte Solidarität in der Region, die stark industrialisiert ist und einen der höchsten gewerkschaftlichen Organisierungsgrade aufweist. Zahlreiche Aktivisten und Funktionäre der Automobil- und Stahlarbeitergewerkschaften und der des öffentlichen Dienstes trugen die Demonstration maßgeblich mit. In den Städten und Dörfern der Gegend suchen nichtindigene Beschäftigte seit einiger Zeit bei ihren Streiks und anderen Arbeitskämpfen gezielt die Unterstützung der Sechs Nationen, darunter streikende Kantinenangestellte bei den »Canadian Automobile Workers« sowie Straßenbauarbeiter, die um Streikpostenhilfe bei den indigenen Aktivisten baten. Zugleich unterstützen die Haudenosaunee die Kämpfe im nahegelegenen Cayuga gegen die Errichtung einer Mülldeponie, die gravierende ökologische Folgen für den Grand River haben würde.

Dabei zeigt sich, daß die Trennlinie nicht glatt zwischen Indigenen und Nichtindigenen verläuft. Denn der Klassengegensatz kennzeichnet auch die Sechs Nationen selbst, unter denen es einige wenige wohlhabende Unternehmer gibt, die eng mit der Regierung kooperieren und wie Häuptling Bill Montour die Demonstration ablehnten.

Tom Keefer, Herausgeber der antikapitalistischen Zeitschrift Upping the Anti und seit Jahren führender nichtindigener Aktivist in den Caledonia-Kämpfen, sieht die Sache so: »In den Medien wird der Landdisput als eine ethnische Frage dargestellt. In Wirklichkeit handelt es sich jedoch um einen regionalen Klassenkampf zwischen den indigenen und nichtindigenen Lohnabhängigen mit oder ohne Arbeit einerseits und den spekulativen Investoren, den Banken, der Handelskammer und ihren vereinzelten rechten Beförderern andererseits um den Erhalt angestammter Landrechte, die Lohn- und Arbeitsbedingungen in der Region und den Erhalt einer gesunden Umwelt für diejenigen Klassen, die am meisten darauf angewiesen sind.«

In diesem Sinne sei die Demonstration als Erfolg zu werten. Denn, so Keefer, »die Unterstützung durch die Arbeiterbewegung 2006 war seinerzeit reaktiv gegen das Vorgehen der Polizei gerichtet. Die heutige Solidarisierung aber ermöglicht eine stärker proaktive Bündnisstrategie in dieser Frage.«

* Aus: junge Welt, Samstag, 5. Mai 2012

Frieden, Respekt, Freundschaft

In einer an alle Haushalte der Region um Caledonia in Kanada verteilten Broschüre heißt es zu den Protesten der Indigenen:

(...) Die Sechs Nationen wurden durch Besetzer vom Großteil ihres [im Haldimand-Vertrag gewährten] Landes vertrieben. In anderen Teilen des Haldimand-Gebiets verpachteten sie das Land an Nichtindigene, erhielten hierfür aber keine Zahlungen. Korrupte Regierungsmitglieder stahlen Mittel aus dem Treuhandfonds der Sechs Nationen (…). Die Empörung der Sechs Nationen heute bezieht sich auf Bauprojekte, die auf ihrem Land durchgeführt werden, ohne daß sie selbst konsultiert oder kompensiert werden.

Darüber hinaus reichte es den britischen und kanadischen Regierungen auch nicht, den Sechs Nationen einfach ihr Land zu stehlen. Ihre Politik zielte auch darauf ab, die Sprache und die Kultur der Haudenosaunee auszulöschen. Kinder der Sechs Nationen wurden ihren Familien weggenommen und in Internate gebracht, wo sie geschlagen wurden, weil sie an ihrer eigenen Sprache festhielten. Auch sexueller Mißbrauch und andere Mißhandlungen waren üblich. Durch eine Mischung aus Gewalt und Vernachlässigung kamen viele Kinder in diesen Schulen ums Leben.

Die Organisatoren des Friedensmarschs vom 28. April sind überzeugt, daß es ohne Gerechtigkeit keinen wirklichen und dauerhaften Frieden zwischen unseren Gemeinschaften geben kann. Gerechtigkeit bedeutet, daß das von der kanadischen Regierung und der britischen Krone begangene Unrecht ausgeräumt werden muß (...).

Wir wissen auch, daß die arbeitende Bevölkerung davon profitiert, wenn sie mit den Menschen der Sechs Nationen zusammensteht. Wir wollen nicht, daß unsere Landgemeinschaften durch suburbane Zersiedlung zerstört werden. Wir wollen nicht, daß lokale Geschäfte von Rieseneinkaufsklötzen verdrängt werden. Wir wollen nicht, daß Bauinvestoren und die von ihnen gekauften, korrupten Politiker das Leben in unseren Städten diktieren. Wir profitieren alle von den Aktionen, die die Sechs Nationen unternehmen, um die Lagerung von Giftmüll und die Verschmutzung der Umwelt am Grand River zu verhindern. In den letzten sechs Jahren haben viele Nichtindigene den Sechs Nationen beigestanden und haben sich mit ihrem Kampf um ihre Landrechte solidarisiert; und die Sechs Nationen haben uns unterstützt, wenn wir im Streik waren und wenn wir gegen die Verschmutzung unserer gemeinsamen Umwelt gekämpft haben. (…)

Übersetzung: Ingar Solty.

Es folgt der vollständige Wortlaut im Original:

The Two Row as the basis for Peace, Respect and Friendship

The following text along with an invitation peace walk and a series of “frequently asked questions” was mailed to more than 5000 homes in and around Caledonia by the April 28 coalition.

For hundreds of years, the Haudenosaunee confederacy of the Six Nations (consisting of the Mohawk, Oneida, Onondaga, Cayuga, Seneca and Tuscacora nations) has exerted their influence over eastern North America. Originally based in the Fingers Lake region of what is now New York State, the Haudenosaune confederacy controlled land and resources including much of Southern Ontario. The confederacy was originally created to bring peace to its warring member nations. It still meets and functions today as the Haudenosaunee Confederacy Council.

In 1613, Five Nations made their first trans-Atlantic diplomatic agreement with the Dutch. After the British defeated the Dutch half a century later, they adopted the same treaties. The British knew that if they wanted to trade and make settlements in North America they needed the support and friendship of the Haudenosaunee.

These treaties and all subsequent ones that the Haudenosaunee made with European nations were based on the concept of the Gus-wen-tah or “two row wampum,” which guaranteed “respect and equality” between the nations making the treaty. The historian Ray Fadden describes the two row this way:

We will not be like Father and Son, but like Brothers. [Our treaties] symbolize two paths or two vessels, travelling down the same river together. One, a birch bark canoe, will be for the Indian People, their laws, their customs and their ways. The other, a ship, will be for the white people and their laws, their customs and their ways. We shall each travel the river together, side by side, but in our own boat. Neither of us will make compulsory laws nor interfere in the internal affairs of the other. Neither of us will try to steer the other’s vessel.

The Two Row is symbolized in a wampum belt by two purple rows against a white background. The white beads symbolize the principles of Peace, Respect, and Friendship. The two purple rows symbolize the independent paths of the Haudenosaunee and the new comers to the Americas.

The two row said that both European and Indigenous peoples can use this land, but only on the basis of mutual respect and non-interference with each other’s way of life.

Unfortunately, the British crown and the Canadian government have not lived up to the principles of the two row. In 1784, due to their role as allies to the British Crown, Six Nations was granted some 950 000 acres of land along the Grand River in the Haldimand proclamation. The document stated that Six Nations “and their posterity are to enjoy [these lands] forever.”

Six Nations was forced off of much of their land by squatters. In other areas of the Haldimand tract they leased the land to non-natives, but they never received payment. Corrupt government officials stole from the Six Nations trust fund, and money was diverted for other purposes. Today, Six Nations is upset to see developments taking place across their lands without compensation or consultation.

Nor were the British and Canadian governments content to simply steal Six Nations land. They also wanted to extinguish Haudenosaunee language and culture. Six Nations’ children were taken away from their families, put in residential schools where they were beaten for speaking their own languages, and often sexually assaulted and abused. Through a combination of violence and neglect many children died in these schools.

The organizers of the April 28 peace walk believe that in order for there to be a real and lasting peace between our communities, there must be justice. And in order for there to be justice, the wrongs that the Canadian government and the British Crown have committed against the people of Six Nations must be redressed. Our walk will draw attention to these issues. If we can resolve them we believe that we can create the basis for true and lasting peace, respect, and friendship.

We think that non-native people need to return to the principles of the two row. The two row belongs to us as well as to the Haudenosaunee people. All non-native people living on these lands are treaty people. It was these treaties which give us the right to live here in North America. We must honour and uphold the agreements our ancestors made with the Haudenosaunee people to respect their way of life and their lands and resources.

We also know that there are many ways in which we as working people can benefit by standing together with the people of Six Nations. We don’t want our rural communities destroyed by suburban sprawl. We don’t want local businesses driven out by big box stores. We don’t want developers and the corrupt politicians they have purchased to be running our towns. We all benefit from the actions that Six Nations takes to stop toxic waste and increased pollution on the Grand River watershed. Over the past six years many non-natives have stood with Six Nations in supporting their land rights and they have stood with us – on our picket lines when we were on strike, and together when we have tried to stop the pollution of our shared environment.

Over the past six years, we have helped to build solidarity between natives and non-natives. We have sought a peaceful resolution to conflict and recognized the importance of native land claims.

While some of this work has been public, much more happens without being covered by the media. Coalitions and friendships have been made. Union members, Six Nations people, non-unionized working people in Caledonia, and working people from elsewhere in the Haldimand region have all come together to work for justice. Many meetings, marches, conferences, potlucks, and information events have taken place. Join us on April 28th and work with us in the months and years to come. By honouring the treaties and respecting the principles two row, we can achieve justice and reach the goals of peace, friendship, and respect that we all hold dear.

Source: http://april28coalition.wordpress.com/2012/04/30/the-two-row-as-the-basis-for-peace-respect-and-friendship/




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